9. Kapitel
21. Mai 2011
Fortaleza, Brasilien
17.00
Uhr
„Das ist ja mal interessant!“, sagte Ondragon leise vor sich hin.
„Wie bitte?“, tönte Ritters Stimme in seinem Ohr.
„Ach, ich habe gerade Ihren Rat befolgt und das Lexikon zu Nikola Tesla befragt. Der Knabe hatte ja ganz schön was auf dem Kasten.“ Und das war noch eine Untertreibung, fand er. Wie konnte es sein, dass er zuvor noch nichts über diesen Mann gehört hatte, wenn doch so viele großartige Erfindungen auf sein Konto gingen? Das konnte doch nicht nur an seinem mangelnden Interesse für Physik liegen, das er schon in der Schule an den Tag gelegt hatte.
„Und? Sind Sie jetzt schlauer?“, witzelte Ritter.
Und ob, dachte er. Nur der Zusammenhang zwischen der Edison-Medaille von Tesla und dem Nazi-Flugzeug war ihm noch nicht klar. Dafür würde er wohl noch tiefer graben müssen. Dass Nikola Tesla ein Genie war, blieb allerdings unbestritten. In seinen insgesamt 87 Lebensjahren hatte er über 700 Patente zur Anmeldung gebracht, darunter solch bahnbrechende Erfindungen wie den Drehstrommotor, die Neonröhre, die Fernsteuerung, das Radio und sogar die Röntgenstrahlen. Doch Tesla wurde auch das betrogene und vergessene Genie genannt, und das war vielleicht auch einer der Gründe, warum er für die Allgemeinheit heute so unbekannt war. Einige Wissenschaftler und Erfinder seiner Zeit hatten Teslas Ideen gestohlen, sie „weiterentwickelt“ und dafür die Lorbeeren kassiert. So wie der Italiener Guglielmo Marconi, der die Erfindung des Radios 1901 basierend auf Teslas Patenten als seine eigene deklariert hatte. Erst kurz nach Teslas Tod war Marconi die ihm fälschlich zugesprochene Erfindung des Radios durch den obersten Gerichtshof von Amerika wieder aberkannt und auf Tesla als alleinigen Erfinder der drahtlosen Telegrafie übertragen worden. Wie in so vielen Fällen hatte die Gerechtigkeit auch hier leider zu spät gesiegt. Das war symptomatisch für Teslas gesamtes Leben, besonders für seine späten Jahre. Der serbische Erfinder war seiner Zeit weit voraus gewesen und hatte mit außerordentlich fortschrittlichen Gedanken aufgewartet. Ihretwegen war er oft als Träumer und Fantast verspottet worden. Er starb 1943 arm und einsam in einem Hotelzimmer in Manhattan. Ein tragisches Ende für einen Mann, mit dessen Erfindungen noch heute Milliarden von Dollar verdient wurden. Das Interessanteste an der ganzen Geschichte um diesen Magier der Elektrizität war jedoch, dass das FBI kurz nach seinem Tod die Privaträume und das Labor durchsucht und sämtliche Unterlagen und Gerätschaften konfisziert hatte. Erst Jahre später waren die Sachen wieder herausgegeben worden. Was hatte das FBI bei dem kauzigen Wissenschaftler zu finden erhofft? Und was hatte es vielleicht sogar gefunden? Noch heute beschäftigen sich eine Menge Leute mit dieser Frage. Tesla-Forscher, Esoteriker, Ufologen, Verschwörungstheoretiker, Anhänger der Nullpunktenergie, sogar namhafte Physiker, die mit Teslas Arbeiten Einsteins Relativitätstheorie wiederlegen wollten. Der Geist des Genies Nikola Tesla schien noch immer eine magische Anziehungskraft auf die Menschen auszuüben. Und Ondragon musste zugeben, dass es ihm jetzt, da er mehr über diesen Mann erfahren hatte, nicht anders erging.
„Warum wissen Sie eigentlich so gut über Tesla Bescheid?“, fragte er die Agentin.
„Das gehört zur Allgemeinbildung!“ Mehr kam nicht von Ritter.
