Es ist Friede, und alle jubeln

Mai – August 1945 in Tagebüchern und Briefen

 

8. Mai

Tagebuch Lillian, Odda:

Es ist früher Vormittag. Vor zwei Stunden haben wir von der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands erfahren. Norsk Rikskringkasting ist wieder geöffnet und sendet ununterbrochen neue Meldungen. Im Zentrum von Odda übertragen Lautsprecher die Rede des amerikanischen Präsidenten Truman. Der letzte Akt der Tragödie ist zu Ende. Es ist Friede, und alle jubeln. Aber was soll jetzt mit den Hunderttausenden Okkupationssoldaten geschehen, die immer noch bewaffnet sind? Wie wird es sich entwickeln? Am Abend treffen sich Tausende von Menschen im Zentrum von Odda. Norwegische Flaggen werden geschwungen, Musikkapellen spielen. Es wird gesungen und getanzt. Immer wieder erklingt die norwegische Nationalhymne Ja vi elsker dette landet. Es ist so, als ob alle sich kennen, als ob jeder Einzelne den Krieg gewonnen hat. Einige sind total betrunken. Heute Abend dürfen sie es sein. Es ist, als ob die Zeit stillsteht.

 

9. Mai

Tagebuch Lillian, Odda:

Ständig kommen neue Radiomeldungen: Deutsche Truppen ziehen sich zurück aus den Gebieten, auch aus Sörreisa und Harstad. Ich komme zufällig vorbei und werde Augenzeuge, wie Mitglieder der Nasjonal Samling aus ihren Häusern abgeholt werden. Von den Menschen wüst beschimpft, stehen sie auf den Ladeflächen der Lastwagen mit hoch erhobenen Händen. Einige werden angespuckt. Manche wollen die Gefangenen verprügeln. Die Polizei versucht es zu verhindern. Aber es gelingt nicht. Zwei junge Mädchen werden an den Haaren gezogen, verspottet und verhöhnt.

Es tut weh, das zu sehen. Sie haben sich auch in einen Deutschen verliebt. Wenn mich hier jemand kennen würde, ginge es mir genauso.

 

13. Mai

Tagebuch Lillian, Odda:

Blanche schreibt: »Gut, dass du nicht in Harstad bist. Heimatfrontsoldaten haben alle Mädchen geholt, die was mit Deutschen hatten. Sie wurden angespuckt und man hat ihnen die Haare abgeschnitten!« Müssen Norweger auf diese Weise zeigen, dass sie gute Norweger sind? Inmitten all der Freude also auch Verzweiflung und Rachegefühle.

Heute haben wir die Freigelassenen aus Deutschland und aus dem Gefängnis Grini begrüßt. Alle werden mit Jubel und Blumen empfangen. Es werden Reden gehalten, einige der Heimgekehrten weinen, viele sehen mitgenommen und ausgemergelt aus. Unter den Freigelassenen ist auch ein Russe. In gebrochenem Norwegisch hält er eine Dankesrede. Zu seinen Ehren wird die »Internationale« gespielt.

Die ersten Gerüchte über die Konzentrationslager kommen. Man kann es nicht fassen, was man hört. In den Straßen marschieren die Heimatfront-Soldaten mit geschulterten Gewehren und auch die ersten englischen Soldaten zeigen sich. Sie sind freundlich und winken der Bevölkerung mit dem Victory-Zeichen zu.

Ständig hört man von Verhaftungen. NS-Leute werden aus allen öffentlichen Ämtern entlassen. Reichskommissar Terboven hat sich im Bunker seiner Residenz in Skaugum in die Luft gesprengt und Quisling74 ist festgenommen worden. Ich hoffe trotz allem, dass es keine Todesurteile in Norwegen geben wird. Was ist mit all denen, die in den fünf langen Jahren der Besatzung reich geworden sind, weil sie mit Deutschen Geschäfte gemacht haben und Baracken und Festungsanlagen gebaut haben? Der König und der Kronprinz werden erwartet, und das Volk bereitet sich auf die erste 17.-Mai-Feier75 nach der Besatzung vor.

 

5. Mai

Brief von Helmut Crott, Drammen, an Lillian Berthung, Odda:

In den letzten Tagen ist mir oft der Gedanke gekommen, zu gegebener Zeit und vor einer passenden Stelle das Dir bekannte Geheimnis zu lüften. Aber auch in dieser Beziehung weiß man wieder nicht, welches der richtige Zeitpunkt ist, um weder nach der einen noch nach der anderen Seite irgendwelche Nachteile zu verursachen. Das Leben ist und bleibt ein Glücksspiel, wobei wir hoffentlich wie bisher begünstigt werden.

