Meine Großtante wird deportiert
Juli 1942
Helmut weiß im norwegischen Kriegssommer 1942 noch nicht, dass er seine geliebte Tante Tetta nie wiedersehen wird. In Wuppertal hat – wie in anderen deutschen Städten auch – die Zeit der massenhaften Deportationen der Juden begonnen. Am 20. Juli trifft es auch die Bewohnerinnen und Bewohner des Jüdischen Altersheims in Wuppertal-Elberfeld und damit auch die 83-jährige Henriette Callmann. Am 12. Juli erhält sie ein Schreiben der jüdischen Hausverwaltung:
Im Auftrag der geheimen Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle Düsseldorf, Außendienststelle Wuppertal, teilen wir Ihnen mit, daß sämtliche Juden des Bezirks, soweit sie nicht in Mischehe leben, zu einem Transport nach Theresienstadt eingeteilt sind. Der Transport für den Bezirk Wuppertal geht ab am Montag, den 20. Juli 1942, am Bahnhof Elberfeld-Steinbeck. Die Teilnehmer versammeln sich am 20.7.42, vormittags 8.30 Uhr auf dem Vorplatz des Bahnhofs Steinbeck (Nicht auf dem Bahnsteig), sie müssen zu diesem Zeitpunkt dort eingetroffen sein.46
Carola Crott ist wie versteinert, als sie die Anordnung sieht, die ihre Schwester Tetta ihr am nächsten Tag zeigt. Gemeinsam lesen sie die Anweisungen:
… den Vermögenserklärungen sind Sparkassenbücher, Hypothekenbriefe, Verträge sowie sonstige Wertpapiere beizufügen … Jeder Transportteilnehmer hat am Mittwoch, den 15. Juli 1942 zusammen mit der Abgabe der Vermögenserklärung RM 65,– an die Geheime Staatspolizei Außendienststelle Wuppertal abzuliefern … Wertsachen jeder Art wie Gold, Silber, Platin mit Ausnahme der Eheringe, sind zum Gestellungsort mitzubringen und in einem Briefumschlag zur Abgabe bereitzuhalten … Die Wohnräume sind in sauberem Zustand zu verlassen. Es ist darauf zu achten, dass Gas, Wasser und elektrisches Licht abgestellt sind. Zum Reinigen der Räume und zu sonstigen Arbeiten dürfen deutschblütige Personen nicht hinzugezogen werden.47
Dann ist aufgeführt, was mitgenommen werden darf und muss:
An Gepäck darf von jeder Person mitgenommen werden (im Gewicht von höchstens 25 kg) ein Koffer oder Rucksack und ein Bettsack in der Größe von c. 70 cm Breite und 40 cm Höhe. Der Bettsack sollte enthalten: Decken und Bettwäsche sowie Marschverpflegung für 2 Tage. Der Koffer soll enthalten: Kleider, Wäsche und die persönlichen Gebrauchsgegenstände sowie Marschverpflegung für 8 Tage. Ein Eßbesteck und ein Eßnapf (nicht aus Porzellan) sind unbedingt mitzunehmen.48
Dieses amtliche Schreiben kommt den beiden gerade wegen seiner sachlichen Nüchternheit völlig unwirklich vor. Sie sind doch Schwestern, denkt Carola. Sie, Carola, hat Heinz geheiratet, Tetta ist unverheiratet geblieben. Und dieser Unterschied macht nun aus, dass die eine diesen Brief von der Gestapo bekommt und die andere nicht.
In den folgenden Tagen weicht Carola nicht von Tettas Seite. Sie sind sich jetzt näher denn je. Es wird nicht viel geredet, die Anordnungen des fürchterlichen Schreibens werden, so gut es eben geht, umgesetzt, Heinz hilft, wo er kann. Abends verstummen die Gespräche. Und von einem will sowieso niemand reden: Von den ersten Deportationen im Oktober 1941 ist keiner je zurückgekommen.
