D/S Lofoten

8. Februar 1945

 

Am nächsten Nachmittag stehen nur Annie, Pus und Bjørn in der Tür in der Halvdansgate, als Lillian sich aus ihrem Elternhaus verabschiedet. Ihr Vater ist nicht dabei. Lillian hofft bis zuletzt, dass er noch kommt, aber er hat sich ins Schlafzimmer zurückgezogen. Ihr Herz ist so schwer wie nie, als sie sich auf den Weg zum Hafen macht.

Referenzpunkt Abbildung 25

 

Am Kai nimmt die Lofoten gerade den letzten Teil der Ladung an Bord. Die Hafenarbeiter sehen müde aus. Vor der Gangway steht ein deutscher Wachsoldat mit Stahlhelm und Gewehr. Den Pelz seines Schaffellmantels hat er gegen die beißende Kälte nach innen gewendet. Niemand darf das Schiff ohne Passierschein betreten. Außerdem müssen Pass und Billett vorgezeigt werden. Das Meer ist unruhig. Die Lofoten hebt und senkt sich am Kai. An Bord stellt Lillian ihre beiden Koffer in eine Ecke und geht an die Reling, um zu beobachten, wie die letzten Passagiere an Bord gehen. Plötzlich kommt ein deutsches Auto in voller Fahrt und bremst scharf vor der Gangway. Der Fahrer reißt die hintere Tür auf und schlägt die Hacken zusammen.

Lillian kann nicht glauben, was sie sieht: Es ist der neue Stadtkommandant. Und sein Adjutant. Die beiden gehen mit schnellen Schritten an Bord. Lillian drückt sich gegen die Wand, denkt an die aufdringlichen Blicke des Stadtkommandanten im Büro, er darf sie auf keinen Fall entdecken.

Die Abfahrt ist eigentlich für 17 Uhr vorgesehen, aber wegen eines U-Boot-Alarms werden erst um 20 Uhr die Leinen gelöst. In den Korridoren stehen die Passagiere dicht gedrängt und die Schlange vor dem Schalter, wo die Kabinen vergeben werden, ist lang. Lillian bittet eine Frau, auf ihre Koffer zu achten und sucht sich auf dem Oberdeck eine windstille Ecke. Sie will mitbekommen, wenn das Schiff ablegt. Es ist völlig dunkel geworden. Auch am Kai sind alle Lichter gelöscht.

Niemand von der Familie hat sie zum Hafen begleitet. Gewiss, sie wollte es so, aber wenn jetzt doch noch jemand käme und winkte. Vater vielleicht … Lillian weint leise vor sich hin und ist in diesem Augenblick tiefunglücklich. Das Elternhaus, die Geschwister, die Liebe und die Fürsorge ihrer Mutter, alles Vertraute verschwindet in der Dunkelheit.

»Jetzt gehst du also deinen eigenen Weg«, waren die letzten Worte des Vaters gewesen. Das klang so ernst, so traurig. Sie wischt sich mit ihren Handschuhen die Tränen aus dem Gesicht. Und Helmut wird mit jeder Seemeile weiter weg von ihr sein. Als der Dampfer hinter der Trondenes-Halbinsel Kurs auf Svolvær nimmt, atmet sie tief durch und versucht sich zu beruhigen. Sie geht nach unten zur Rezeption und fragt nach der Kabine, die sie reserviert hat.

»Leider können Sie erst ab Svolvær eine Kabine bekommen«, antwortet der Stewart. »Das verstehe ich nicht«, sagt sie. Und sie zeigt ihm den Durchschlag der Reservierung. »Ihre Bestellung muss verschwunden sein, jedenfalls sind Sie nicht auf meiner Liste.« Nun, dann muss es eben ohne Kabine gehen.

Das Schiff ist völlig überfüllt, die Passagiere sitzen oder liegen überall. Auf Treppen, in Salons oder auf Gängen. Koffer, Kisten und Säcke versperren die Durchgänge, man hört Kinder weinen. Viele Flüchtlinge aus Finnmark sind mit an Bord, man evakuiert sie weiter in den südlichen Teil des Landes.

