44. Kapitel

31. Mai 2011
Casablanca, Marokko
9.21 Uhr

Einen Tag nachdem Ondragon und Malin auseinandergegangen waren, erhielt auch Achille endlich die Fluggenehmigung für das von Marokko besetzte Gebiet in Westsahara. Ondragon entschied, die Zelte in Casablanca abzubrechen und nach Laâyoune zu fliegen, wo sie bedeutend näher am Geschehen sein würden, für den Fall, dass Monsieur Noire auf die Idee käme, an der Küste an Land zu gehen. Er wies Achille an, das Flugzeug startklar zu machen und schmiss sich selbst in seine Ausrüstung. Bei der Rezeption bestellte er ein Großraumtaxi und mehrere Hotelangestellte zum Tragen seines umfangreichen Gepäcks.

Zwei Stunden später erreichte er, von der Rushhour ein wenig ausgebremst, den No-Customs-Flugplatz Tit-Mellil außerhalb von Casablanca. Das Gepäck wurde von einem kleinen Runway-Wagen in Empfang genommen und zusammen mit Ondragon zur Maschine gebracht, wo Achille bereits auf ihn wartete.

„Kann sofort losgehen“, sagte der Franzose. Er hatte lässig eine Zigarette im Mundwinkel hängen.

„Was ist mit den anderen Überflugsgenehmigungen?“

„Wir haben nur die für Westsahara und die Rebellengebiete.“

„Algerien?“

„Die geben zurzeit keine Genehmigungen an Privatleute raus. Wegen des Krieges in Libyen ist ihnen die Sache zu heikel. Die wollen nicht schuld daran sein, falls es Gaddafi gelänge, aus seinem Land zu fliehen. Von Mauretanien haben wir auch nichts. Aber die sind einfach nur stur.“ Achille warf die Kippe weg und trat sie mit seinem Wüstenstiefel aus.

„Gut, dann werden wir den algerischen Luftraum vorerst umgehen.“ Ondragon wuchtete seine Reisetasche ins vollbeladene Flugzeug. „Lass uns noch mal die Liste durchgehen.“ Er holte ein Klemmbrett hervor. Eine Reise in die lebensfeindlichste Wüste der Welt wollte gut vorbereitet sein.

Achille stieg ins Flugzeug zum Gepäck. „Kann losgehen!“

„GPS?“, fragte Ondragon.

„Check!“, rief Achille hinaus.

„Generator und Batterien?“

„Check!“

„Benzin, Wasser, Satellitentelefon und Toughbook?“

„Check!“

„Metalldetektor? Den hab ich besorgt, also check! Genau wie Proviant für zwei Wochen. Check. Zelt und Ausrüstung?“

„Check!“, rief Achille. „Sind an Bord sowie auch die Hardware, der Snake und die Gastgeschenke.“

„Okay.“ Ondragon hakte einen Posten nach dem anderen ab. Und nachdem sie mit der Ausrüstungsliste durch waren, folgte die fürs Flugzeug. Eine halbe Stunde später war alles überprüft, verstaut und festgezurrt, und die beiden Männer saßen angeschnallt im Cockpit. Achille übernahm die erste Schicht am Steuerknüppel. Um Punkt 12.30 Uhr hoben sie ab und der Franzose steuerte die Cessna in einem langgestreckten Bogen nach Südwest. 1200 Kilometer lagen vor ihnen und Ondragon hoffte, die Strecke in vier Stunden zu schaffen, um noch vor Sonnenuntergang an ihrem vorläufigen Ziel Laâyoune zu sein, der Hauptstadt von Westsahara.

