Weserzeit ist 5.15 Uhr

Januar – April 1940

 

Anfang 1940 liegt Hitler die Studie Nord vor. Sie zeigt, wie die Besetzung Norwegens vonstatten gehen kann. Jetzt wird neben strategischen Gesichtspunkten auch das schwedische Erz thematisiert. Über die Hälfte allen Eisenerzes für die deutsche Rüstungsindustrie kommt zu diesem Zeitpunkt aus dem schwedischen Kiruna, und besonders die Stahlwerke im Ruhrgebiet werden von diesen Erzquellen über Narvik versorgt.

Am 20. Februar 1940 ernennt Hitler General Nikolaus von Falkenhorst zum Oberkommandierenden für die Besetzung Norwegens und Dänemarks. Der General hat zu dem Zeitpunkt keinerlei Kenntnisse über Norwegen. Nachdem er die Reichskanzlei verlassen hat, geht er in die nächste Buchhandlung und kauft sich erst einmal Baedekers »Norwegen – Handbuch für Reisende«15.

Am 28. Februar wird Generalmajor Richard Pellengahr, der Chef der 196. Infanteriedivision, zu der auch der Gefreite Crott gehört, in den Bendlerblock in Berlin einbestellt. In einem vertraulichen Gespräch mit von Falkenhorst erfährt er von den Plänen Hitlers und ist genauso überrascht wie zuvor sein Gesprächspartner. Es ist nicht bekannt, ob von Falkenhorst ihm sein gerade angeschafftes Exemplar des norwegischen Reiseführers überlassen hat oder ihm den Tipp gegeben hat, sich das Buch selbst zu besorgen. Pellengahr erinnert sich jedenfalls später, dass er mit einem Baedeker unter dem Arm nach Hause fuhr. »Während der gesamten Rückfahrt war ich mit all den Fragen beschäftigt, die sich im Zusammenhang mit dieser Operation auftaten.«16

Vierzehn Tage später wird das Unternehmen aktenkundig:

 

Die Entwicklung der Lage in Skandinavien erfordert es, alle Vorbereitungen zu treffen, um mit Teilkräften der Wehrmacht Dänemark und Norwegen zu besetzen (»Fall Weserübung«). Hierdurch soll englischen Übergriffen nach Skandinavien und der Ostsee vorgebeugt, unsere Erzbasis in Schweden gesichert und für Kriegsmarine und Luftwaffe die Ausgangsstellungen gegen England erweitert werden. Kriegsmarine und Luftwaffe fällt im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten die Sicherung des Unternehmens gegen das Eingreifen englischer See- und Luftstreitkräfte zu. … Grundsätzlich ist anzustreben, der Unternehmung den Charakter einer friedlichen Besetzung zu geben, die den bewaffneten Schutz der Neutralität der nordischen Staaten zum Ziel hat. Entsprechende Forderungen werden mit Beginn der Besetzung den Regierungen übermittelt werden.17

 

So formuliert es Hitler unter Punkt 1 in der dann am 1. März 1940 erlassenen Weisung. Der Überfall auf Dänemark und Norwegen hat ab jetzt einen Namen: »Weserübung«. Unter Punkt 3 steht:

 

Von größter Bedeutung ist, daß unsere Maßnahmen die nordischen Staaten wie die Westgegner überraschend treffen. Dem haben alle Vorbereitungen, insbesondere die Art der Bereitstellung des Laderaumes und der Truppen, ihre Einweisung und ihre Verladung Rechnung zu tragen. Können Vorbereitungen für die Verschiffung nicht mehr geheimgehalten werden, sind Führern und Truppen andere Ziele vorzutäuschen. Der Truppe dürfen die wahren Ziele erst nach dem Auslaufen bekannt werden.

 

Der Überfall auf Norwegen und Dänemark wird die Neutralität dieser beiden Länder verletzen. Inzwischen hat die historische Forschung belegt, dass die Deutschen nicht etwa einer britischen Invasion zuvorgekommen sind. Auch wenn die Briten am 5. April 1940 vor der nordnorwegischen Küste Minen legten (»Operation Wilfred«), ist dies am Ende doch von anderer Qualität als der Überfall auf ein Land.

