In der Hütte am Steinsåsvann

April 1940

 

»In Harstad wird es jetzt immer gefährlicher«, sagt Lillians Vater zu seiner Frau Annie. In der Nacht haben immer wieder die Sirenen geheult. »Unsere Stadt ist Militärstützpunkt und deshalb feindlichen Angriffen ausgesetzt, aber am Steinsåsvann werden du und die Kinder in Sicherheit sein.«

Die kleine rote Hütte, die zehn Kilometer von der Stadt entfernt an einem der vielen hundert Seen der Insel Hinnøy liegt, hat John Anfang der dreißiger Jahre errichten lassen. Tagelang ist er damals um den See, den Steinsåsvann, herumgewandert, um nach der besten Stelle zu suchen. Gefunden hat er sie schließlich dort, wohin kein Weg führt, was bedeutet, dass man die Hütte nur per Ruderboot erreichen kann, es sei denn, man macht einen längeren und beschwerlichen Fußmarsch durch den dichten Wald rund um den See. Bis in den Mai hinein ist das Wasser aber zugefroren. Dann erreicht man die Hütte auch zu Fuß über das Eis. So auch in diesen Apriltagen.

John bringt noch am selben Tag seine Frau mit Eileen und Bjørn in die Hütte. Nur Lillian soll zunächst in der Stadt bleiben, um für den Vater zu sorgen. John kann seinen Betrieb, für den er die Verantwortung trägt, nicht verlassen. Sein ältester Sohn ist seit einigen Tagen mit anderen Schülern zu einem freiwilligen Hilfsdienst irgendwo auf Hinnøy eingesetzt, Annie macht sich große Sorgen um ihn. Die Berthungs stellen sich auf schwierige Zeiten ein. In den nächsten Tagen will John mit Hilfe von Freunden einige Möbel und Bücher aus dem Haus in die Scheune eines Bauernhofs bringen, der ein wenig abseits der Stadt liegt.

In Harstad sind alle Schulen bereits geschlossen. Die Evakuierung der Bevölkerung hat begonnen, und die meisten Freundinnen von Lillian haben mit ihren Familien die Stadt schon verlassen. Jeden Abend bringen John und Lillian Lebensmittel in die Hütte am See. Und die neuesten Zeitungen. Sie berichten über die erbitterten Kämpfe in Nordnorwegen. Die Militärs sind aus Harstad verschwunden, es heißt, dass sich General Fleischer und seine Soldaten im Landesinneren bei Kämpfen an strategisch wichtigen Stellen befinden. »Wie es Tore wohl geht?«, fragt sich Lillian mehr als einmal. Sie hat nicht aufgehört, an den jungen Mann zu denken, der sie nach dem Ball nach Hause gebracht hat. Irgendwo in den Bergen soll Tore jetzt gegen die Deutschen kämpfen.

»Das Beste wäre, wenn du bei den anderen in der Hütte bleiben würdest«, sagt der Vater eines Tages, nachdem es in Harstad wieder einmal Fliegeralarm gegeben hat. Aber Lillian will nicht. »Es gibt doch auch die anderen freiwilligen Helferinnen in der Stadt. Da kann ich auch bei dir bleiben, Papa.«

Einige Tage später kommt tatsächlich ein kurzer Brief von Tore, in aller Eile geschrieben. »Wir hatten Feindberührung, es gab schwierige Situationen. Es ist sehr kalt. Vielleicht müssen wir schon in den nächsten Stunden weiter«. Ganz unten sind zwei kleine Kreuze gemalt. Damit es Lillian auch bestimmt versteht, steht darunter: »Das bedeutet: Zwei Küsse von deinem Freund Tore.«

Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern
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