Russische Kriegsgefangene
Herbst/Winter 1943
Deutschland hat Norwegen nicht aus politischen oder ideologischen Gründen besetzt, sondern aus strategischen. Deshalb werden überall an der Küste Bunker, Kanonenstellungen, Flugplätze und Straßen gebaut: Die Festung Norwegen soll für die Engländer uneinnehmbar sein, damit sie nicht den Deutschen den Weg zum Atlantik versperren können.
Auf Führerbefehl wird 1943 mit der Planung einer Eisenbahnlinie bis ganz in den Norden begonnen. Eine groteske, eine größenwahnsinnige Idee. Diese Bahnlinie soll die Unabhängigkeit vom Schiffsverkehr bringen, um die für die Kriegsmaschinerie wichtigen Rohstoffe aus Nordnorwegen sicher nach Deutschland zu transportieren. Vor der Okkupation war die Bahn bis Mosjøen gegangen, rund 100 Kilometer südlich des Polarkreises. Nun beginnen die Bauarbeiten, um die Strecke bis nach Narvik zu führen. Der Generalinspektor für Straßenwesen und Festungsbau und Leiter der »Organisation Todt«, Albert Speer, vermerkt in einem Schreiben am 16. November 1943:
Der Führer ist über den Fortschritt und den Stand der Arbeiten erfreut, betont aber, daß die kürzestmögliche Fertigstellung des Bahnbaues von entscheidender Bedeutung werden kann und deshalb mit allen Mitteln angestrebt werden muß. Es soll sofort festgestellt werden, welche Erzlagerstätten an der neuen Bahnstrecke liegen. Ziel der Bahn ist: größtmögliche Mengen schwedisches Erz auf dem Schienenweg bis zum Süden (Oslofjord) abzufahren.53
Ich bin die einzige Straße dort in Nordland, die E 6, oft genug gefahren, um aus eigener Anschauung zu wissen: Diese Landschaft ist eine gebirgige Wildnis, unzählige Tunnel und Brücken wären für diese Bahnlinie notwendig gewesen.
Zuständig für all diese Arbeiten ist die »Organisation Todt (OT)« – benannt nach ihrem ehemaligen Leiter Fritz Todt. Die »Organisation Todt« – in der Lingua Tertii Imperii, der Sprache des »Dritten Reichs«, einer jener »volltönenden Fremdausdrücke« (Victor Klemperer) – ist in Wahrheit nichts als eine ungeheure Arbeitsmaschine, für die jetzt vor allem Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene herhalten müssen. Später werden auch KZ-Häftlinge hinzugezogen. Russische Kriegsgefangene werden zu Tausenden nach Norwegen gebracht. Sie müssen Sklavenarbeit beim Bau der Baracken, Festungsanlagen und der Bahn leisten. In den 249 Arbeitslagern werden sie gegen alle Regeln des Völkerrechts behandelt. 20 000 Russen überleben den Hunger, die Seuchen und die Zwangsarbeit nicht. Insgesamt werden es bis 1945 etwa 120 000 sowjetische Kriegsgefangene sein, die in die von der SS und von Quislings »Hird« – der SA der Nasjonal Samling – bewachten Arbeitslager der »Organisation Todt« deportiert worden sind.
Ein Artikel in der Harstad Tidende vom September 1984 schildert diese Bedingungen:
Die ersten Gefangenen kamen 1941 nach Trondenes. Sie wurden in Hütten aus Sperrholzplatten zusammengepfercht. Ein ehemaliger Gefangener berichtet, dass, als die Kälte einsetzte, sich einige der Gefangenen ein Feuer aus Plattenstücken in der Hütte machten. Die Deutschen entfernten deshalb die Bodenplatten, so dass die Gefangenen nun auf der gefrorenen Erde liegen mussten. Nach und nach wurden Baracken aufgestellt, welche bald überfüllt und feucht waren. Zum Schutz gegen den Winter hatten sie nur schlechte Bekleidung. Um die Füße wickelten sie Lappen, nur wenige hatten Schuhe. Die Gefangenen waren ständig hungrig. Die Deutschen konnten sich damit amüsieren, den Gefangenen einen Brotkanten hinzuwerfen, um der daraus entstehenden Schlägerei zuzusehen. Völlig entkräftete Menschen wurden zum Sterben ans Meer geschleppt.54
Immer wenn ich in Harstad bin, gehe ich zu dem Denkmal am Meer. Es steht unterhalb der Trondenes-Kirche, ein schwarzer Obelisk mit rotem Stern auf weißem Marmorsockel. Mit kyrillischen Buchstaben steht dort: »Zur Erinnerung an 800 russische Soldaten, die in faschistischer Gefangenschaft starben.«
Ab Ende 1942 werden die Russen für den Bau der Adolfkanonen eingesetzt. Hitler geht zu diesem Zeitpunkt der Ausbau der Küstenbefestigung nicht schnell genug, deshalb legt er für die »Organisation Todt« eine neue Rangfolge der Arbeiten fest, in der die Küstenbefestigung nun absoluten Vorrang hat.
Im Zusammenhang mit diesen Plänen wird auch der gesamte Grund und Boden auf Trondenes und in Ringberg beschlagnahmt, die Häuser und Höfe ebenso, das Gebiet gesperrt und bewacht. Den Bewohnern ist damit nicht nur der Zutritt zur Halbinsel Trondenes versperrt, sondern auch zu ihrer Kirche.
Hier, 90 Meter über dem Meer, soll die wohl größte landgestützte Kanone der Welt aufgestellt werden. Ab Herbst 1942 werden die Vorbereitungen dazu getroffen. Um die schwersten Waffenteile – das Kanonenrohr und die Stahlplatten des Geschützturmes – an Land bringen zu können, bauen die Deutschen einen eigenen Kai. Die Arbeiten an Kanone und Turm werden bis hin zum Probeschuss von den Technikern der Firma Krupp aus Essen ausgeführt.
Fotografien von damals zeigen, dass noch Schnee lag, als die Waffenteile ausgeladen und zu den Kanonenstellungen transportiert wurden. Der Gotha genannte Transportwagen für das Kanonenrohr hatte 12 Achsen mit 48 Rädern. Deshalb musste die eigens erbaute Transportstraße einen möglichst geraden Verlauf haben. Infolge war der Weg recht steil und es war notwendig, zusätzlich sieben Zugfahrzeuge vorzuspannen. Ohne den Arbeitseinsatz, zu dem die Russen, bedroht von brutalen Wachen mit Gewehren und Bajonetten, gezwungen wurden, wären die Batterien nicht entstanden.55
So entsteht die Adolfkanone Nr. 1, von der aus Adolfgranaten mit einer Reichweite von 56 Kilometern abgeschossen werden können.
Insgesamt bauen die Deutschen in Norwegen 80 größere Küstenbefestigungen mit insgesamt 1100 Kanonen, ein Viertel davon auf den Lofoten, den Versterålen, den Ofoten und in Süd-Troms. Die Waffen haben den Zweck, die Wege nach Narvik zu sichern. Die Adolfkanone der Batterie Trondenes kommt im Verlauf des Krieges nicht zum Einsatz. 1992 wird die Festung Trondenes als Denkmal von großer nationaler Bedeutung bezeichnet und die Kanone Nummer 1 mit ihrem gesamten Interieur unter Denkmalschutz gestellt.