Ondragon schwieg. Konnte es sein, dass es hier um etwas ganz anderes ging, als die missglückte Flucht irgendwelcher Nazi-Offiziere nach Südamerika? Einer Eingebung folgend tippte er „Edison-Medaille“ und „Tesla“ ins Suchfeld ein. Leider bekam er nicht viele Treffer. Einige Bilder der Medaille, Originalaufnahmen von der Urkunde der AIEE, die Tesla 1917 überreicht worden war, und eine Abschrift seiner Rede bei der Preisverleihung. Nikola Tesla hatte die hochdotierte Auszeichnung für seine frühen Arbeiten im Bereich Mehrphasen- und Hochfrequenzströme verliehen bekommen. War es das? Ging es bei der ganzen Sache um Strom? Hochfrequenz-Strom? Wohl eher nicht, dachte Ondragon, denn das war ja heute nichts weltbewegend Neues mehr. Aber was war es dann?
„Feierabend!“, hörte er plötzlich Charlizes Stimme. „Ich komme jetzt raus. Wird auch höchste Zeit, hier drinnen stinkt es wie in einem Seemannsgrab!“
„Tanaka, sofort bei Position 1 melden!“, ordnete Ritter an.
„Ja, ja, bloß keinen Stress. Ich lasse erst einmal alle anderen abhauen, dann fahrt ihr mal schön um die Ecke und ich komme zu euch.“
„Steiner wird Sie überwachen!“
„Schon klar“, entgegnete Charlize mit ironischem Unterton. „Mann, seid ihr paranoid!“
„Ich darf doch wohl um mehr Disziplin bitten!“, empörte sich Ritter.
„Ich halt ja schon den Mund. Bis gleich. Zur Tarnung ziehe ich erst noch eine durch.“
Ondragon packte seine Sachen und machte sich unauffällig auf den Weg zur Straßenecke, von der aus er Charlize und den Van gut im Blick hatte. Der Van war inzwischen eine Straße weitergefahren, so dass man ihn vom Tor aus nicht mehr sehen konnte. Ondragon beobachtete, wie seine Assistentin auf dem Bürgersteig stand, eine Zigarette anzündete und sich von den Mitarbeitern des Untersuchungsteams verabschiedete. Diese boten ihr an, sie in einem Taxi mitzunehmen, was Charlize höflich ablehnte. Nachdem die drei Wissenschaftler endlich weg waren, schnippte sie den Glimmstängel fort und ging in Richtung Van davon. Einige Schritte hinter ihr folgte wie zufällig Steiner.
Die Deutschen gingen aber wirklich auf Nummer sicher, dachte Ondragon. Wovor hatten die solche Angst? Dass Charlize auf dem kurzen Weg vom Haupteingang bis zum Van geheime Informationen an Dritte weitergab? Lächerlich!
Charlize erreichte den Van in der Seitenstraße und stieg durch die Schiebetür ein. Über Funk bekam Ondragon mit, wie sie von Ritter befragt wurde. Mittendrin wurde die Übertragung schließlich unterbrochen und er hörte nichts mehr. Ritter hatte die Mikros deaktiviert, die Operation war für heute beendet.
Wenig später verließ Charlize den Van und telefonierte kurz mit ihrem Handy. Der Van fuhr davon und ein Taxi kam, in das seine Assistentin einstieg. Zu Fuß folgte Ondragon dem Wagen, denn er wusste ja, wo er hinfuhr. Vor Charlizes Appartementhaus nahm er sich in der Ecke bei den Mülltonnen das Mikro und die Mütze ab und verwandelte sich von einem Strandpenner zurück in den Touristen. Danach betrat er das Gebäude und fuhr hinauf in den fünften Stock.
„Nette Aussicht“, sagte er, als er auf den Balkon von Charlizes Zimmer hinaustrat. Unter ihm leuchtete das Meer im kupferfarbenen Licht der Abendsonne.
