58. Kapitel
02. Juni 2011
in der Wüste
am Abend
„Das sind tatsächlich Ebäydäg!“, rief Malin aufgeregt aus. „Eine ganze Herde davon. Wow! Wo hast du sie gesehen?“
Ondragon gab ihr die Koordinaten.
„Wann war das?“
„Heute Vormittag.“
„Heute?“ Malin sprang auf. „Dann nichts wie los!“
Er sah sie verwundert an. „Aber die Sonne geht doch gleich unter. Im Dunklen finden wir die Viecher nie.“
„Oh doch, das tun wir. Sogar besser als bei Tageslicht.“
Jetzt erhob sich auch Ondragon. „Aha, und wie, wenn ich fragen darf?“
„Wir haben eine Infrarot-Kamera an Bord. Damit spüren wir sie auf.“
Natürlich, dachte Ondragon, mit Hilfe einer solchen Kamera machte man Wärmequellen ausfindig. Wärme, die jedes Lebewesen abgab. Abgebildet wurde das als roter Fleck auf einem blauen Hintergrund. So hatten sie auch Monsieur Noire über Satellit überwacht. Und vielleicht ließ sich auf diese Weise auch noch etwas anderes orten. Eine große, von der Sonne aufgeheizte Metallkuppel, die sich unter dem Sand verbarg. Das funktionierte allerdings nur, wenn die Sandschicht darüber nicht allzu dick war. Es war eine Möglichkeit, er musste es versuchen!
„In der Nacht kühlt sich die Umgebungstemperatur so weit ab, dass sie die Körperwärme der Tiere nicht mehr überschreitet“, erklärte Malin weiter. „Dann sind die Tiere wieder wärmer als Sand und Luft.“
„Aha. Und bei Tag sucht ihr die Wüste mit dem Auge ab?“, fragte Ondragon, ohne ihr zu erkennen zu geben, dass er wusste, wie die Infrarot-Ortung funktionierte.
„Ja. Aber ich will damit nicht bis morgen warten. Dromedare können weit wandern, weißt du. Und womöglich haben sie sich schon mehrere Duzend Kilometer von der Stelle entfernt. Wir sollten also keine Zeit verlieren!“ Sie drehte sich um und ging zum Zeltausgang.
Meine Rede!, dachte Ondragon und folgte ihr. Draußen sah er, dass die Dämmerung bereits eingesetzt hatte.
„Pelle, mach den Flieger startklar! Wir gehen sofort hoch!“, rief Malin dem jungen Piloten zu, der noch immer an derselben Stelle stand und Achille anstierte wie eine Maus die Kobra. Als er seine Chefin sah, löste sich Luke erleichtert aus seiner Angststarre und lief zu der Grand Caravan hinüber.
„Äh, ich hätte da noch eine kleine Frage“, sagte Ondragon mit leichtem Unbehagen „Wie wollen wir denn im Dunkeln landen? In der Nacht finden wir die Piste doch nie wieder.“
„Kein Problem“, entgegnete Malin unbekümmert. „Wir markieren sie mit den elektrischen Leuchtfeuern, die wir dabeihaben. Außerdem kann Pelle überall und jederzeit landen!“
Na, wenn sie das sagte. Ondragon ging mit ihr und Achille zu der großen Cessna und half Pelle beim Ausladen der Ausrüstung. In kürzester Zeit hatten sie das Zelt der beiden Schweden aufgestellt und die Piste mit den Lampen abgesteckt.
Zu dritt bestiegen sie wenig später das Flugzeug. Achille blieb zurück, um auf das Camp Acht zu geben und später zu kontrollieren, ob die Leuchtfeuer auch funktionierten.
Pelle gab Gas und ohne die schwere Ladung stieg die Grand Caravan schnell in den violetten Himmel auf, der so klar war, dass man hundert Kilometer weit blicken konnte. Die ersten Sterne waren schon am östlichen Horizont zu erkennen und im schwindenden Licht verschwammen die scharfen Linien der Dünen zu einem samtigen Faltenwurf.