Zu den Deportierten werden auch der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Barmen, Rechtsanwalt Kurt Orgler und seine Frau Adele, gehören. Sie schreiben in einem Brief an ihre in der Emigration lebenden Kinder:
Geliebte Kinder! Da man uns nicht die Möglichkeit gegeben hat, zu Euch zu kommen, so müssen wir heute von Euch Abschied nehmen. Wir verlieren Heim und Heimat und Ihr das Elternhaus. Es ist uns schwer ums Herz. Wir haben, seit wir mit der Abreise rechnen mussten, so viel Liebe erfahren, daß wir die letzten Tage nicht aus unserem Leben streichen möchten.49
Der Wuppertaler Jakob Kaufmann schreibt vor der Deportation an seine Kinder:
Nunmehr ist auch uns das Judenschicksal auferlegt. Heute ist der 14. Juli, wir haben noch 6 Tage, dann müssen wir unser gemütliches Heim verlassen und die Fahrt in das Ungewisse machen. Wir kommen nach Theresienstadt in Böhmen. Wir haben nicht geglaubt, dass Menschen in meinem Alter den Wanderstab noch aufnehmen müssen, aber selbst Leute im höchsten Alter müssen noch mit. Es ist ein schweres Los, welches uns getroffen. Wir wollen hoffen, daß wir gesund bleiben und mit Gottes Hilfe diese traurige Zeit überstehen. Ich habe das feste Gottvertrauen, daß für uns auch mal wieder bessere Tage kommen.50
Als der Morgen des 20. Juli kommt, sind Heinz und Carola um 7 Uhr bei Tetta, packen Brote und andere Lebensmittel in Koffer und Bettsack. Auch jetzt wird kaum gesprochen. Carola nimmt ihre Schwester fest am Arm, als sie sich zum Steinbecker Bahnhof aufmachen müssen. Heinz folgt mit Tettas Koffer und dem Bettsack. Auf dem Vorplatz sind schon viele Menschen versammelt. Die Umarmungen wollen nicht enden. Dann ist Tetta mit den anderen im Bahnhofsgebäude verschwunden.
Henriette Callmann wird zusammen mit 246 Wuppertaler Jüdinnen und Juden zunächst nach Düsseldorf transportiert. Von dort fährt am nächsten Tag um 10.17 Uhr ein neu zusammengestellter großer Deportationszug mit insgesamt fast 1000 Juden aus Düsseldorf, Essen, Oberhausen und den Juden aus Wuppertal ins Ghetto Theresienstadt.
Helmuts Eltern beschließen, ihrem Sohn nichts von Tettas Transport nach Theresienstadt zu schreiben, sie wollen es ihm persönlich sagen.
Im Dezember 1942 fährt Helmut auf Heimaturlaub nach Hause, mit dem Zug durch Schweden – das neutrale Schweden gestattet erstaunlicherweise die Durchreise deutscher Soldaten – dann mit dem Schiff nach Saßnitz und von dort nach Wuppertal.
Helmut freut sich sehr auf zu Hause und das Wiedersehen mit den Eltern. Er will sie überraschen und kommt, anders als geplant, schon zwei Tage vor Weihnachten in Elberfeld an. Als er in die Wohnung in der Blumenstraße tritt, bemerkt er sofort, dass etwas anders ist – der Lehnstuhl im Erker ist nicht besetzt.
Seine Mutter sieht ihn nur an. Sein Vater nimmt seinen Arm und erzählt, was passiert ist. Dann sehen Heinz und Carola Crott ihren erwachsenen Sohn zum ersten Mal bitterlich weinen.
Ich weiß nicht, ob meine Großeltern und mein Vater jemals erfahren haben, wo und wie Tetta umgebracht worden ist. Ich weiß nicht, ob sie nach dem Krieg nach ihrem Schicksal geforscht haben. Ich lese in der Begegnungsstätte Alte Synagoge in Wuppertal in den Akten,51 dass Henriette Callmann, meine Großtante, am 21. Juli nach Theresienstadt deportiert worden ist, von dort am 21. September 1942 mit dem »Transport Bp nach Treblinka, wo sie vermutlich sofort getötet wurde«. In der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem ist ihr Name verzeichnet.