 

9. Mai

Brief von Helmut Crott, Drammen, an Lillian Berthung, Odda:

Draußen auf den Straßen kann man ein Leben beobachten, wie ich es so noch nie gesehen habe. Die Menschen laufen durch die Stadt mit kleinen und großen norwegischen Flaggen. Es herrscht unbeschreiblicher Jubel. An einem Kiosk las ich die Überschrift einer Zeitung: Unser Kampf ist mit einem Sieg gekrönt. Den Soldaten gegenüber verhält sich die Bevölkerung hier in Drammen ruhig. Einige scheinen sogar Mitleid mit uns zu haben. Bis jetzt wissen wir nicht, was mit uns geschehen soll. Vor einer Stunde hörte ich, dass die Engländer in Oslo gelandet sein sollen. Da wird es nicht mehr lange dauern, bis sie hier sind, und dann habe ich wahrscheinlich keine Möglichkeit mehr rauszukommen, um einen Brief an Dich zu schicken. Was wird mit uns geschehen? Im größten Vertrauen in unsere Zukunft, Dein Helmut

 

10. Mai

Brief von Helmut Crott, Drammen, an Lillian Berthung, Odda:

Meine geliebte Lillian, es ist immer noch Nacht.Vier Uhr. Wir haben gerade Befehl bekommen, den Stützpunkt zu verlassen. Wir sollen ins Kongsberger Gebiet verfrachtet werden. Mit der Freiheit ist es jetzt zu Ende. In diesem Augenblick habe ich nur einen einzigen Wunsch, daß meine persönliche Situation bald aufgeklärt wird. Falls Du längere Zeit nichts von mir hörst, ist es nicht gelungen, Dir weitere Briefe zu schicken. Ein glückliches Wiedersehen wird eines Tages kommen. Dein treuer Helmut

P.S. Versteck alles, was darauf hindeutet, dass Du eine deutsche Verbindung hast. Schau nach in Deiner Handtasche. In Oslo, so hört man, werden Leute auf der Straße kontrolliert.

 

10. Mai

Brief von Lillian Berthung, Odda, an Helmut Crott:

Vorläufig müssen meine Briefe liegen bleiben, aber ich schreibe dennoch jeden Tag, wie es mir geht und was um mich herum an großen und kleinen Begebenheiten geschieht. Die letzte Radiomeldung ist, daß alle deutschen Soldaten sofort ihre Stützpunkte in Norwegen verlassen müssen und daß sie vorläufig in großen Lagern interniert werden sollen, bevor sie nach Deutschland geschickt werden. Ist dort überhaupt ein Wiederaufbau möglich? Wir hören jeden Tag schreckliche Dinge von dort. Die Hauptschuldigen an dieser Katastrophe sind zu feige, um sich für ihre Handlungen zu verantworten, und geben sich selbst eine Kugel.

Wenn Du jetzt wahrscheinlich interniert wirst, hoffe ich, daß es Dir gelingen wird, Deine Verhältnisse offenzulegen. Was beweisen wird, daß Dich an allem keine Schuld trifft. Wo ist die halbe Portion, wo ist Dein Vater? Wo bist Du heute?

 

12. Mai

Brief von Helmut Crott, Kriegsgefangenenlager Heistadmoen, an Lillian Berthung, Odda:

Meine liebe kleine Schicksalsgefährtin, wie ich Dir gestern noch kurz mitteilen konnte, sind wir im Laufe des Tages gruppenweise von Drammen abgefahren, wobei wir nach zweistündiger Fahrt bereits am Ziel waren. Es handelt sich nicht um ein ehemaliges KZ, sondern um ein früheres deutsches Armeegelände. In diesem Lager werden alle Soldaten des Oslofjordes gesammelt. Oft habe ich daran gedacht, alles auf eine Karte zu setzen und mich zu entfernen. Aber ich will wie immer einen geraden Weg gehen, der mir bisher die richtigen Ziele gewiesen hat.

 

13. Mai

Brief von Helmut Crott, Kriegsgefangenenlager Heistadmoen, an Lillian Berthung, Odda:

Während des Schreibens sitze ich auf einer aus Birkenstämmen gebauten Bank unter drei hohen Fichten, durch die die Sonne ihr Licht auf dieses Blatt wirft. Mein Blick geht weit über Wiesen, Felder, Häuser, Straßen, Wälder und Höhen in die Ferne, in der auch die Freiheit und Du auf mich warten.

 

13. Mai

Brief von Helmut Crott, Kriegsgefangenenlager Heistadmoen, an Lillian Berthung, Odda:

Jedenfalls darfst Du vorläufig nicht nach Harstad zurückkehren, denn wir hören, daß jetzt überall die Frauen festgenommen und belästigt werden, die mit Deutschen dienstlich oder persönlich zu tun hatten.