Eine alte Frau sitzt auf einer Kiste, eine Pappschachtel auf ihrem Schoß, in der eine Katze mit sieben neugeborenen Jungen liegt. »Schau, wie wunderbar sie sind.« Liebevoll streichelt sie die Katze und ihren Nachwuchs.

Ein deutscher Soldat verteilt an die umstehenden Kinder Bonbons. Ein kleines Mädchen, das ganz hinten in der Schlange steht, hat nichts bekommen. Ein anderer Soldat gibt ihm eine Tafel Schokolade.

In einer Ecke des Salons findet Lillian einen Sitzplatz. Sie hat immer noch Angst, von dem Kommandanten entdeckt und angesprochen zu werden. »Hallo, Lillian«, hört sie plötzlich eine weibliche Stimme hinter sich. Lillian dreht sich um. »Ach, Frau Knudsen, Sie wollen auch nach Süden?« »Ja, ich will zu meinen Eltern nach Helgeland, mein Vater ist erkrankt. Ich gehe jetzt aber in meine Kabine, da ist mehr Ruhe.«

Lillian schaut sie bekümmert an. »Ich habe auch eine Kabine reservieren lassen, aber irgendwas ist schiefgelaufen, und ich kann sie erst ab Svolvær bekommen.«

»Das dauert ja noch Stunden, bis wir da sind«, sagt Frau Knudsen, »so lange sollst du hier nicht bleiben. Ich habe eine Kabine für mich alleine, bis Svolvær können wir sie uns teilen.« Lillian folgt ihr dankbar.

Der Wind hat zugenommen, das Schiff stampft durch die Wellen. Sie müssen sich am Geländer festhalten. In der Kabine öffnet Frau Knudsen eine Tasche, holt eine Thermosflasche heraus und eine Blechdose mit Butterbroten. »Echter Bohnenkaffee! Und der Rest meines kleinen versteckten Reichtums.«

Das Schiff hebt und senkt sich mächtig, denn es geht bei schwerem Wetter über das offene Meer. Hohe Wellen schlagen gegen das Kabinenfenster, und es knackt und knirscht im Holzwerk der Lofoten.

Auf Frau Knudsens Frage hin erzählt Lillian, dass sie mit dem Schiff bis Trondheim fahren will und von dort weiter mit dem Zug nach Oslo. »Nach ein paar Tagen in Oslo werde ich dann weiter mit dem Zug nach Westnorwegen zu meiner Cousine fahren. Und dort bleiben, bis der Krieg zu Ende ist.« Dann stockt das Gespräch. Lillian ahnt, welche Frage Frau Knudsen gleich stellen wird.

»Lillian, hast du noch deinen deutschen Freund? Ich habe dich einmal mit ihm gesehen. Ist das vorbei? Fährst du deshalb weg?« Frau Knudsen schaut sie prüfend an. »Nein, Frau Knudsen, mit meinem Freund ist es nicht zu Ende. Wir werden immer aufeinander warten. Aber er will nicht, dass ich in Nordnorwegen bleibe. Wenn die russische Armee kommt, wird sie nicht gnädig mit denen umgehen, die mit den Deutschen Umgang hatten und für die Wehrmacht gearbeitet haben, freiwillig oder nicht.«

Frau Knudsen fragt, wie sich Lillian denn die Zukunft vorstellt. »Ich weiß es nicht, ich weiß nicht einmal, wann wir uns wiedersehen werden, aber irgendwann wird ja auch dieser Krieg zu Ende sein. Vielleicht gehe ich dann mit ihm nach Deutschland.«

Frau Knudsen gießt noch einmal Kaffee nach. »Du nimmst für diesen Mann viel auf dich, Lillian. Glaubst du, dass du mit ihm in Deutschland eine Zukunft haben wirst? Denk daran, wie schrecklich es in Deutschland sein soll. Da gibt es fast nur noch Ruinen. Und dann der Hass gegen dieses Volk. Keiner mag die Deutschen. Lillian, es gibt doch so viele nette norwegische junge Männer. Du solltest es dir gut überlegen, ob du Norwegen wirklich verlassen willst. Was sagen denn deine Eltern überhaupt dazu?«

»Es ist für mich eine schwierige Zeit gewesen, mein Vater ist sehr dagegen, dass ich wegfahre, und er hat in der letzten Zeit kaum mit mir gesprochen.« Es tut Lillian gut, mit Frau Knudsen zu sprechen, allein schon deshalb, weil sie ihr keine Vorwürfe macht.

