Lillian und Helmut lernen sich kennen

April 1942

 

Als Lillian und ihre Familie am Mittwoch vor Ostern auf der Hütte ankommen, ahnen sie nicht, dass der deutsche Unteroffizier Robert Teschner der Einladung von John Berthung folgen wird.

Es ist zunächst wie immer am Steinsåsvann, der um diese Zeit noch unter einer dicken Eisschicht liegt. Freunde und Bekannte kommen auf Skiern vorbei, man trinkt Kaffee, der in diesen Zeiten allerdings nur Kaffeeersatz ist, und freut sich, dass man beisammen sein kann.

Lillian hat sich einige Schulbücher mitgenommen, weil sie unbedingt noch deutsche und englische Vokabeln für die Handelsschule lernen muss.

Am Karsamstag macht sich Annie nach Harstad auf. Ein Metzger hat seinen Kunden eine Extraration Fleisch in Aussicht gestellt. Und in einem Obstgeschäft soll eine Lieferung Äpfel aus Hardanger angekommen sein. Auf der anderen Seite des Sees wartet ein Bekannter, um Annie mit dem Auto in die Stadt zu fahren.

John sitzt in der Stube auf einem der blauen Holzstühle mit den gedrechselten Beinen und liest. Manchmal geht sein Blick über den Rand des Buches hinweg – nach draußen, wo Bjørn, sein Sohn, in dem Schneehaus spielt, das die beiden gestern gebaut haben.

In der Küche spülen Lillian und Pus das Frühstücksgeschirr. Am Steinsåsvann ist der Alltag mühsamer als in der Stadt. Es gibt kein fließendes Wasser. Und jetzt im Winter, wenn alles zugefroren ist, muss man erst Löcher in das dicke Eis bohren, um an das Wasser zu kommen. Das ist allerdings auch sehr sauber, denn aus dem Steinsåsvann versorgt sich Harstad mit Trinkwasser.

Durch das Küchenfenster sehen die Schwestern plötzlich, wie zwei Männer auf ihre Hütte zulaufen. Die beiden erreichen die Veranda und schnallen ihre Skier ab. Die Männer tragen keine Uniform, sondern sind in Zivil. Lillian weiß dennoch sofort Bescheid: »Du, Pus, das sind die Deutschen, die Papa neulich eingeladen hat!«

Es klopft an der Tür, und die Mädchen hören, wie der Vater aufsteht und öffnet. In der Küche bekommen sie mit, wie der eine den anderen vorstellt und wie man sich auf Deutsch unterhält. Pus, die nichts versteht, will unbedingt wissen, worüber sie sprechen. »Papa erzählt, dass Mama in die Stadt gefahren ist, um mehr Proviant zu holen, und seine beiden Töchter auf ihn aufpassen. Hör nur, wie sie lachen«, sagt Lillian. Pus ist neugierig geworden. Sie geht einfach ins Wohnzimmer.

»Das ist übrigens meine Tochter Eileen, die alle aber Pus nennen!« John nickt Pus aufmunternd zu. Die Zwölfjährige reicht den Männern ein bisschen verlegen die Hand. Zuerst dem Großen, dann dem Kleineren. »God dag.«

In der Küche ist sich Lillian nicht ganz sicher, ob sie auch zu diesen Deutschen gehen soll. Aber da hat ihr Vater schon die Tür geöffnet. Er winkt Lillian in die Stube. »Das ist meine Tochter Lillian, die von uns allen nur Nuri genannt wird. Das ist Herr Robert Teschner. Und das ist Herr Helmut – ?« Den Nachnamen hat John Berthung bei der Begrüßung nicht richtig verstanden.

»Crott. Helmut Crott«, sagt der Mann mit der Hornbrille. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Er reicht Lillian die Hand.

So kurz der Augenblick auch ist, Lillian glaubt, in den Augen des jungen Mannes irgendetwas gesehen zu haben. Was es ist, weiß sie nicht. »Setzen Sie sich doch an den Tisch«, sagt sie rasch in gutem Deutsch. »Ich werde Kaffee kochen.« Und ist schon in der Küche.

Als sie nach einigen Minuten mit einem Tablett zurückkommt, reden ihr Vater und dieser Robert Teschner über einen Auftrag für die Druckerei, der wohl ziemlich eilig sein muss. Lillian schenkt den Kaffee am Tisch ein. Sie selbst setzt sich aber auf eine Stufe der gegenüberliegenden Treppe.

