Epilog
Januar 1965
Colorado Springs
am Abend
Winter 1965. Müde blickte Philemon von seinem Schreibtisch auf und sah aus dem Fenster. Draußen wurde es langsam dunkel, aber noch konnte er den schneebedeckten Gipfel des Pikes Peak in der Ferne schimmern sehen. Es herrschte tiefster Winter hier am Fuße der Rocky Mountains, doch bald würden die Tage wieder länger werden und der Frühling kommen. Philemon fröstelte. Seine alten Knochen froren schnell bei dieser Witterung. Er erhob sich mühsam, schlurfte gebeugt zum Kamin und warf zwei neue Scheite ins Feuer. Danach ging er zurück zum Schreibtisch und knipste die kleine Lampe darüber an. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, wie jedes Mal, wenn er das Licht anschaltete und daran dachte, wem sie das alles zu verdanken hatten. Für ihn war es bis heute ein kleines Wunder. Leider waren diese Wunder für die Menschen längst so alltäglich und selbstverständlich geworden, dass sie sie gar nicht mehr wahrnahmen.
Als er sich wieder auf dem Stuhl niederließ, ertappte er sich dabei, wie er eine leise Melodie vor sich hinsummte. Die Ode an die Freude! Noch heute konnte Philemon sich gut an das glückliche Gesicht von Kolman Czito erinnern, als sie damals hoch oben auf dem Pikes Peak den magischen Klängen dieses Liedes gelauscht hatten. Den Klängen der Zukunft. Doch leider hatten sie jene verheißungsvolle Zukunft niemals anbrechen sehen.
Betrübt schaute er auf das, was er soeben zu Papier gebracht hatte. Seine Schrift war zittrig, aber lesbar. Mit der Gicht in den Fingern fiel ihm das Schreiben schwer, aber er tat es trotzdem. Ein Gefühl in seinem Inneren sagte ihm, dass er nicht mehr viel Zeit dafür hatte. Philemon nahm den Bleistift auf, begutachtete ihn und spitzte ihn frisch an. Er war jetzt schon fast Neunzig, und vielleicht war dieser Winter sein letzter. Deshalb hatte er begonnen, seine Erinnerungen aufzuschreiben. Die Erinnerung an jenen außergewöhnlichen Mann, der nicht nur sein Leben geprägt hatte, sondern das vieler Generationen. Nur hatten die meisten nicht den leisesten Schimmer davon. Nikola Tesla war in Vergessenheit geraten. Nein, das war nicht ganz richtig, korrigierte sich Philemon in Gedanken, schließlich hatte er es miterlebt. Dr. Tesla war nicht einfach so in Vergessenheit geraten, man hatte ihn bewusst aus dem Gedächtnis der Menschheit getilgt. Heute kannte jeder die großen Namen von Edison, Marconi oder Röntgen, aber niemand wusste, was Dr. Tesla Großartiges vollbracht hatte. Doch für Philemon war das Vergessen nicht das Schlimmste, für ihn war es unerträglich, miterlebt zu haben, wie Nikola Tesla, der große Magier der Elektrik, am Ende zu einem alten und verrückten Narren gemacht worden war, der einsam in seinem Zimmer hockte und nur noch seinen wirren Fantasien nachhing.
Philemon wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Dann schob er sich die dicke Brille auf die Nase und setzte seinen Bleistift auf das Papier. Es gab noch so Vieles, das er zu erzählen hatte.