„Oh, Mann“, seufzte Charlize hinter seinem Rücken und kam mit zwei Flaschen kaltem Bier zu ihm hinaus. „Ich muss gleich erst mal unter die Dusche, mir den Gestank abwaschen. Das ist echt grauenvoll!“
Ondragon rümpfte die Nase. „Au de corpse – nicht gerade antörnend.“
Charlize knuffte ihn in die Seite. „Das ist nicht lustig. Da drinnen liegen Teile von zirka 40 Leichen. Genau weiß man es noch nicht. Es ist nicht viel übrig nach zwei Jahren im Meer. Nur die, die vom Schlamm bedeckt waren, sind … brrrr!“ Charlize schüttelte sich. „Die Forensiker sind dabei, DNA-Vergleiche zu machen. Muss schrecklich für die Angehörigen sein, nur noch einen Arm oder ein Bein beerdigen zu können.“
„Immerhin etwas.“
„Ja, stimmt.“ Sie nahm einen langen Schluck aus der Flasche. „Ich hab was für dich“, sagte sie danach, „das könnte uns mehr über die Paranoia der Doistu-jin verraten. In der Nachmittagspause habe ich Dr. Lima gefragt, was er von dem Inhalt der Kiste hält. Er sagte, dass er sehr aufschlussreich sei und im Zusammenhang mit dem Flugzeugtyp einen äußerst spannenden geschichtlichen Zusammenhang herstelle, der nicht nur für die Deutschen interessant sei.“
„Und welchen?“
„Das konnte er mir leider nicht verraten. Ich hätte zwar die Verschwiegenheitserklärung unterzeichnet, besäße aber noch nicht die nötige Sicherheitsstufe.“
„Na toll! Dann sind wir jetzt genauso schlau wie vorher.“
„Nein, ein wenig schlauer. Denn ich weiß, um welchen Flugzeugtyp es sich handelt.“
„So?“ Ondragon trank die Flasche aus.
„Es ist eine Junkers 390.“
„Und was soll mir das sagen?“
„Das kannst du ja herausfinden, während ich dusche. Hast du übrigens die Screenshots von der Kiste an die Mail-Adresse übermittelt, die ich dir gegeben habe?“
„Na klar.“
„Gut, dann läuft die Sache ja. Was hältst du übrigens davon, dass plötzlich die Kamera ausgefallen ist?“, fragte Charlize. „Kommt dir das nicht auch verdächtig vor?“
„Ja, darüber habe ich auch schon nachgedacht“, sagte Ondragon. „Warum fällt das Ding genau in dem Moment aus, als es um die Einträge in dem Logbuch geht? Das erweckt für mich den Anschein, als wollte der BND verhindern, dass jemand etwas davon sieht.“
„Nicht jemand. Du! Die Doitsu-jin wollen verhindern, dass du es siehst!“
Ondragon sah Charlize fragend an.
„Na, bei mir können sie ganz beruhigt sein, ich verstehe kein Deutsch“, erklärte sie. „Bei dir ist das was anderes. Sie wissen zwar, dass du eine ausgewachsene Bücherphobie hast, aber ganz so sicher waren sie sich dann anscheinend doch nicht. Hätte ja sein können, dass du trotzdem genauer hinsiehst. Deshalb haben sie die Übertragung vorsichtshalber abgeschaltet. Ich wette drauf.“
„Und die haben im Van fröhlich weitergeguckt.“
„Aber sowas von.“
„Charlize, du hast recht. Diese Geheimniskrämerei ist verdächtig. Sie vertrauen mir nicht! Nur, warum haben sie mich dann engagiert, wenn sie mich nicht als hinreichend integer befinden?“ Er sah seine Assistentin an, weil er es insgeheim wusste. „Tu mir einen Gefallen, Charlize! Bevor du in ihrem Auftrag die Fotos der Untersuchung vom Computer im Labor löschst, zieh bitte eine Kopie für mich, ja?“
„Aber wir haben dann doch das Original.“
Ondragon stieß belustigt Luft aus. „Das Ding fasse ich nicht mal mit ‘ner Kneifzange an! Es ist immer noch ein verdammtes Buch, hast du das vergessen? Außerdem glaubst du doch wohl nicht, dass der BND uns auch nur für eine Sekunde gestatten wird, darin rumzublättern. Die Übergabe findet unmittelbar nach Abschluss der Operation statt.“
Charlize legte ihm eine Hand auf den Unterarm. „Keine Sorge, Chef, ich beschaff dir die Bilder. Und jetzt schau mal schön nach, was es mit der Junkers 390 auf sich hat. Bis gleich.“ Sie stellte die leere Bierflasche auf den Tisch und verschwand im Bad. Ondragon holte das Netbook aus dem Rucksack und wollte es anschalten, doch dann überlegte er es sich anders. Die Rechner waren bestimmt so konfiguriert worden, dass jede Aktion, die man damit ausführte, zurückverfolgt werden konnte, also auch seine Surfaktivität im Netz. Charlize hatte den richtigen Riecher, da war er sicher. Der Ausfall der Kamera war kein Zufall. Er konnte Ritter und Steiner nicht trauen.