Entgegen der These, es habe sich um einen Wettlauf der beiden Admiralitäten gehandelt, stellen Historiker heute fest, »dass die Operation Weserübung keineswegs ein Präventivunternehmen, sondern eine blanke Aggression gewesen ist.«18 Großadmiral Raeder hätte zu einem Zeitpunkt Stützpunkte für seine Marine in Norwegen verlangt, als noch keine ernsthaften englischen Absichten bekannt gewesen wären.

Zwischen dem 9. und 12. März 1940 sammelt sich das 196. Infanterieregiment von Generalmajor Pellengahr rund um Danzig. Wenige Tage später, am 20. März, meldet General Nikolaus Falkenhorst, dass die Vorbereitungen abgeschlossen sind, einen Monat nach dem ersten Treffen mit Hitler.

Nur Falkenhorst und wenige Eingeweihte wissen, was das zu bedeuten hat. Helmut Crott und seine Kameraden wissen es nicht. Das Regiment bekommt den Auftrag, die Zeit mit Belastungstests und Marschübungen zu nutzen, selbst der schlimmste Fall soll durchgespielt werden, dass alle Pferde, Fahrzeuge und das ganze Material unterwegs verloren gehen: »Das wird geübt!«19, kommt es zackig aus dem Mund des Oberleutnants.

Am 26. März legt Hitler als Termin für den Beginn der Landungsoperation in Norwegen und Dänemark den 9.4.1940, den »Wesertag«, fest, »Weserzeit«: 05.15 Uhr. Die gleichzeitige Besetzung Dänemarks war schon allein wegen des reibungslosen Nachschubtransports beschlossen worden. Am 4. und 5. April sollen die ersten mit Kriegsmaterial beladenen Tanker und Frachtschiffe als Kohletransport getarnt mit Kurs auf Norwegen auslaufen, ab dem 6. April die Einschiffung der Truppen erfolgen, und am Abend des 8. April, so der Plan, sollen sich dann alle für Norwegen vorgesehenen Kriegsschiffe auf See befinden.

Die Kompanien des 196. Infanterieregiments von General Pellengahr wissen nichts Genaues. Was steht ihnen jetzt eigentlich bevor? Geht es nach Westen, gegen Frankreich? Die Mutmaßungen verstummen nicht gerade, als die Mannschaft scharfe Munition ausgeteilt bekommt, aber dann heißt es auf einmal, dass die gesamte 196. Division nur an einem großen Manöver teilnehmen wird. Kurz kommt der Befehl, dass alle ihre Sachen packen sollen und niemand mehr einen Brief nach Hause schreiben darf.

Rund um Danzig setzen sich Kolonnen in Bewegung. Helmut Crotts Kompanie bricht von Glettkau aus auf, wo sie in den letzten Wochen stationiert gewesen ist. Sie gehen in Reih und Glied auf Gotenhafen zu. In Zopot, dem Standort von Pellengahrs Stab, grüßt der General vom Kübelwagen aus jede einzelne Abteilung. In einer der Dreierreihen marschiert Crott an ihm vorbei. Der Stahlhelm bedeckt seinen Kopf dabei fast bis zu den Augenbrauen, aber er kann doch einen Blick auf den General werfen. Crott fragt sich, wie er den Ausdruck in dessen Gesicht deuten soll. Der General scheint wenig Zuversicht zu haben.

Eine Kolonne nach der anderen nähert sich dem Hafen. Der Marschtritt der eisenbeschlagenen Knobelbecher und der Gesang aus rauen Kehlen schallt durch die Gassen der Stadt: »Oh du schöner Westerwald«. Einige singen auch »Westerwall«. Offenbar sind sie in Gedanken schon an der Westfront.

Als der Gefreite Crott am Abend des 7. April 1940 in Gotenhafen an Bord des Frachtschiffes Wigbert geht, hat auch er nicht die geringste Ahnung, wohin die Reise geht. Er kennt nur den Tagesbefehl: »Manöver in der Ostsee«.

»Dafür kommen aber zu viele Pferde an Bord«, denkt er, als er seine Haflinger Lenchen und Lieschen im Käfig am Ladekran hängen sieht. Aber Crott hat sich längst verboten, über so etwas nachzudenken, mittlerweile erscheint ihm alles absurd.

Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern
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