Finnmark wird niedergebrannt
Ende Oktober/November 1944
Am 28. Oktober 1944 hat Hitler den Befehl zur Zwangsevakuierung der Bevölkerung und zum Niederbrennen der beiden nördlichsten Provinzen Norwegens Nord-Troms und Finnmark gegeben. Das entspricht einem Fünftel der Fläche des norwegischen Festlandes, einem Gebiet anderthalb Mal so groß wie Dänemark. 50 000 Menschen haben dort ihr Zuhause. Die meisten ignorieren zunächst den Befehl, denn sie können sich einfach nicht vorstellen, dass die Deutschen tatsächlich alles niederbrennen werden.
Daraufhin unterzeichnet Alfred Jodl, der Chef des Wehrmachtführungsstabes, einen Befehl, der an die 20. Gebirgsarmee gerichtet ist:
Aufgrund der geringen Bereitwilligkeit der nordnorwegischen Bevölkerung zur freiwilligen Evakuierung hat der Führer den Vorschlägen des Reichskommissars für die besetzten norwegischen Gebiete zugestimmt und befohlen, daß die gesamte norwegische Bevölkerung ostwärts des Lyngenfjords in ihrem eigenen Interesse zwangsweise zu evakuieren und alle Wohnstätten niederzubrennen bzw. zu zerstören sind. Oberbefehlshaber Nordfinnland ist dafür verantwortlich, daß der Führerbefehl rücksichtslos durchgeführt wird.
Hierdurch allein kann vermieden werden, daß der Russe mit starken Kräften, gestützt auf die Wohnstätten und die ortskundige Bevölkerung, unseren Absetzbewegungen noch im Winter folgt und in Kürze vor der Lyngenstellung erscheint. Mitleid mit der Zivilbevölkerung ist nicht am Platze.63
Das Entsetzen bei den Menschen ist groß. Viele wollen sich nicht damit abfinden und wenigstens in der Nähe ihrer Häuser und Ställe bleiben, wenn sie schon alles verlieren. Rolv Breivik, der zu jener Zeit als junger Mann in Finnmark lebt, beschreibt in seinem Buch die verzweifelten Versuche, in der Heimat zu bleiben:
Eines Abends fragte mich ein Mann, der Frau und mehrere kleine Kinder hatte, ob ich nicht zusammen mit ihm und seiner Familie ein Versteck vor den Deutschen suchen wolle, damit wir die Evakuierung umgehen könnten. Irgendwo könnten wir sicher eine Erdhütte bauen.
Ich habe nur geantwortet, daß das Risiko zu groß sei, schon allein wegen der nahenden Schneestürme, und daß es praktisch unmöglich sein würde, etwas zu essen zu organisieren. Und daß seine Kinder das nicht überleben würden.64
Quisling sendet seinen Polizeiminister Jonas Lie nach Alta, der größten Stadt Finnmarks, um die Evakuierungen zu überwachen und jeden Widerstand zu brechen. Als Lie von einem Bauern hört, der sich gegen den Befehl aus Berlin stellt, macht er kurzen Prozess: »Er hat sofort ein Volksgericht auf die Beine gestellt, das den Mann zum Tode verurteilt hat. Die Deutschen haben dann die Exekution durchgeführt.«65
Trotzdem gelingt es vielen Norwegern, sich in Verstecke zu flüchten und dort zu überleben. Auch Rolv Breivik und seine Freunde beschließen an einem dunklen Novemberabend schließlich doch, über den Altafjord zu rudern und sich in einer Erdhöhle in Sicherheit zu bringen.
Die »Operation Nordlicht« führt zu den größten Zerstörungen auf norwegischem Boden überhaupt. Die Soldaten »zogen von Ort zu Ort, von Gehöft zu Gehöft und trieben die Menschen aus ihren Häusern, die Kranken aus den Hospitälern, das Vieh aus den Ställen. Die Gebäude wurden in der Regel nach kurzer Frist in Brand gesetzt, das Vieh zum Teil an Ort und Stelle geschlachtet, zum Teil auch mit verbrannt.«66
Insgesamt werden 11 000 Wohnhäuser, 4700 Ställe, 230 Gebäude für Industrie und Handwerk, 420 Geschäfte, 306 Fischereibetriebe, 53 Hotels und Gastwirtschaften, 106 Schulen, 60 Gebäude der öffentlichen Verwaltung, 21 Krankenhäuser und Krankenstuben, 140 Versammlungsgebäude und 27 Kirchen zerstört.67 Wochenlang liegt der Geruch von verbranntem Stallvieh über dem Land. Auf größeren und kleineren Schiffen versuchen die Menschen nach Süden zu gelangen, den britischen Minen und Flugzeugangriffen ausgeliefert.
Die nordnorwegischen Städte, in die die Flüchtenden gelangen, sind auf diesen Ansturm nicht vorbereitet. Die Stadt Tromsø, die 10 000 Einwohner hat, verdoppelt ihre Bevölkerungszahl.
Im deutschen kollektiven Bewusstsein sind diese Ereignisse nicht verankert, handelt es sich doch um eine militärisch begründete Zerstörungsaktion wie andere im Verlauf des Zweiten Weltkrieges auch, ins nationale norwegische Gedächtnis sind sie aber eingebrannt als humanitäre und wirtschaftliche Katastrophe des Landes – ins Werk gesetzt von deutschen Soldaten.68
Als Helmut für ein paar Tage nach Harstad kommt, ist die Halvdansgate 16 endgültig für ihn verschlossen. Nach dem Niederbrennen Nordnorwegens hat Lillians Vater dem deutschen Soldaten das Haus verboten. John ist außer sich und will Helmut nie mehr sehen. Lillian weint, als sie es Helmut sagen muss. Als er ihr von der Deportation seiner Mutter erzählt, fühlt sich Lillian auf dieser Welt völlig verlassen.