Während Achille entlang der Küstenlinie flog, studierte Ondragon seine Aufzeichnungen über das Sator-Quadrat. Nach dem Abschied von Malin hatte er in den restlichen Stunden der Nacht und in Gemeinschaftsarbeit mit Charlize und Truthfinder alles zusammengetragen, was es darüber herauszufinden gab. Das Quadrat hatte sich dabei als eine der ältesten Zauberformeln der Welt herausgestellt und galt seit jeher als magisches Schutzamulett gegen Seuchen und anderes Unheil, es half aber angeblich auch bei der Abwehr von Bränden oder Dieben. Doch das war bloß abergläubischer Kram und brachte sie keinen Schritt weiter. Vielleicht gab es da eher eine Verbindung zu den Tempelrittern, die dieses Quadrat als geheimes Wiedererkennungsmerkmal benutzt haben sollen, nachdem ihr Orden 1312 zerschlagen worden war. Allerdings zusammengesetzt aus den Wörtern: Satan, Adama, Tabat, Amada, Natas.

Ondragon überlegte. Die Übereinstimmung der beiden Worte Rad und Sämann aus dem Bericht von Schuch und dem Sator-Spruch ließen ihn einfach nicht los. Das Rad des Sämanns. Der Schöpfer bewahrt seine Schöpfung. Das konnte kein Zufall sein. Dieses Kreuz-Tattoo von dem Unbekannten und die Einträge von Dr. Schuch! Schnell blätterte er zu der Seite, auf der er das Quadrat, das Kreuz und die acht Zahlenquadrate von Schuch nebeneinander aufgezeichnet hatte, und vertiefte sich in die Betrachtung.

Als er nach einer Stunde wieder aus seinen Gedanken auftauchte, war er nicht schlauer als zuvor. Es war wie verhext. Der Schlüssel für den Code blieb unsichtbar. Zähneknirschend schlug er auf die Seite des Notizblocks. „Scheiße, verdammte! Ich werde noch verrückt darüber!“ Er klappte die Notizen zu und starrte auf die gelbliche Küstenlinie unter ihnen. Dieses Rätsel hielt ihn zum Narren.

„Wie lange noch bis Laâyoune?“, fragte er schließlich.

„Zwei Stunden.“

„Der Typ darf uns nicht entkommen, hörst du? Sonst verschwindet das Geheimnis von Pandora mit ihm und zwar für immer!“

„Klar, Chef!“, entgegnete Achille in das Brummen des Flugzeugmotors hinein und flog in einem ruhigen Kurs weiter die Küste entlang.

Sie landeten in Laâyoune gerade noch rechtzeitig, bevor die Abenddämmerung einsetzte. Ondragon war froh, denn obwohl der Flughafen dieser Stadt mit Asphaltpiste und den modernsten Leitsystemen ausgestattet war, lag er dennoch mitten im Nirgendwo und hätte eine Nachtlandung zu einem Risiko gemacht. Aber nicht etwa wegen des regen Flugverkehrs, sondern wegen der besonders verdichteten Dunkelheit, die hier vorherrschte. Das würde später noch viel spaßiger werden, wenn sie erst mal gezwungen sein würden, auf unbefestigten Pisten runterzugehen. Aber Achille war ein erfahrener Buschpilot. Er kannte die Tücken von Sand und Fels.

Nachdem sie ausgerollt waren, fuhren sie in die ihnen zugewiesene Parkposition vor einem Wellblechhangar und machten alles bereit für die Nacht. Sie würden im Flugzeug schlafen. Bei der Art von Fracht, auf der sie saßen, war es besser, wenn man gut darauf achtgab. Nicht nur Diebe würden angesichts des reichhaltigen Arsenals an Waffen große Augen kriegen, auch allzu neugierige Wachsoldaten oder Rollfeldinspekteure. Hier war das Zeug nur sicher, wenn sie in der Nähe der Maschine blieben und abwechselnd Wache schoben.