„Wir waren damals in Colorado Springs so nahe dran gewesen. So nahe dran, die Welt zu verändern. Doch die Stadt hatte uns schlussendlich nicht mehr länger geduldet. Die Pinkertons, zu denen, wie ich später herausfand, auch jener gewisse Joe Herkimer zählte, hatten ganze Arbeit geleistet. Sie waren ganz und gar nicht abgereist, wie es mir der durchtriebene Telegraphist berichtet hatte, sondern schlicht in ein anderes Hotel gewechselt, von wo aus sie ihr perfides Spiel, die Einwohner hinter unserem Rücken gegen uns aufzuhetzen, munter fortgesetzt hatten. Und nachdem uns zu unserem größten Bedauern ein weiteres Experiment misslungen war und dabei das Elektrizitätswerk ungewollt Schaden genommen hatte, waren wir endgültig aus der Stadt gejagt worden. Aber die immerwährenden Pinkertons ließen uns auch in New York nicht in Ruhe. Wir vermochten sie jedoch bald besser zu erkennen und gingen ihnen bestmöglich aus dem Weg. Heute weiß ich, dass es nicht bloß die Olds Motor Car Company gewesen war, die versucht hatte, Dr. Teslas Erfindungen aufzuhalten. Zu jener Zeit gab es noch viele andere aufstrebende Industriezweige, denen seine Forschungen ein Dorn im Auge gewesen waren. Die Kupferwerke zum Beispiel, welche Kabel für Stromleitungen produzierten, oder die großen Automobilfabrikanten, die ihre Modelle gerade mit Verbrennungsmotoren ausgestattet hatten und Teslas Elektromotoren fürchteten wie der Teufel das Weihwasser! Sie alle waren verblendet und hatten nur ihren eigenen kurzfristigen Gewinn im Auge, nicht jedoch das Wohl der gesamten Welt.
Aber kommen wir zurück zu Dr. Tesla. Er schien das Scheitern in Colorado Springs zwar zu bedauern, aber ihm blieb nichts anderes übrig, als mit den gewonnenen Erkenntnissen nach New York zurückzukehren. Immerhin umfassten diese von ihm unter dem Namen ‚Colorado Springs Notes‘ bekanntgewordenen Aufzeichnungen über 500 handgeschriebene Seiten und 200 Zeichnungen … und natürlich auch jenes kleine Notizbuch, das er nie aus der Hand gab.
Zu meiner großen Freude durfte ich in Teslas Diensten verbleiben und ihm in seinem New Yorker Labor weiterhin assistieren, so wie Fritz Löwenstein, der später Vizepräsident des Institute of Radio Engineers wurde, und Kolman Czito, den es 1926 bedauerlicherweise nach einer schweren Krankheit dahinraffte. Am Ende blieb ich Teslas einziger Vertrauter. Ich und Georg Scherff, sein Buchhalter. Es war nicht leicht, mitansehen zu müssen, wie der Doktor, von seinen Ideen getrieben, weiterhin durch Höhen und Tiefen schritt. Wie ihn die Leute auf den Straßen mal feierten, mal hinter seinem Rücken verspotteten. Der Doktor selbst jedoch stand alle Zeit über den Dingen. Ihn interessierte nur seine Arbeit. Und wäre die Welt damals offener für seine Visionen gewesen, wäre sie jetzt sicherlich eine andere.“
Philemon blickte kurz auf und kaute nachdenklich auf dem Bleistift. Auch darin hatte Tesla recht behalten, dachte er. Seine Erfindungen waren so bahnbrechend gewesen, dass die Menschen regelrecht Angst davor hatten. Und ängstliche Menschen würden die Welt niemals verändern.
Er sah wieder auf das Papier und schrieb weiter.
„Nachdem wir um 1900 herum die Arbeiten von Colorado Springs in New York fortsetzten, gelang es Dr. Tesla, einen Investor für sein geplantes Weltensystem zu finden. Mit der finanzstarken Unterstützung von H. P. Morgan kehrte die Hoffnung zurück, unsere Arbeit zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Bereits 1901 begannen wir mit der Errichtung des Wardenclyffe Towers auf Long Island. Der Turm, dessen Zeichnung ich damals in Teslas besonderem Notizbuch gesehen hatte, war ein prächtiges Bauwerk von außerordentlicher Eleganz und Funktionalität und Dr. Teslas ganze Leidenschaft. Der Doktor versprach seinem Investor ein Hochleistungs-Radiosystem zur Übertragung von Ton und Bild, jedoch kannten nur Tesla und ich seine eigentliche Absicht.
