Weiter in den Norden

Herbst/Winter 1944

 

Um Rendulics zurückströmender Lappland-Armee beim Übergang über die Fjorde zu helfen, wird das Pionier-Schären-Bataillon der Armee Norwegen weiter nach Norden geschickt. Und mit ihm auch der Obergefreite Crott.

Helmut hat sich in großer Sorge von Lillian verabschiedet, denn die Gerüchte über das Vordringen der Sowjets überschlagen sich. Natürlich kennt Helmut die Reichspropagandamaschinerie, aber er fürchtet, dass den Russen, sollten sie jemals Harstad erreichen, eine Denunziation reichen würde, um Lillian in Haft zu nehmen und ihr Schlimmes anzutun.

Auf der Kommandantur sind inzwischen alle sehr nervös geworden. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, Türen schlagen, Telefone klingeln, Stimmen schreien, dann wird wieder geflüstert, Leitz-Ordner fliegen in graue Wehrmachtskisten, um dann doch wieder ins Regal zurückgestellt zu werden. Ulvall genießt das Chaos unter den Deutschen. Er ist sich nun ganz sicher, dass das Ende unmittelbar bevorsteht.

Lillian kommt in diesen Herbsttagen nicht mehr gern nach Hause. Die Ablehnung ihres Vaters tut ihr weh. Aber als Helmuts erster Brief auf der Kommode liegt, ist schon der Umschlag ein Trost.

 

Meine liebe treue Lillian, immer noch stehen Deine Abschiedsblumen vor mir und halten die Erinnerung an Dich wach. Aber auch ohne deren Hilfe sind meine Gedanken stets bei Dir. Ich danke Dir für alles, für Deine Worte, die mich bestärken in meinem Glauben an Dich. Vor einigen Minuten habe ich versucht, Telefonkontakt mit Dir zu bekommen, aber eine Verbindung ist unmöglich, überall scheint Chaos zu sein. Wir können froh sein, wenn wir brieflichen Kontakt halten können. Kurierpost kommt zweimal in der Woche. Ich werde versuchen, diese Zeilen über die norwegische Post zu schicken.

Unsere Reise nach Norden fing nicht gut an. Wir erreichten die Fähre nicht, und die nächste ging erst in der Nacht. Ich bat einen Mann aus der Fährmannschaft, Dich anzurufen, dass es mir gutgeht. Hat er das gemacht? Ich habe ihm dafür eine Schachtel Zigaretten gegeben. Während der ganzen Fahrt musste ich immer an Dich denken, was ich verlassen habe. Ich schaue Dein Foto an und spüre Liebe und Dein wunderbares Wesen. Ich vermisse Dich so, Lillian.

Jetzt sind wir in Kvænangen nördlich vom Lyngenfjord. In der Nähe unserer Baracke stehen drei kleine Häuser. Einer der Bewohner war sehr freundlich zu mir, als ich ihn fragte, ob er etwas Milch für mich hätte. Ja, ich könne jeden Tag kommen und Milch holen. Ich wollte ihm eine Freude machen und schenkte ihm eine halbe Flasche Cognac. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie sehr er strahlte. Ich fragte ihn, ob er mir helfen könne, ab und zu einen Brief an Dich über die norwegische Post zu schicken. Er hat es versprochen.

Hier am Kvænangenfjord sind wir umgeben von einer einsamen stillen Landschaft, und hohe schneebedeckte Berge steigen aus dem blauschwarzen Meer. Unsere Aufgabe ist, die zurückweichenden deutschen Truppen aus Finnland über die norwegischen Fjorde Richtung Südnorwegen zu transportieren. Sie werden auf große Landungsboote verfrachtet, und Du kannst dir sicher vorstellen, welche bedrückte Stimmung herrscht. Unsere Kompanie wohnt in Baracken, die versteckt für alliierte Flugzeuge liegen. Wir haben ein kleines Aggregat, womit wir etwas Strom bekommen. Das bedeutet, wir haben am Morgen zwei Stunden und am Abend vier Stunden Strom. Um 21.00 Uhr gehen wir zu Bett, aufbleiben mit einer Kerze hat keinen Zweck, außerdem ist es im Schlafsack wärmer. Die Polarnacht liegt bleischwer über uns, nur der Schnee hilft, daß es am Tag etwas heller ist.

Die Situation fängt jetzt wirklich an, kritisch zu werden, und wir müssen darüber nachdenken, ob Du nicht besser nach Südnorwegen fährst, falls du es schaffst, von der Kommandantur wegzukommen. Es gibt Gerüchte, daß das Verhalten Schwedens undurchsichtig sei, so daß ein eventueller russischer Durchmarsch durch Schweden nach Narvik stattfinden könnte.

Referenzpunkt Abbildung 22

 

Bis jetzt haben wir nichts gemerkt, aber man rechnet damit, daß russische Flugzeuge auftauchen werden, wenn sich der Hauptstrom unserer Truppen nach Süden bewegt. Mein größter Wunsch ist, dass Du in Sicherheit bist. Ich zerbreche mir den Kopf, welche Reisemöglichkeiten Du hättest. Versuch doch einmal, ob du nicht als Helferin bei einem eventuellen Kindertransport durch Schweden dabei sein kannst. Meiner Meinung nach ist das die sicherste Reiseroute. Mit dem Bus auf glatten und schlechten Straßen über das Gebirge ist zu anstrengend, und man muß mit mehreren Übernachtungen unterwegs rechnen. Eine Schiffsreise ist wegen der Minen- und U-Boot-Gefahr das Letzte, was ich mir vorstellen kann. Wir müssen der Realität ins Auge sehen, wir werden für längere Zeit getrennt sein. Aber wir wissen, meine liebste Lillian, daß wir aufeinander warten werden und eine höhere Macht uns beschützt. Ich bin in Gedanken bei Dir, heute und immer. Dein Helmut.

Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern
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