Dann sind sie ja Vierteljüdin

November 2010

 

Am 9. November fahre ich zu Ilse Kassel nach Krefeld, der Frau, die im Herbst 1944 mit meiner Großmutter und vielen anderen in den Derendorfer Schlachthof nach Düsseldorf gebracht worden ist. Eigentlich ein Zufall, dass unser Treffen an diesem historischen Datum zustande kommt. Frau Kassel hat zwei Stunden für mich eingeplant. Um 6 Uhr will sie zur Gedenkstunde in die Krefelder Innenstadt gehen.

Ich bin aufgeregt, als ich vor ihrem Haus stehe. Am Telefon war Frau Kassel zwar sehr freundlich gewesen. Aber ich glaube auch eine gewisse Skepsis in ihrer Stimme gehört zu haben. Ich drücke auf den Klingelknopf.

»Na, dann kommen Sie mal herein«, sagt Frau Kassel. Kaum zu glauben, dass diese Frau 85 Jahre alt sein soll. Sie strahlt Energie und Entschlossenheit aus. Ilse Kassel hat Tee für uns gemacht. Auf dem Wohnzimmertisch liegt eine mit Spitze umrandete Decke. Eine silberne Schale ist mit Keksen und Pralinen gefüllt. Ich versuche meine Befangenheit abzulegen. Der Gedanke an Carola Crott hilft mir dabei. Ich bin ihre Enkelin, ich darf Fragen stellen.

Frau Kassel erzählt. Sie erzählt zunächst von ihrem Vater, dem Elektromeister Fritz Müller. 1935 hat man ihm die Konzession zur Erstellung elektrischer Anlagen entzogen. Er darf weder für die Krefelder Stadtwerke arbeiten noch für das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk. Keine Aufträge an Juden und auch nicht an »jüdisch Versippte«, wie den mit der Jüdin Else Müller, geborene Coppel, verheirateten Fritz Müller.

Die Familie verliert die Existenzgrundlage. Die Versuche des Vaters, ein neues Leben mit der Familie im Ausland zu beginnen, scheitern. Dann kommt Frau Kassel auf den 17. September 1944 zu sprechen. Darüber, wie verbittert sie noch immer über jene Katholiken ist, die an diesem Sonntag in Krefeld gerade aus dem Hochamt kamen, als sie, die Juden, an dem Kirchenportal vorbeigetrieben werden.

»Niemand hat uns geholfen«, sagt sie leise. »Weder meiner Mutter, noch meiner Schwester, noch mir.« Als sie auf den Schlachthof in Derendorf zu sprechen kommt, merke ich, dass es ihr sehr schwerfällt.

»Meine Schwester Lore war damals im sechsten Monat schwanger. Die Nacht war schlimm, es war kalt. Und dann nur diese Schweinetröge. Am nächsten Morgen sind die Züge angerollt. Dann haben die Wachen die Transporte zusammengestellt. Es gab je einen Männertransport und einen Frauentransport. Jeweils zu unterschiedlichen Zielen. Lore kam mit auf den Frauentransport, mein Schwager auf den Männertransport. Man kann sich vorstellen, was das für eine Schwangere bedeutete. Lore warf sich vor dem Gestapo-Mann auf das Pflaster und flehte, dass man sie doch bei ihrem Mann lassen soll. Ich werde nie vergessen, was der dann tat. Er gab ihr einen Tritt und sagte: Meinetwegen. Verrecken müsst ihr ja doch. So oder so.« Frau Kassels Stimme ist jetzt nicht mehr so fest.

Ich fühle mich auf einmal schuldig. Schuldig, weil ich die kleine schmale Frau, die mir gegenübersitzt, dazu gebracht habe, noch einmal auf jene Tage zurückzublicken. Bei unserem ersten Telefonat hatte ich Frau Kassel erzählt, dass mein Vater über die Zeit des Nationalsozialismus und das, was ihm angetan worden ist, immer geschwiegen hat. Jetzt nimmt sie diesen Faden wieder auf. »Sie müssen Ihren Vater verstehen. Es tut sehr weh, wenn man sich erinnert.«

Ich zeige ihr Bilder von meiner Großmutter. Nein, sie kann sich nicht entsinnen.

»Aber wissen Sie, ich war damals die ganze Zeit so mit meiner Mutter beschäftigt, weil es ihr so schlecht ging.« Sie erzählt mir, dass es damals zunächst in ein Lager nach Minkwitz und dann nach Zeitz gegangen war. In die Orte also, aus denen mir Briefe meiner Großeltern vorliegen.

Ich zeige Ilse Kassel den Brief meiner Großmutter, den sie aus dem Arbeitslager in Zeitz an meinen Großvater geschrieben hat: »Wenn ich nun noch von Viola, Paula, Polly, Ilse, Jettchen, Marie und Hanni besonders herzliche Grüße bestellen soll …«

»Ilse …«, sagt Frau Kassel. »Ich bin nicht ganz sicher, aber ich glaube, ich war die einzige Ilse dort.« Dann muss es wohl so gewesen sein, auch wenn sich Frau Kassel nicht mehr an meine Großmutter erinnert: Ilse Kassel war zur gleichen Zeit wie Carola Crott im Schlachthof in Derendorf, dann im Lager in Minkwitz und auch im Arbeitslager in Zeitz.

»Würden Sie mit mir noch einmal nach Zeitz fahren?«, frage ich.

Frau Kassel zögert.

»Ich muss erst darüber nachdenken.«

Es ist inzwischen halb sechs geworden. Frau Kassel will pünktlich bei der Gedenkfeier sein. Ich frage, ob ich sie begleiten darf.

In der Marktstraße sind etwa 150 Leute an jener Stelle versammelt, wo früher einmal die Synagoge gestanden hat.

Jetzt stehen dort sechs Stelen. »Eine für jede Million«, sagt Frau Kassel. »Für jede Million ermordeter Juden.«

Es sind heute weniger Menschen gekommen als sonst. Das liegt sicher am Regen. Frau Kassel hat in der Menge ein bekanntes Gesicht entdeckt. Es ist Frau Dr. Ruth Frank.

»Sind Sie auch jüdischer Abstammung?«, fragt sie mich. Ohne zu überlegen sage ich: »Nein.« Ich verbessere mich sofort. »Ja. Doch. Meine Großmutter war Jüdin.«

»Aber dann sind Sie ja Vierteljüdin«, sagt Frau Dr. Frank zu mir.

Ilse Kassel und ich stehen zusammen unter einem Regenschirm, als der Chor das erste Lied anstimmt. Die Männer und Frauen singen auf Russisch.

»Die jüdische Gemeinde hat sich im Lauf der Zeit verändert«, sagt Frau Kassel. »Und jetzt ist mir manches ein wenig fremd.«

Ich schaue nach oben in den dunklen Novemberhimmel und stelle mir vor, dass mein Vater und meine Großmutter auf mich hinuntersehen. Sie freuen sich bestimmt, dass ich hier stehe. Zusammen mit Ilse Kassel.

Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern
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