49. Kapitel
02. Juni 2011
Westsahara
kurz vor Sonnenaufgang
Kaum erkennbar glitt die nächtliche Fläche der Sahara unter ihnen hinweg. Obwohl es stockdunkel war, blickte Ondragon unentwegt aus dem Seitenfenster des Cockpits. Sie waren lange vor Anbruch der Dämmerung gestartet und er konnte nur hoffen, dass sie dem satellitengestützten Auge des BND dadurch vielleicht entwischten. Er hatte ein schlechtes Gefühl in Bezug auf den BND. Irgendetwas sagte ihm, dass es besser war, ab sofort von der Bildfläche zu verschwinden und verdeckt zu agieren.
Trotz des Schlafmangels hatte Achille darauf bestanden, die imaginäre Pilotenmütze zu tragen, und steuerte die Maschine nach den Koordinatenangaben des GPS-Gerätes in Richtung Osten. Immer tiefer flogen sie in die Weite dieses schier unendlichen Sandkastens hinein. Bald würde die Sonne aufgehen und das Guelta Raa‘d in Sicht kommen. Bei dem Guelta handelte es sich um eine spezielle Art von Oase. Eine natürliche, mit Wasser gefüllte Zisterne im Fels. Es war bekannt, dass dort temporär Menschen siedelten, aber seit Jahrhunderten wurde das felsige Guelta hauptsächlich von durchziehenden Nomaden besucht. In diesem Fall vom Stamm der Sahrauis, denn sie befanden sich hinter dem Grenzwall zu den von Marokko besetzten Gebieten. Ob sich dort allerdings gerade Rebellen der Volksfront aufhielten, wusste Achille nicht, aber er war zuversichtlich, eine Konfrontation mit ihnen vermeiden zu können.
Ondragon warf einen Blick auf sein Handy. Um nicht geortet werden zu können, hatte er die SIM-Karte herausgenommen – davon abgesehen, dass sie hier sowieso keinen Empfang hatten. Die einzige Verbindung, die sie jetzt noch zur Außenwelt besaßen, war der Flugfunk, der ebenfalls abgeschaltet war, und das nichtortbare Satellitentelefon. In Gedanken checkte Ondragon noch einmal die Ausrüstung. Sie hatten genug Benzin für den Rückflug und ausreichend Wasser und Vorräte für zwei Wochen. Bevor sie in Dakhla gestartet waren, hatte er sogar daran gedacht, Charlize und seinem Mitarbeiter in Nahost Dietmar Hegenbarth Bescheid zu geben. Denn die zweite der DeForce‘schen Ermahnungen lautete: „Du brauchst nur zwei Leute. Denen aber musst du unbedingt vertrauen. Sag ihnen immer Bescheid! Das gilt besonders, wenn du in die Wüste gehst.“ Ondragon musste lächeln, weil ihm die Regeln für vorwiegend aride Einsatzgebiete noch immer so präsent waren. Dabei war es fünfzehn Jahre her, dass er für DeForce gearbeitet hatte und selbst ein Mailman gewesen war. Aber Roderick DeForce hatte sie ihm bis zum letzten Satzzeichen eingebläut. Die Wüste war ein extremer Ort, dem man extremen Respekt zollen musste – das war Regel Nummer drei!
Ondragon riss sich aus seinen Erinnerungen an DeForce Deliveries und öffnete den Notizblock. Nachdem er Achille erklärt hatte, dass natürlich nicht der ganze Turm im Frachtraum der Junkers gewesen war, sondern nur Teile davon, hatte der Franzose begriffen. Doch auch die Kuppel wäre zu groß gewesen, um sie in dem Flugzeug zu transportieren, und deshalb glaubte Ondragon, dass General Kammler und die vier Wissenschaftler nur die dazugehörigen technischen Geräte außer Landes geschafft hatten. Quasi die Eingeweide des Turmes aus Schaltkreisen und Spulen. Und der Turm in Ludwigsdorf war von Kammler aus zwei Gründen zerstört worden. Zum einen, damit er nicht den Feinden in die Hände fiel, und zum anderen, weil er wusste, dass er woanders noch einmal existierte.
Nämlich hier in der Wüste!
Das war die geheime Forschungsstation der Nazis gewesen. Ein zweiter Tesla-Turm! Das Empfangsterminal für den ersten Turm in Schlesien. Es war die Verwirklichung von Teslas Traum: Ein System, das Feie Energie und Kommunikation für jedermann garantierte. Nur dass die Nazis einen anderen Zweck damit verfolgt hatten, als der Menschheit ein Geschenk zu machen. Und auch heute noch könnte das Weltensystem einen wahren Albtraum für jeden Energiekonzern darstellen. Kein Wunder, dass man schon damals Tesla bei der Arbeit an dieser Erfindung gestoppt hatte, und warum heute die Groupe Hexagone so scharf auf diese Geräte war. Es wäre der Schlüssel für ein neues Zeitalter. Saubere Energie für null Cent! Das dürfte die Aufmerksamkeit eines jeden Energielieferanten erregen. Nur eben nicht im positiven Sinne. Das Geschäft mit Energie war schmutzig und das sollte es auch bleiben, denn schmutzig brachte mehr Geld. Hexagone würde den Schlüssel für eine bessere Zukunft fest wegschließen oder gar vollständig zerstören, damit er niemals in die Hände von jemandem geriet, der mit ihm etwas Gutes anzufangen wusste. Das Gleiche galt für den BND. Es war offensichtlich, was der deutsche Geheimdienst mit der Erfindung von Tesla vorhatte. Er wollte das fortführen, was den Nazis damals misslungen war. Nur mit welchem Ziel? Für Ondragon stand fest, dass es nichts Gutes sein konnte. Schließlich hegten Geheimdienste fast nie hehre Absichten. Das waren Organisationen, deren tägliches Brot Lug und Betrug waren.