»Das ist übrigens nur Erstatningskaffe«, sagt sie entschuldigend. »Ich kenne das deutsche Wort dafür nicht.«

Der Mann mit der Hornbrille lacht. »Sie meinen wahrscheinlich, dass das kein richtiger Kaffee ist, sondern Ersatzkaffee?« Lillian nickt.

»Wir nennen es Muckefuck.« Lillian gefällt das komische deutsche Wort. »Das klingt lustig.« Sie schaut den Vater an. »Nicht wahr, Papa?«

Der junge Deutsche hat sich schon wieder ihr zugewandt: »Sie sprechen ja sehr gut Deutsch, wo haben Sie das gelernt?«

Lillian erzählt von der Schule und von den Privatstunden, und dass sie genauso wie ihr Vater diese Sprache sehr schön findet. Der junge Mann hört interessiert zu. Dann fragt er: »Und warum nennt man Sie Nuri?« Lillian wird ein bisschen verlegen. »Mein älterer Bruder John hatte eine Katze, die Snuri hieß. Kurz vor meiner Geburt muss sie wohl irgendwie verschwunden sein. Als mein Bruder mich dann das erste Mal in meiner Wiege sah, rief er erfreut: ›Da! Neue Nuri!‹ Damals konnte er noch kein ›s‹ sprechen. Ja, und seitdem sagen alle Nuri zu mir.«

»Nuri …« Der Deutsche wiederholt das Wort. Lillian hört ihren Kosenamen zum ersten Mal in einer fremden Sprache. Bevor sie sich entscheiden kann, ob er ihr auch mit diesem Akzent gefällt, hat ihr Vater das Wort ergriffen.

John erzählt, wie er vor ein paar Jahren den Platz für die Hütte gefunden hat. Und dass sie Kveldsol – Abendsonne – heißt, weil vor allem in Zeiten der Mitternachtssonne das Licht so besonders warm und golden auf sie fällt. Was er im Beisein der Deutschen nicht erwähnt, ist, dass die Wehrmacht die Hütte beschlagnahmen wollte. John ist damals außer sich gewesen. Er machte in einem Brief darauf aufmerksam, dass er die Hütte zur Erholung von seinem anstrengenden Druckerberuf unbedingt braucht. Und hatte damit unverhofft Erfolg bei den Deutschen. Sie ließen ihm die Hütte.

Während ihr Vater mit den beiden Männern redet, wird Lillian ein bisschen unsicher, als sie bemerkt, dass dieser Helmut, dessen Nachnamen sie nicht so richtig verstanden hat, sie die ganze Zeit zu beobachten scheint. Und jetzt spricht er sie auch schon wieder an: »Sie laufen sicher gut Ski. Leider komme ich aus einer Gegend, wo es nicht so oft Schnee gibt, deshalb bin ich kein guter Skiläufer.«

Was er für schöne braune Augen hat, denkt Lillian, und was für gleichmäßige Zähne. Er ist zwar nicht besonders groß, aber er sieht doch ganz wie ein Sportler aus. Und gar nicht wie ein Soldat.

»Ihr Vater hat vorhin vorgeschlagen, dass wir morgen zusammen eine Skitour unternehmen sollten, falls das Wetter hält.« Er schaut sie fragend an.

»Mein Vater kann doch nicht bestimmen, mit wem ich eine Skitour machen soll!«

»Selbstverständlich nicht«, sagt der Deutsche schnell, und sie meint, eine Enttäuschung gehört zu haben.

Kurz darauf verabschieden sich die beiden Männer, danken für den Kaffee und machen sich mit ihren Skiern wieder auf den Weg zurück.

Referenzpunkt Abbildung 13

 

Jeden Abend ist es Lillians Aufgabe, die Milch vom Bauernhof auf der anderen Seite des Sees zu holen. Die Milchkannen stecken in ihrem Rucksack. Lillian gleitet auf der gut eingefahrenen Spur entlang, und als geübte Skiläuferin kommt sie schnell voran. Der Vollmond leuchtet über der Schneelandschaft. Lillian summt leise vor sich hin. Auf dem Hof von Bauer Darre muss sie noch warten, bis die Kühe fertig gemolken sind. Die Haushälterin Anna bittet sie, so lange im Wohnzimmer Platz zu nehmen. »So, ihr seid wieder auf der Hütte? Diese Ostertage sind doch immer wieder herrlich. Bei diesem schönen Wetter habt ihr sicherlich viel Besuch gehabt.«

Bald kommen die Mägde mit der Milch und Anna sagt, sie könne fünf Liter bekommen. Sie helfen Lillian, die Kannen im Rucksack unterzubringen.