Als dann aber Marconi den Wettlauf um die erste transatlantische Übertragung gewann und als Erster erfolgreich ein Signal von Cornwall nach Neufundland übermittelte, geriet Dr. Tesla unter Druck. Mr. Morgan forderte Erfolge für seine Investitionen. Unzählige Male gerieten die beiden Männer darüber in Streit und oft hörte ich ihre hitzigen Stimmen aus dem Büro dringen, während ich nebenan im Labor arbeitete. Als Mr. Morgan jedoch eines Tages herausbekam, was der Doktor mit dem Turm in Wirklichkeit vorhatte, nämlich kostenlos Energie in alle Welt zu versenden, brach er mit ihm und stieg aus dem Projekt aus. Der Weiterbau des Turmes geriet ins Stocken. Dr. Tesla versuchte zwar, Geld aufzutreiben, scheiterte am Ende aber an der Verbohrtheit der Menschen und musste sein einst so wohlwollend gemeintes Projekt schweren Herzens aufgeben. Er zog sich in sein Labor zurück und forschte im Stillen weiter. Trotz des erneuten Rückschlags gelangen ihm in den Folgejahren noch weitere bahnbrechende Erfindungen. Zum Beispiel die der schaufellosen Turbine oder der Funkfernsteuerung. Auch verlieh man ihm in allen Ehren die Edison-Medaille. Die höchste Auszeichnung neben dem Nobelpreis, den er ebenfalls erhalten sollte, ihn jedoch ablehnte weil er ihn sich mit Thomas Edison hätte teilen müssen! Doch das alles konnte nicht verhindern, dass der unvollendete Wardenclyffe Tower im Juli 1917 von Teslas Gläubigern eingerissen und verschrottet wurde. Von diesem Tag an war der Doktor nicht mehr derselbe, das konnte ich spüren. Sein Esprit, seine fabelhafte Überzeugungskraft waren erloschen wie das Licht eines Sterns, der verglüht. Der Magier der Elektrizität hatte seinen Zauber verloren. Elektrischer Strom war jetzt allerorten selbstverständlich und die Leute nicht mehr so leicht zu beeindrucken. Ein neues Zeitalter war angebrochen. Das Zeitalter der Entzauberungen und das der Weltkriege. Dr. Tesla war darüber sehr bekümmert. Stets hat er mir mit trauriger Miene gestanden, dass er den Krieg verabscheue und versuche, dagegen anzuarbeiten. Doch leider blieben seine Mühen erfolglos, und sein Ruf wandelte sich vom einst genialen Erfinder zu dem eines Wirrkopfes, dessen wunderliche Ideen man bestenfalls noch belächeln konnte.“
Philemon wischte eine Träne fort, die sich aus seinem Augenwinkel stehlen wollte. Noch heute machte ihn die Erinnerung daran unendlich traurig, aber auch wütend. Dr. Tesla hatte so viel vollbracht. So viele Wunder, von denen die Menschen da draußen nicht das Geringste wissen wollten. Verfluchte Borniertheit!
Wie von allein tasteten seine Finger in der Hosentasche nach dem Zettel. Mit zitternder Hand zog er ihn hervor und faltete ihn auseinander. Das vergilbte und zerfledderte Papier war schon ganz weich vom vielen Herumtragen und zerfiel fast unter seinem Blick. Die Schrift darauf war allerdings noch immer gut zu erkennen. Es schien fast, als wolle die Tinte das Papier mit aller Macht überdauern.
Zum vielleicht tausendsten Mal überflog Philemon die Berechnungen und Zeichnungen, die vor vielen Jahren ein Mann namens Frederick Myers angefertigt hatte. Er wusste, wie wertvoll dieses kleine Stück Papier war, dennoch hatte er sich nicht getraut, es auf ein beständigeres Medium zu übertragen, oder es jemand anderem zu zeigen. Der Zettel würde mit ihm sterben und begraben werden.
Behutsam steckte er ihn wieder in seine Tasche und setzte seinen Bericht fort. Sein Kopf war voll mit lebendig gewordenen Erinnerungen.