Er schlug den Notizblock zu. Er wusste, dass er sich noch für eine Seite würde entscheiden müssen, wenn er das Ding gefunden und seinen Widersacher ausgeschaltet hatte. Er sah nach draußen, wo im ersten Licht des Tages dunkle Felsformationen im Sand auftauchten. Dort musste sich das Guelta Raa‘d verbergen. Die höchste Erhebung des Landes war gerade mal 700 Meter hoch und die paar Felsen unter ihnen ein Witz. Nur landen konnten sie zwischen ihnen nicht, deshalb mussten sie erst eine geeignete Piste finden. Neben ihm blickte Achille immer abwechselnd vom GPS zum Kompass und zum Seitenfenster hinaus.
„Wir sind gleich da!“, sagte er über Kopfhörer und Ondragon nickte.
Wenig später überflogen sie das Guelta und zogen mehrere Kreise darüber, um die Umgebung zu begutachten. Einige Lehmhütten und Zelte standen dort unten, sogar ein paar hartgesottene Bäume. Unzählige Dromedare und Ziegen drängten sich um das Wasserloch, das wie ein schwarzes Auge in den Himmel starrte. Eine Handvoll Menschen bemerkte das Flugzeug und schaute zu ihnen hoch. Sahraui-Rebellen? Einige winkten. Niemand schoss auf sie. Die Oase schien ein friedlicher Ort zu ein. Sie drehten ab und überflogen den Bergrücken, hinter dem sich ein weites Sandbecken auftat. Majestätische Dünen wogten darin wie auf einem gelben Meer.
„Sechs Kilometer bis zum Zielpunkt und von dort aus sind es nur noch fünfzehn bis zur Grenze nach Mauretanien.“
„Ups, dann sollten wir zusehen, dass wir nicht zu weit darüber hinausschießen. Könnte sonst ungemütlich werden.“
„Allerdings. Mit den Sahrauis komme ich bestens klar, aber mit den Tuareg ist nicht gut Kirschen essen“
„Scheint ja eine explosive Gegend zu sein.“
Der Franzose nickte und überflog die Dünen, von denen sich einige an die zweihundert Meter auftürmten und harmonische Wellenmuster bildeten.
„Dort drüben muss es sein.“ Achille drosselte die Geschwindigkeit und zeigte nach unten.
„Da?“, fragte Ondragon ungläubig. „Aber da ist nichts!“
„Sacre bleu … ich weiß auch nicht, aber das GPS sagt uns, dass wir am Ziel sind.“
„Na, toll! Und landen kann man hier auch nicht!“ Ondragon starrte auf die Sandberge unter ihnen.
„Vielleicht ist der Turm von den Dünen verschluckt worden“, schlug Achille vor.
„Oder die Koordinaten sind falsch!“
„Dort drüben sehe ich eine ebene Fläche, auf der wir landen könnten.“ Achille wies auf ein größeres Stück dünenfreies Areal.
„Merk dir die Stelle“, erwiderte Ondragon „Vorher fliegen wir noch ein paar Runden um den Zielpunkt herum, vielleicht finden wir ja woanders was.“
„Roger.“ Achille legte die Cessna in eine sanfte Kurve, und sie flogen mehrere Schleifen über dem Dünenmeer. Doch nichts fiel ihnen ins Auge. Keine Unregelmäßigkeiten in der natürlichen Regelmäßigkeit der Dünen. Keine Überreste von Gebäuden oder anderen Zeugnissen menschlicher Anwesenheit, nicht einmal Fährten von Tieren gab es hier. Die Wüste war wüst und leer. Ihr das Geheimnis zu entreißen, würde schwerer werden als gedacht.
Fünfzehn Minuten später sah Ondragon ein, dass es keinen Sinn hatte, weiter zu kreisen. Sie würden an der Stelle landen, die Achille für sie auserkoren hatte und dort ihr Lager aufschlagen. Dank der Lufterkundung wussten sie jetzt zumindest, dass sich weit und breit keine Menschenseele aufhielt. Und falls dort unten tatsächlich ein Schatz verborgen war, so hatten sie ihn ganz für sich allein.