Derweil erklärte Malin, dass sich das Gewicht der Maschine noch stark ändern würde, wenn sie erst das Dromedar mit bis zu 600 Kilo an Bord hätten. Ondragon tat das Vieh jetzt schon leid, obwohl Malin ihm versicherte, dass es in seinem betäubten Zustand von alldem eh nichts mitbekäme. Na, dann …
Sie flogen ein paar weite Schleifen über der Wüste, bis die Sonne endlich fort war und die Nacht über das Sandmeer gekrochen kam. Bald war alles in dunkelbaue Tinte getaucht.
„Seid ihr bereit für die Jagd?“, fragte Malin voll freudiger Erwartung. Es schien ihr ritueller Kampfspruch zu sein.
„Bereit!“, rief Ondragon in das Mikro des Bordfunks, an den sie alle angeschlossen waren. Da Malin vorne auf dem Sitz des Co-Piloten saß und die Übertragung der Infrarot-Kamera im Auge behielt, hatte er hinten im Laderaum auf einem Jumpseat Platz nehmen müssen. Er blickte nach draußen in die Nacht. Irgendwo dort unten lag die dunkle Masse der Berge und hüllte sich in Geheimnisse. Hockte Monsieur Noire ebenfalls dort und schaute zu ihnen hinauf? Hatte er den Schatz bereits gefunden? Würde es gefährlich sein, noch einmal über die Berge zu fliegen? All diese Fragen gingen ihm durch den Kopf, als sie in völliger Dunkelheit über die Dünen hinwegglitten. Pelle war jetzt allein auf die Instrumente angewiesen, schien sie aber gut im Griff zu haben. Allmählich näherten sie sich dem Koordinatenpunkt, an dem Ondragon die Dromedare gesehen hatte. Noch blieb der Bildschirm der Infrarot-Kamera dunkel.
„Wir werden jetzt beginnen zu kreisen und die Herde damit hoffentlich aufstöbern“, erklärte Malin und auf ihr Kommando hin drehte Pelle den Steuerknüppel. Die Grand Caravan legte sich behäbig in eine Kurve. Ondragon spähte nach vorn auf den Bildschirm. Er kam sich vor wie in dem Film „Das Boot“, in dem alle angespannt auf das Ping des feindlichen Sonars warteten. Und dann kam es plötzlich. Das Ping. In Form eines roten Punktes.
„Wir haben was!“, rief Malin aufgeregt. „Das könnten sie sein.“ Sie gab Pelle einige schnelle Anweisungen und der Pilot drehte ab, um die Stelle erneut zu überfliegen. Seine Kreise wurden kleiner und wieder tauchten rote Punkte auf.
„Eindeutig! Dort unten sind Tiere! Engere Kreise, Pelle“, befahl Malin.
Vielleicht waren es aber auch Menschen, Automotoren oder Stromgeneratoren, dachte Ondragon. Wie konnten sich die beiden da so sicher sein, dass es Dromedare waren?
Malin öffnete eine kleine Schiebeöffnung im Seitenfester. Frische Luft drang ins Innere des Flugzeugs und kurzfristig wurde es noch lauter. Ondragon sah, wie die Schwedin das Gewehr aufnahm und den Lauf durch die Öffnung schob.
„Das ist ein Luftdruckbetäubungsgewehr“, rief sie. „Ich werde damit jetzt einige Mikrosender in die Herde schießen. Die Tiere stehen jetzt schön dicht beisammen und bilden ein einziges großes Ziel. Mit Sicherheit werde ich eines treffen und dann können wir die Herde morgen bei Tageslicht mit dem Peilsender suchen.“
Ondragon war über diesen Plan nicht verwundert; schließlich war nicht anzunehmen gewesen, dass sie das Dromedar bei Nacht ins Flugzeug beamen würden. Gespannt beobachtete er, wie Malin scheinbar auf gut Glück mehrmals in die Nacht hinaus feuerte. Er sah, wie sich auf dem Bildschirm einige rote Punkte aus dem großen Fleck lösten und sich von ihm wegbewegten. Dann blieben sie stehen.
