Die Suche nach der jüdischen Vergangenheit
Herbst 2010
Ich beginne die Briefe zu sortieren, die ich von meiner Mutter bekommen habe, Briefe, die Jahrzehnte in einem Schrank gelegen haben. Die meisten von ihnen sind mit Schreibmaschine auf ein blasses, hauchdünnes Papier geschrieben, das ich ganz behutsam berühre.
Die Briefe, die mein Großvater Heinz Crott an seinen Sohn Helmut nach Norwegen geschickt hat, sind alle durchnummeriert. Mir fällt beim Sortieren auf, dass die Briefe nicht alle aus Wuppertal kommen. Einige sind in Orten aufgegeben worden, von denen ich noch nichts gehört habe. Auf jeden Fall nichts im Zusammenhang mit unserer Familiengeschichte. Diese Orte heißen Minkwitz und Zeitz.
Unter den Briefen ist auch einer von meiner Großmutter mit dem Vermerk: »Zeitz, 5. Februar 1945, Werner Gerhardtschule, OT Bauleitung«. Was hat das zu bedeuten? Bisher wusste ich nur, dass meine jüdische Großmutter Carola Crott nach Theresienstadt deportiert worden ist. Einer der Briefe liegt gesondert in einem weißen Umschlag. Darauf ist in der klaren Handschrift meiner Mutter vermerkt: »Ömis Schicksalstag«. Der Brief beschreibt den Tag, als meine Großmutter aus Wuppertal fortgebracht wurde. »Zum Arbeitseinsatz«, wie es in dem Brief meines Großvaters an meinen Vater heißt. Es ist die Rede davon, wie mein Großvater sie nach Düsseldorf begleitet hat und wie man dort unter »grässlichen« Umständen die Nacht verbringen musste, »von wo der Zug am nächsten Tag nach Thüringen abgegangen ist.« Diese »alles andere als menschenwürdige« Nacht in Düsseldorf beschäftigt mich sehr.
Ich muss herausfinden, was damals in Düsseldorf war. Wohin hat man meine Großmutter Carola Crott gebracht? An welchem Tag genau war das? Der Brief meines Großvaters datiert vom 25. September 1944. Das, was er beschreibt, geschah »am vergangenen Sonntag«. Ich finde im Kalender von 1944, dass dieser Sonntag der 17. September war. Ich schaue noch mal ganz genau hin, ja, es stimmt. Am 17. September, sieben Jahre später, bin ich auf die Welt gekommen. Da man im Wuppertaler Standesamt bemängelte, dass der Vorname Randi nicht erkennen ließe, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt, gaben mir meine Eltern einen zweiten Vornamen: Carola.
Auf der Wand hinter meinem Schreibtisch habe ich Fotografien meiner Eltern und Großeltern angebracht. Ich tauche in das Gesicht meiner Großmutter ein, dieser Frau mit den weißen Haaren, den dunklen Augen, den dunklen Augenbrauen. Ich selbst habe an meine Großmutter gar keine Erinnerung mehr. Neben ihr sitzt mein Großvater mit seinem verschmitzten Blick. Auf der Rückseite des Bildes steht »Ihrem lieben Jungen im Jahr 1943 von seinen Eltern.« Carola Crott misst nur ein Meter siebenundfünfzig. Von ihrem Sohn wurde sie von jeher liebevoll »die halbe Portion« genannt.