Nach einer unruhigen Reise kommt das Schiff am frühen Morgen des 9. Februar in Svolvær an. Lillian bekommt jetzt endlich das reservierte Bett zugewiesen. Sie teilt die Kabine mit einer jungen Frau, die sich als Helen vorstellt und Krankenschwester ist. Als das Schiff am Abend wieder losfährt, liegt Lillian in der oberen Koje. Sie fühlt sich Helmut so nah und ist in diesem Moment von grenzenloser Zuversicht erfüllt. Sie lächelt bei dem Gedanken an das Gesicht, das er wohl macht, wenn er am Sonntag ihren Gruß über den Soldatensender von Radio Tromsø hören wird. 100 Kronen hat sie dafür bezahlt, damit ihr gemeinsames Lied gespielt wird.

»Hoffentlich kommen wir heil über den Vestfjord!« Helens Worte unterbrechen ihre Gedanken und holen sie zurück in die Realität. Seit einer halben Stunde sind sie wieder auf offener See. Dass die Hurtigruten-Schiffe auch Wehrmachtsmaterial und Angehörige der Wehrmacht transportieren, wissen die Alliierten, und deshalb ist die Gefahr groß, auf Minen zu treffen, von Torpedos beschossen zu werden oder auch aus der Luft angegriffen zu werden.

Helen reicht ihr ein Stück Schokolade. »Die Tafel habe ich von einem Kaufmann in Tromsø bekommen, weil ich seine Mutter drei Monate in einem Krankenhaus gepflegt habe. Jetzt ist sie verstorben. Hätten wir die richtige Medizin gehabt, wäre sie vielleicht noch am Leben. Sie ist nur 60 Jahre alt geworden. Sie und ihr Mann hatten lange Zeit ein Geschäft, das jetzt vom Sohn weitergeführt wird. Der Mann sitzt in Grini69 ein, weil die Deutschen in seinem Keller ein altes Radio gefunden hatten. Er weiß wahrscheinlich noch nicht, dass seine Frau tot ist. Ist das nicht furchtbar!« Sie setzt sich auf ihr Bett. »Ich bin so froh, dass ich nun erst einmal für drei Wochen zu meinen Eltern fahren kann.«

Mit einem Mal merken sie, dass die Maschinen nicht mehr laufen. Schwester Helen öffnet die Kabinentür. Man hört Stimmen, ängstliche Stimmen, zu verstehen ist aber nichts. Ein Schiffsoffizier geht durch den Gang und ruft: »Bewahren Sie Ruhe! Wir müssen zurück nach Svolvær! U-Boot-Alarm!« Er eilt zu den anderen Korridoren und wiederholt die Meldung. An Schlaf ist nicht mehr zu denken.

Auch in der Kabine von Lillian und Schwester Helen nicht. »Ich habe eine Flasche Cognac, eigentlich ein Geschenk für meinen Vater«, sagt die Schwester, »aber nach diesem Schreck gönnen wir uns ein Glas.« Sie öffnet ihren Koffer und zieht eine Flasche heraus, die in einen Skipullover gewickelt ist. »Wir nehmen die Zahnputzgläser.« Vorsichtig schenkt sie ein. »Skål, liebe Reisegefährtin, es wird schon gut gehen.«

Ihre ruhige Art tut Lillian gut. Dann hören sie, dass die Maschinen wieder arbeiten. Das Schiff fährt zurück nach Svolvær. Erst einen Tag später, am Sonntag, dem 11. Februar, wird sich die Lofoten wieder Richtung Süden wagen.

 

An diesem Sonntagabend sitzt Helmut in Harstad vor dem Radio. Als der Gruß von Lillian für ihn durchgegeben und das Lied »Nach jedem Abschied gibt’s ein Wiedersehen« gespielt wird, küsst er den Ring, der jetzt an seinem Finger steckt.

Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern
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