Erzähl es niemandem

Juni 1942

 

An einem Sonntagnachmittag sind Pus und Lillian allein im Haus in der Halvdansgate. Die Eltern sind zu Verwandten aufs Land gefahren und haben den kleinen Bjørn mitgenommen.

Da schellt es. Es ist Helmut. Lillian ist sich unsicher, ob sie ihn hereinbitten soll. Sie weiß, dass ihre Eltern das nicht gutheißen würden. Sie sagt Helmut an der Tür und deutlich hörbar, dass sie mit der kleinen Schwester allein zu Hause ist. Aber Helmut scheint nicht verstehen zu wollen, was sie ihm damit sagen will.

Lillian seufzt. »Also gut, komm einen Augenblick herein, aber ich muss mit Pus Schulaufgaben machen.«

Jetzt versucht er auch noch, den Arm um sie zu legen. Nein, das geht nicht. Nicht jetzt. Nicht in der Halvdansgate. Sie schiebt ihn in die Bibliothek und geht wieder zurück zu Pus in die Küche.

»Haben wir Besuch, Lillian?«

»Ja, Herr Crott ist vorbeigekommen, ich mache uns nur gerade Tee.«

»Meinst du, Mama und Papa hätten das gerne, Nuri?«

Pus schlägt ihr Rechenbuch zu und baut sich vor der großen Schwester auf.

»Weißt du, was ich glaube? Der ist in dich verliebt. Er ist ja auch wirklich ganz nett. Aber er ist und bleibt doch ein Deutscher.«

Lillian glaubt nicht recht zu hören. Was sagt die Kleine da?

»Übrigens hat Inger gestern zu mir gesagt, man hätte dich oben an der Kirche gesehen. Mit einem Mann in Uniform. Ihr habt euch also heimlich getroffen, nicht wahr? Du wirst ja rot, Lillian – also stimmt es.«

»Jetzt nicht, Pus. Wir reden später, ja?«

»Du wirst Schwierigkeiten bekommen, warte nur ab.«

Sie sagt das alles in einem Ton, den Lillian noch nie bei ihr gehört hat.

»Ich gehe jetzt zu Inger«, sagt Pus und wirft den Kopf mit den blonden Locken nach hinten. »Wir können nämlich unsere Rechenaufgaben sehr gut auch ohne dich machen.« Sie nimmt ihre Bücher und ist auch schon verschwunden.

Der Kessel pfeift. Lillian stellt zwei Tassen auf ein Tablett und gießt den Tee auf. Zum ersten Mal ist sie jetzt mit Helmut allein im Haus. Sie fühlt sich dabei ausgesprochen unwohl. Vor allem weil ihr das, was ihr die kleine Schwester gesagt hat, nicht aus dem Kopf geht.

Helmut steht auf einmal hinter ihr. Lillian erschrickt. »Hast du verstanden, was Pus gerade gesagt hat?« Helmut nickt. »Und weißt du, was das heißt? Es wird jetzt nicht mehr lange dauern, bis meine Eltern erfahren, dass wir uns treffen!«

Sie geht mit raschen Schritten zur Bibliothek. Helmut nimmt das Tablett vom Küchentisch und geht ihr nach. »Was werden sie tun, was meinst du?«

Lillian dreht sich auf dem Absatz um. »Was sie tun werden? Sie werden außer sich sein. Du hast ihr Vertrauen missbraucht. Und ich habe sie belogen. Glaubst du wirklich, dass sie es jemals hinnehmen werden, dass sich ihre Tochter mit einem Soldaten der Wehrmacht trifft?«

Sie nimmt ihm das Tablett aus der Hand und stellt es auf den Tisch zwischen den beiden Ledersesseln. Das ist der Platz im Haus, an den man sich mit Gästen setzt. Lillian will sich aber nicht setzen.

»Ihr sollt so viele schreckliche Dinge in Norwegen getan haben. Eigentlich kann ich gar nicht glauben, was die Gerüchte sagen. Aber nun ist es auch hier passiert, hier, in Harstad.«

Ihre Stimme hebt sich.

»Die Familie Salomon ist weggebracht worden – von euch Deutschen. Und warum? Nur weil sie Juden sind. Meine Mutter sagt, und das finde ich auch, dass es niemals gut um ein Volk stehen kann, das andere Menschen verfolgt.« Lillian zeigt auf Helmuts Koppelschloß. »Was steht da? Gott mit uns. Ich verstehe das nicht. Das klingt, als ob ihr Deutschen einen eigenen Gott hättet.« Sie fühlt, wie Tränen in ihr aufsteigen. Aber sie will nicht weinen. Sie will, dass dieser Mann, den sie so mag, endlich etwas sagt. Etwas, was ihr Gewissheit gibt. Und einen Grund, dass sie bei ihm bleiben kann. »Bist du denn auch dafür, dass man die Juden abholt und in ein Lager bringt?«

Helmut wirkt wie abwesend. So, als habe er gar nicht gehört, was sie eben gesagt hat. Er lässt sich in den Sessel fallen und vergräbt den Kopf zwischen den Händen.