Nachdem Achille den Vogel sanft wie eine Feder aufgesetzt und unvermittelt rüde abgebremst hatte, weil die Piste recht kurz war, stellte der Franzose den Motor ab, und der Propeller kam mit einem Stottern zum Stehen. Sofort drang die Stille der Wüste auf sie ein. Nur das Knacken der erhitzten Maschine und das Säuseln des ewigen Windes waren zu hören. Im Schutz des Cockpits blickte Ondragon hinaus auf die Dünen, die sich, nun da sie sie aus der Froschperspektive betrachteten, wie scharfkantige Scherenschnitte in den Himmel erhoben. Nachdenklich knabberte er an seiner trockenen Unterlippe. Allein der Anblick der Sandberge versetzte seinen Körper in einen Durstzustand. Doch Ondragon wusste sich zu beherrschen, schließlich war die Wüste nach der zubetonierten Ödnis der Stadt sein zweitliebstes Arbeitsterrain.
Er wechselte einen Blick mit Achille und sie stiegen aus. Im Schatten der Flugzeugflügel betrachteten sie ihre Umgebung und machten sich schließlich daran, ihr Lager aufzuschlagen.
Das Zelt, oder vielmehr ein zweckmäßiger Unterschlupf aus leichten Baumwollbahnen, stand bereits nach wenigen Minuten. Zufrieden bemerkte Ondragon, dass bei Achille jeder Handgriff saß. Der Mann war es ebenso gewohnt, in der Wüste zu campieren, wie er. Ondragon streckte den Rücken und sog die heiße Luft durch die Nase ein. Vierzig Grad im Schatten und ein Wind wie aus dem Heißluftgebläse. Konnte es besseres Wetter geben?
Als nächstes verstauten sie die Hälfte ihrer Vorräte und der Ausrüstung im Zelt. Der Rest blieb im Flugzeug für den Fall, dass sie alles stehen und liegen lassen und abhauen mussten. Zum Schluss bauten sie gemeinsam den Snake-Scooter zusammen. Das war ein Ultraleicht-Buggy mit Solarantrieb, den Ondragon vor einigen Jahren als Fehlkonstruktion von der NASA gekauft hatte. Das Gefährt war untauglich für den Mond – da zu leicht –, aber in der Wüste Gold wert. Als Kamel-Ersatz würde es ihnen gute Dienste leisten.
Ondragon ließ es sich nicht nehmen, eine erste Probefahrt mit dem Snake zu machen. Er fuhr auf die nächstgelegene Düne und hielt dort auf dem Kamm an, um mit dem Fernglas die Umgebung abzusuchen. Im Osten und Süden lag eine weite freie Fläche; ein beruhigendes, flaches Nichts, auf dem ein nahender Feind sofort erkennbar sein würde. Anders dagegen verhielt es sich im Westen und Norden. Dort erhoben sich die Buckel der Dünen und dahinter die dunklen Felsen des Gueltas. Dort war Wasser, dort waren Menschen. Ein Feind würde mit großer Sicherheit aus dieser Richtung kommen. Ondragon stieg wieder in den Snake und fuhr zurück zu Achille, der inzwischen eine kleine Mahlzeit zubereitet hatte.
„Was gibt‘s zu sehen?“, fragte er, nachdem sich Ondragon ein Sandwich genommen und herzhaft hineingebissen hatte.
„Sand“, antwortete er mit vollem Mund. Einige Körnchen knirschten zwischen seinen Zähnen. Schon jetzt war der Sand überall. Spätestens in einer Stunde wäre er an den unmöglichsten Orten. Aus diesem Grund hatte Achille die Motorhaube und den Propeller der Cessna mit einer gewachsten Leinwand abgedeckt. Zum Schutz vor dem unvermeidlichen Sand, der sich stetig und rieselnd seinen Weg suchte.
Nachdem Ondragon sich gestärkt hatte, schilderte er Achille die Situation. Sie würden im Zwei-Schichten-System arbeiten. Einer hielt Ausschau und der andere ging auf die Suche nach dem Turm. Nachts das Gleiche. Über Funkgeräte würden sie miteinander Kontakt halten.
Ondragon wollte sich als Erster auf den Weg machen. Er nahm die Karte, das GPS und genug Wasser mit sich. Den Metalldetektor befestigte er so am Snake, dass er ihm beim Fahren anzeigte, ob sich etwas im Untergrund befand. Wenn der Turm nach dem Vorbild von Teslas Wardenclyffe Tower erbaut worden war, maß er mindestens 45 Meter. Vielleicht guckte er ja an einer Stelle aus dem Sand, die sie vom Flugzeug aus nicht gesehen hatten.
„Meinst du, er steht überhaupt noch, der Turm?“, gab Achille zu bedenken.
„Das hoffe ich. Denn sonst werden wir hier noch suchen, während die Menschen längst auf dem Mars siedeln!“
Achille lächelte schief.
„Na, dann. Bonne chance!“
„Merci.“ Ondragon setzte sich in den Snake, schob sich den Stoff des Turbans vor das Gesicht und fuhr winkend los.