„Als Dr. Tesla am 7. Januar 1943 tot in seinem Hotelzimmer aufgefunden wurde, war ich untröstlich. Ein großes Licht der Welt war erloschen. Entgegen aller Rationalität hatte ich immer gehofft, dieser von Gott so gesegnete Mensch würde ewig unter uns weilen. Doch auch sein Tod brachte Tesla keine Ruhe. Die Behörden beschlagnahmten seinen gesamten Besitz und die Nachkommen stritten sich um das Erbe. Denn eines in Teslas Nachlass fehlte, und ich weiß bis heute nicht, wohin es verschwunden ist: sein Notizbuch. Er hatte es am Ende stets im Tresor in seinem Zimmer aufbewahrt, das er kaum noch verlassen hatte. Nachdem man mich mehrfach verhört und schließlich aus dem Kreis der Verdächtigen entlassen hatte, habe ich den unseligen Kampf um Teslas Vermächtnis nicht länger ertragen. Ich packte all meine Sachen, kaufte mir ein kleines Haus in Colorado Springs und kehrte nie wieder nach New York zurück. Fortan lebte ich ausschließlich in meinen Erinnerungen. Sie waren das, was mich am Leben hielt. Bis heute. Und wenn ich noch einmal die Gelegenheit bekäme, Dr. Tesla zu begegnen, würde ich ihm nur eine einzige Frage stellen:
Würde er, wenn er die Zeit zurückdrehen könnte, mit dem Wissen von heute den Menschen noch einmal seine Erfindungen zum Geschenk machen?“
Philemon zögerte. Aufgewühlt befeuchtete er seine spröden Lippen. Seine Erinnerung an den Tag, als Dr. Tesla ihn in dem Labor in der Prärie in seine Geheimnisse einweihte, stand ihm klar vor Augen. Er wollte gerade wieder den Bleistift in Bewegung setzen und jene Ereignisse beschreiben, da klopfte es verhalten an der Tür.
Philemon hob den Kopf. Draußen war es inzwischen stockdunkel; eine weitere düstere Winternacht in den Bergen. Wer um alles in der Welt kam ihn jetzt um diese späte Stunde noch besuchen? Er hatte doch kaum noch Freunde, die sich zu ihm herauf in die Hügel wagten. Nachdenklich kratzte Philemon sich am Kopf. Vielleicht hatte er sich das auch nur eingebildet. Er war ein alter Mann und seine Sinne nicht mehr ganz klar.
Doch da klopfte es erneut. Diesmal laut und mit Nachdruck.
Mürrisch erhob sich Philemon, doch viel zu schnell, und er musste einen Moment auf den Tisch gestützt innehalten, bis der Schmerz in seinen Gelenken nachließ. Erst dann war er in der Lage, mit kleinen Schritten zur Tür zu humpeln. Auf halbem Wege klopfte es erneut. Hohl hallte der Ton durch sein ganzes Haus und ließ ihn unvermittelt seine Einsamkeit spüren.
Wer zum Teufel wagte es, ihn daran zu erinnern? Er packte die Klinke und öffnete die Tür. Ein kalter Wind kam hereingefegt, kalt bis auf die Knochen. Fröstelnd zog Philemon seinen Hemdkragen zusammen und blinzelte in das Dunkel vor der Tür.
Dort stand eine Gestalt.
„Was wollen Sie?“, fragte er unwirsch. „Was stören Sie einen alten Mann um diese Zeit?“
Noch immer erhielt er keine Antwort, nur weiße Atemwolken stiegen vom Mund der Gestalt auf. Dann trat sie vor, und Licht fiel auf ihr Gesicht.
Erschrocken taumelte Philemon zurück und wäre beinahe gestürzt, doch er konnte sich gerade noch rechtzeitig an der Kommode abstützen. Schwer atmend richtete er sich auf und starrte ungläubig auf den jungen Mann vor seiner Tür. Er hatte rotes Haar und trug ungewöhnlich altmodische Kleidung.
Er sah aus wie … nein, das konnte nicht sein. Oder doch?
Philemon blinzelte.
Und dann platzte es aus ihm heraus: „Frederick Myers! Sie sind es. Tatsächlich!“
„Ja, Mr. Ailey. Ich bin es.“
„Aber warum sehen Sie so jung aus?“,
Myers zuckte mit den Schultern. „Tempora permutas nec tu mutaris in illis, vermute ich mal.“
„Die Zeiten wechselst du, doch du änderst dich nicht in ihnen“, übersetzte Philemon den lateinischen Satz. „Das ist … das ist …“ Er fand keine Worte. „Aber warum, um alles in der Welt, sind Sie hier? Und was wollen Sie von mir?“
„Ich bin hier, um den Zettel holen“, sagte Myers und streckte ihm eine Hand entgegen. „Den Zettel mit meinen Notizen …“
ENDE