»Was ist los mit dir, Helmut? Warum antwortest du mir nicht?«

An der Wand tickt die Uhr. Lillian kommt jede Sekunde wie eine Ewigkeit vor. Die wildesten Gedanken schießen ihr durch den Kopf. Hat Helmut etwas mit den Salomons zu tun gehabt? Und arbeitet vielleicht gar nicht auf der Schreibstube? Ist er am Ende einer von Hitlers Leuten?

»Ich muss dir etwas sagen.« Helmuts Stimme ist leise, aber sie klingt fest. »Es ist ein Geheimnis und es muss ein Geheimnis bleiben.«

Ein Geheimnis. Lillian setzt sich. Sie muss auf alles gefasst sein.

»Du musst mir dein Ehrenwort geben, dass du niemandem erzählst, was ich dir jetzt sage. Niemandem! Versprichst du mir das?«

Lillian nickt. Ob sie die Kraft hat, Helmuts Geheimnis zu ertragen? Sie hofft es.

»Du musst nämlich wissen, dass ich eine jüdische Mutter habe.«

»Eine jüdische Mutter?«

Lillian hat mit allem gerechnet. Aber nicht damit. Sie beugt sich vor und sieht Helmut an. Etwas in seinem Gesicht sagt ihr, dass er die Wahrheit sagt. Trotzdem, sie kann es nicht glauben.

»Du hast eine jüdische Mutter? Dann bist du …?«

Helmut nickt.

»Aber das ist doch gar nicht möglich. Wieso trägst du dann diese Uniform?«

»Weil ich es geschafft habe, dass meine Abstammung nicht entdeckt worden ist.« Helmut ist aufgestanden und ans Fenster getreten. »So seltsam es klingen mag: Ich lebe noch, weil ich in der Wehrmacht bin. Und nicht jedes Formular ist nach Berlin zurückgeschickt worden.« Er dreht sich um und sieht sie an. »Ist ja nicht schwer, wenn man selbst auf der Schreibstube ist …«

Lillian versucht erst gar nicht, ihre Gedanken zu ordnen. Eine heiße Welle des Mitgefühls durchströmt sie. Sie springt auf und umarmt Helmut.

Erst nach einer Weile kann sie wieder sprechen.

»Was ist mit deiner Mutter, Helmut, wird sie auch verfolgt?«

»Sie hat es zu Hause schwer. Sehr schwer.«

»Und du? Hast du auch den jüdischen Glauben?«

»Als Kind bin ich mit meiner Mutter ab und zu in die Synagoge gegangen. Später bin ich dann katholisch geworden. So katholisch wie mein Vater. Wenn es wenigstens geholfen hätte …«

»Was haben sie dir angetan, min kjæreste? Willst du mir das erzählen?«

Referenzpunkt Abbildung 17

 

»Ach, Lillian.« Helmut seufzt. »Warum soll ich dir das Herz schwer machen? Es hat mich schon genug Überwindung gekostet, dich in mein Geheimnis einzuweihen. Aber ich musste es tun. Ich spürte, dass ich dich sonst verlieren würde.«

»Du wirst mich nicht verlieren. Nichts mehr ist jetzt zwischen uns.« Aber Lillian bedrückt noch etwas. »Natürlich ist es wichtig, dass niemand dein Geheimnis erfährt. Ich würde es nur gerne meinen Eltern erzählen, damit sie dich mit anderen Augen sehen …«

Helmut blickt Lillian erschrocken an.

»Nein, auf gar keinen Fall! Mein Leben hängt davon ab, dass es niemand weiß. Hörst du, Lillian? Niemand.«

 

An diesem Sonntagnachmittag klärt sich für Lillian ihr Verhältnis zu Helmut. Sie weiß jetzt, dass sie nicht an seiner Haltung zweifeln muss. Aber in diesem Moment in seinem Arm fühlt sie ganz deutlich, dass sie einen Preis für ihre Liebe zu ihm zahlen muss. Und dass sie diesen Preis zahlen will. Sie löst sich aus Helmuts Umarmung, nimmt seine Hände und schaut ihn mit festem Blick an: »Ich verlasse dich nie!«

Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern
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