Glücklicherweise interessierte sich nur ein einziger Wachsoldat für sie. Er kam mit einem Jeep vorbeigefahren und ging prüfend einmal ums Flugzeug. Da die Cessna eine marokkanische Kennung trug und Achille in seinem besten Maghreb-Arabisch mit ihm plauderte, war der Kerl schließlich mit ein paar Dirham-Scheinchen zufrieden und trollte sich wieder seines Weges. Als die Lichter seines Jeeps von der Finsternis der Wüstennacht verschluckt wurden, war es totenstill vor den Hangars. Mit sonderlich viel Fluglärm würden sie hier wohl nicht zu rechnen haben. Ondragon teilte Achille für die erste Wache ein und sich selbst für die frühen Morgenstunden. Er machte es sich auf dem Pilotensitz bequem, griff zum Satellitentelefon und rief Kubicki und Charlize an, um ihnen seinen neuen Standort mitzuteilen. Danach löschte er das Licht und schloss die Augen, während Achille neben ihm mit der Pistole in der Hand hinaus ins Dunkel starrte.

Noch vor dem Morgengrauen erhielt Ondragon einen Anruf von Kubicki.

„Es ist so weit. Mr. Unbekannt geht von Bord“, informierte ihn der BND-Agent.

„Wo?“, fragte Ondragon.

„Ungefähr zwanzig Seemeilen vor der Südküste von Westsahara, aber noch außerhalb der Zwölf-Meilen-Zone.“

„Haben Sie ihn im Visier?“

„Ja. Noch jedenfalls. Er fährt – vermutlich in einem Boot – in Richtung Küste. Noch ist es zu dunkel, um Genaueres zu erkennen. Uns bleiben momentan nur die Infrarotbilder.“

„Ist er es überhaupt?“

„Ich denke schon, wer sollte es denn sonst sein?“

Ondragon schwieg. Da gab es schon noch einige andere Möglichkeiten, dachte er.

„Haben Sie eine Ahnung, was er in Westsahara will?“, fragte Kubicki.

„Sagen Sie es mir“, gab Ondragon die Frage zurück.

„Ich denke, er könnte zu dem Landeplatz der Junkers in der Wüste wollen. Aus Mutmaßungen wissen wir, dass die Maschine damals dort irgendwo zwischengelandet sein soll.“

„Und woher kennt unser Unbekannter den Ort? Auch aus den Mutmaßungen? Das sind doch bloß reine Spekulationen.“

„Er hat immerhin das Logbuch.“

„Und da steht drin, wo die Junkers gelandet ist?“, fragte Ondragon, um zu sondieren, wie viel der BND über das Logbuch wusste.

„Das hoffen wir zumindest“, entgegnete Kubicki, ohne etwas davon durchsickern zu lassen. „Und deswegen müssen wir unbedingt an dem Kerl dranbleiben! Er ist unsere einzige Spur. Aber es wir schwer werden. Ich fürchte, wir werden ihn verlieren, sobald er in Dakhla oder Boujdour an Land geht und in der Stadt zwischen den Menschen untertaucht.“

„Das sollten wir auf jeden Fall verhindern und vorher zugreifen, wenn es möglich ist. Wir sind ungefähr vierzig Flugminuten von Boujdour entfernt und eineinhalb Stunden von Dakhla. Ich schlage vor, dass wir zunächst nach Dakhla fliegen, das liegt von unserem Unbekannten aus gesehen am nächsten. Falls er doch weiter im Norden an Land geht oder im Süden von Dakhla an der unbewohnten Küste, gehen wir wieder in die Luft. Alles, was ich von Ihnen brauche, ist eine genaue Angabe, wo er anlanden wird. Geben Sie mir die Koordinaten durch. Und halten Sie trotzallem den Tanker weiter unter Beobachtung. Nur für alle Fälle.“

„Alles klar“, sagte Kubicki und legte auf.

Eine halbe Stunde später wurde es am östlichen Horizont allmählich heller und die undurchdringliche Finsternis wich einem diffusen Zwielicht, in der sie gerade so eben ihre Hand erkennen konnten. Weitere fünfzehn Minuten später genehmigte der Tower ihren Start, und sie befanden sich in der Luft, als die Sonne ihre ersten Strahlen über den Horizont schickte. Achille saß am Steuer, damit Ondragon ungestört mit Kubicki kommunizieren konnte.

Noch, so dachte er, war alles im grünen Bereich, noch hatten sie alles unter Kontrolle. Doch das konnte sich schnell ändern.