„Das zeigt, dass ich mindestens ein Tier erwischt habe“, sagte Malin. Sie packte das Gewehr zur Seite und schloss die Schiebeöffnung. „Wenn sie getroffen werden, erschrecken sie sich und laufen von den anderen fort.“
Ondragon war sich noch immer nicht ganz sicher, ob diese Jagdmethode den internationalen Tierschutzbestimmungen entsprach, freute sich aber für Malin, da sie ganz in ihrem Jagdfieber aufzugehen schien. Natürlich wusste auch er, wie es sich anfühlte, so kurz vor dem Ziel zu sein.
Pelle Knatte schwenkte mit der Grand Caravan ab und sie überließen die Dromedare wieder sich selbst.
„Und wo sollen wir jetzt für Sie suchen, Mr. Ondragon?“, fragte Malin gutgelaunt über Funk.
„Wenn wir parallel zu dem Bergzug fliegen könnten, wäre das ganz toll.“
„Nur toll oder großartig?“, erkundigte sie sich und drehte sich zu ihm um. Im schwachen Licht der Fluginstrumente glänzten ihre Augen spitzbübisch.
Ondragon lächelte und wies Pelle an, parallel zu den Bergrücken zu fliegen. Doch es tauchte kein roter oder vielleicht auch nur gelber Punkt auf dem Monitor auf, und am Ende der Berge ließ Ondragon Pelle die Maschine wenden, um 500 Meter versetzt zum vorherigen Kurs zurückzufliegen.
Doch der Monitor blieb dunkel.
Ondragon geriet ins Grübeln. War die Kuppel unter dem Sand schon zu kalt geworden für die Infrarot-Erfassung? Hatten sie zu viel Zeit damit vertrödelt, diese Scheißdromedare zu suchen? Oder – und das war der schlimmere Gedanke – gab es den Turm dort unten gar nicht?
Mit jeder erfolglosen Schleife, die sie flogen, spürte Ondragon, wie seine Motivation dem Nullpunkt entgegensackte. Ohne dass er etwas dagegen tun konnte, überkam ihn eine dumpfe Resignation. Es war sinnlos, dachte er. Alles, was sie hier taten, war vollkommen sinnlos. Sie würden den Turm niemals finden. Er lehnte sich vor und wollte Malin zu verstehen geben, dass sie abdrehen konnten, da wandte sie sich zu ihm um und sagte: „Da ist etwas!“
Angestrengt blickte Ondragon auf den Bildschirm, konnte aber nur eine diffuse Wolke aus etwas hellerem Blau erkennen, die sich von dem dunklen Hintergrund abhob. Im nächsten Moment war sie verschwunden, weil das Flugzeug darüber hinweg war.
„Ich würde das gern noch mal sehen“, sagte Ondragon. „Können wir noch eine Runde fliegen?“
Pelle nickte, und als wenige Minuten darauf die kaum wahrnehmbare Wolke erneut auf dem Bildschirm erschien, beugte sich Malin vor und legte ihre Fingerspitzen darauf, so als könne sie die verborgene Wärmequelle dadurch besser erfühlen. „Hm, da ist etwas. Es sendet nur ganz minimal Wärme aus.“
„Könnte es das sein, wonach ich suche“, fragte Ondragon unverfänglich, doch sein Inneres bebte vor Anspannung.
„Schon möglich. Es könnte aber auch sein, dass die Beschaffenheit des Sandes dort eine andere ist und dadurch mehr Wärme speichert.“
Egal, dachte Ondragon, es war der einzige Anhaltspunkt. „Schnell, die Koordinaten“, verlangte er und tippte mit nervösen Fingern die Zahlen in das GPS ein, die Pelle ihm nannte. Das Ergebnis war eindeutig; wenn das dort unten tatsächlich die Kuppel des Turmes sein sollte, dann hatte Schuch sich in seinen Aufzeichnungen mächtig vertan und sie folglich an der falschen Stelle gesucht. Der Turm stand wesentlich näher bei den Bergen.
„Okay“, sagte er zu Malin. „Das sollte reichen. Wir können zum Camp zurückfliegen.“ Ondragon schaltete das GPS aus und konnte es kaum bis zur Landung abwarten. Waren sie ihrem Ziel nahe? Oder würden sie wieder nur erfolglos im Sand herumstochern?