 

2. Juni

Brief von Helmut Crott, Kriegsgefangenenlager Heistadmoen, an Lillian Berthung, Odda:

Meine liebste Lillian. Im Radio wurde bekanntgegeben, daß die Entwaffnung der deutschen Soldaten bis Ende Juni und der Abtransport in 3–4 Monaten beendet sein sollen. Die Waffen haben wir bereits abgegeben, ob wir auch bei der Heimfahrt bei den Ersten sein werden? Am liebsten wäre es mir natürlich, wenn ich noch eine Zeitlang mit Dir gemeinsam in Norwegen verbringen und eine Ausnahmegenehmigung erreichen könnte.

 

8. Juni

Brief von Helmut Crott, Kriegsgefangenenlager Heistadmoen, an Lillian Berthung, Odda:

Gestern habe ich zum ersten Mal meinem Vater geschrieben. Ich habe die Hoffnung ausgesprochen, daß meine Mutter nicht doch noch im letzten Augenblick den Mißhandlungen oder sonstigen Machenschaften der bisherigen Machthaber zum Opfer gefallen ist. Nach ihrem Abtransport aus Zeitz mit unbekanntem Ziel gehört allerdings mehr als Optimismus dazu, an einen guten Ausgang zu glauben.

 

9. Juni

Brief von Helmut Crott, Kriegsgefangenenlager Heistadmoen, an Lillian Berthung, Odda:

Mein Leben ist wirklich von einer gewissen Tragikomik verfolgt. Während ich eigentlich gar nicht mehr in der Wehrmacht sein sollte, bemühen sich jetzt die verschiedenen Dienststellen um mich, und gegen meinen Willen wurde ich befördert. Ich unternehme alle Anstrengungen, das Lager für immer verlassen zu können, und nun setzt man mich als obersten Leiter des kaufmännischen Ausbildungswesens ein! Natürlich hat das keinen Einfluss auf meine sonstigen Absichten, aber daß von 5000 Soldaten gerade auf mich die Wahl fällt, ist schon wieder komisch.

 

12. Juni

Brief von Helmut Crott, Kriegsgefangenenlager Heistadmoen, an Lillian Berthung, Odda:

Aber so wird meine Mutter wohl den grausamen Weg aller derer haben gehen müssen, die in den Konzentrationslagern gewesen sind. Selbst wenn man die Schuldigen langsam in Stücke schneiden würde, wäre ihr Verbrechen nicht auszulöschen.

 

6. Juli

Brief von Helmut Crott, Kriegsgefangenenlager Heistadmoen, an Lillian Berthung, Odda:

Verhör durch zwei englische Oberfeldwebel, die unsere politische Einstellung bzw. Parteizugehörigkeit überprüfen. Es geht um die Mitarbeit für die Alliierten bei der demnächst beginnenden Weiterleitung der Soldaten nach Deutschland.

Ich habe bei der Gelegenheit die Wahrheit über meine Abstammung gesagt und wurde natürlich angenommen, wobei sich beide Engländer sehr interessiert zeigen.

 

20. Juni

Brief von Lillian Berthung, Odda, an Helmut Crott, Kriegsgefangenenlager Heistadmoen:

Gerade hörte ich im Radio aus Berlin die Anzahl der jüdischen Personen aus verschiedenen deutschen Städten, die sich noch in Theresienstadt befinden. Von Wuppertal wurden 37 erwähnt. Es wurde darum gebeten, umgehend Eisenbahnwaggons abzustellen, um die Personen abholen zu können. Wie sehr ich es mir wünsche, daß Deine Mutter auch dabei wäre.

 

7. Juli

Brief von Helmut Crott, Kriegsgefangenenlager Heistadmoen, an Lillian Berthung, Odda:

Schön wäre es, wenn meine Mutter sich unter den 37 befände, die in Theresienstadt auf Abholung warten. Aber ich glaube nicht, daß sie damals von Zeitz aus dorthin transportiert worden ist. Bleiben wir vorläufig bei unserer Hoffnung auf das Wunder und das gute Schicksal.

 

10. August

Brief von Helmut Crott, Kriegsgefangenenlager Heistadmoen, an Lillian Berthung, Odda:

Ich werde alles tun, um Dich nach Deutschland zu holen. Wenn die Ernährungsfrage einigermaßen geklärt ist und ich eine Stellung habe. Wir müssen unserem guten Stern weiter vertrauen, der mich so sicher durch den grausamen Krieg geleitet und uns zusammengeführt hat.

Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern
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