»Es ist zwar ein bisschen schwer, aber ich schaffe das schon.«

Kurz darauf fährt Lillian in weiten Schwüngen den Hang hinunter, der am See endet. Einen Augenblick bleibt sie stehen, betrachtet den sternenklaren Himmel und das Nordlicht, das heute in vielen Grün- und Gelbtönen leuchtet. Wie wunderbar der Abend ist, denkt sie, und plötzlich ist dieser Deutsche in ihren Gedanken. Auch am Nachmittag war das schon so gewesen. Wollte sie ihn wirklich wiedersehen? Warum ist sie seit diesem Besuch so unruhig?

Referenzpunkt Abbildung 14

 

Da wird die Stille vom Knirschen des Schnees unterbrochen. Zwei Männer laufen an ihr vorbei, drehen sich um und sperren die Loipe mit ihren Skistöcken. Es sind Teschner und der Mann, an den sie eben gedacht hat. Lillian tut so, als ob sie sie nicht erkennt. Weder den einen, noch den anderen. Die beiden Männer nehmen ihre Mützen ab, und Teschner fragt überrascht: »Verzeihung – kennen Sie uns nicht mehr? Wir waren doch heute Vormittag auf Ihrer Hütte. Sie sind Lillian, nicht wahr? Wir wohnen hier oben in einer Wachhütte, und als Ihr Vater erwähnte, dass Sie am Abend die Milch abholen sollten, haben wir hier auf Sie gewartet, weil wir Sie fragen wollten, ob Sie nicht doch morgen mitkommen wollen, wenn wir mit Ihrem Vater den Ausflug machen.«

Was soll sie antworten, sie sucht nach den richtigen Worten. »Es ist nicht leicht für mich, man sieht es nicht gerne, wenn sich Mädchen mit Deutschen zusammen zeigen. Ihnen sollen die Haare abgeschnitten werden, wenn der Krieg vorbei ist.«

Der andere, der neben Teschner steht, bekommt auf einmal einen merkwürdigen Gesichtsausdruck, Lillian kann es deutlich im Mondlicht sehen. »Ich kann nicht glauben, dass norwegische Männer so etwas machen würden«, sagt er jetzt und stößt den Skistock in den Schnee.

Lillian schweigt einen Augenblick. »Sie müssen mich verstehen«, sagt sie dann, »aber ich muss jetzt weiter, in der Hütte wartet man auf mich.« Sie nickt den beiden Männern kurz zu und setzt ihren Weg fort. Die Deutschen bleiben stehen und schauen ihr nach.

Auf der anderen Seite des Sees angekommen, erzählt sie ihrem Vater von der Begegnung, und dass es schon merkwürdig gewesen sei, dass dieser Teschner und der andere sie einfach angehalten hätten. »Nun, etwas aufdringlich ist es ja«, erwidert ihr Vater, »aber vielleicht sehen sie das anders. Ich habe das Gefühl, es sind nette Menschen, die sicher lieber in ihrem eigenen Land wären. Ich hätte deshalb gerne, dass du und Pus morgen mitkommen.«

Annie, die gar nicht begeistert war, als sie hörte, dass die Deutschen am Vormittag tatsächlich zu Besuch gekommen sind, geht das jetzt zu weit. »John, es sind deutsche Soldaten, warum musst du nun auch noch mit ihnen Ski laufen, das ist wirklich übertrieben!«

John schaut sie ruhig an. Erst nach einer kleinen Pause sagt er: »Annie, für mich sind das zunächst einmal Menschen. Einer von ihnen hat gerade seine Frau verloren. Ich versuche mich in seine Situation zu versetzen, und ich habe einfach Mitleid mit ihm. Du bist doch sonst auch mitfühlend!«

Annie ist mit dieser Antwort nicht zufrieden. »Ja, ich kann das sehr gut nachempfinden, aber es sind nun mal deutsche Soldaten. Und du weißt, was unsere Freunde und Nachbarn über sie denken. Ich habe Angst, dass man schlecht über uns spricht, wenn wir zu viel Kontakt mit diesen Männern haben. Die anderen wissen ja schließlich nicht, was diesem Teschner in Deutschland passiert ist.«

John nickt. Er kann Annie verstehen. Und trotzdem ist er in diesem Moment davon überzeugt, dass er mit der Einladung das Richtige getan hat. Abbringen lassen will er sich davon nicht. Auch nicht von seiner Frau.

Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern
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