Über sein Handy loggte er sich in eine sichere Internetverbindung ein. Für die JU 390 gab es mehrere Einträge, die meisten auf Deutsch. Nun verstand Ondragon auch, warum Charlize ihm die Aufgabe zugeteilt hatte. Sie hatte die Sache vorab gecheckt, aber feststellen müssen, dass sie ohne Deutsch nicht weiterkam. Clevere Charlize.
Als er fertig mit lesen war, zückte er seinen Notizblock und trug die gesammelten Fakten ein:
Junkers 390 – auch „Das Geisterflugzeug“ genannt:
– geplant von den Nazis als Fernaufklärer und Transportflugzeug mit einer Reichweite von bis zu 8.000 km
– Maschine war bestückt mit sechs Propellermotoren zu je 1750 PS, Höchstgeschwindigkeit beladen 450 km/h, unbeladen 505 km/h
– Besatzung 8-10
– max. Startgewicht angeblich 75,5 Tonnen, davon 8 Tonnen Nutzlast (Anmerkung: also Bombe oder ähnliches)
– Länge 32,60 m, Spannweite 50,32 m, Höhe 6,89 m
– Sollte ab 1943 in Serie produziert werden, es wurden aber nur zwei Prototypen gebaut, die Version I und Version II. Eine davon zündeten die Deutschen vor Kriegsende selbst an, damit sie nicht den Amerikanern in die Hände fällt. Die zweite Maschine gilt als verschollen (könnte die vor Brasilien abgestürzte Maschine sein)
Gerücht Nr. 1: das Flugzeug sollte mit einer Atombombe an Bord bis nach New York fliegen (mit einem Zwischentankstopp wäre also auch Südamerika als Ziel möglich, natürlich ohne Bombe an Bord)
Gerücht Nr. 2: Die Version II soll im März 1945 einen Testflug nach Japan unternommen haben, es gibt dafür aber keine Bestätigung, weder von den Deutschen noch von den Japanern
Gerücht Nr. 3: Bei einer Flucht ranghoher Nazi-Offiziere mit Zwischenlandung in ehemals Spanisch-Sahara sollen an Bord angeblich mehrere Wissenschaftler und technische Gerätschaften gewesen sein, darunter auch das geheime Flugobjekt „Die Glocke“. Das Projekt stand unter der Leitung eines gewissen SS-Obergruppenführer Dr. Hans Kammler (das gehört jetzt aber ganz tief in die Verschwörungskiste!)
Ondragon gab „Die Glocke“ und „Hans Kammler“ bei Google ein und fand sich kurz darauf ganz tief im braunen Sumpf der Nazi-Mystik wieder. Etliche Seiten ergingen sich in der Lobpreisung der Wunderwaffen des Dritten Reiches. Nazi-Ufotechnologie, Reichsflugscheibe, Antigravitationsantrieb und Repulsine. Lächerlich! Ondragon beendete die Suche ganz schnell als Fehlanzeige. Auf so einen Quatsch wollte er sich gar nicht erst einlassen. Und es war auch nicht anzunehmen, dass der BND hinter einem derartigen Humbug her war. Nein, an Bord der JU 390 musste etwas viel Bedeutenderes gewesen sein als ein angebliches mysteriöses Flugobjekt.
Charlize kam in einem Bademantel und mit einem Handtuch auf dem Kopf aus dem Bad und ließ sich ihm gegenüber erschöpft in den Sessel fallen.
„Und?“, fragte sie. „Was hat es mit dem Flugzeug auf sich?“
Ondragon zwang sich, nicht auf ihre glatten, gebräunten Schenkel zu sehen, die unter dem Bademantel hervorblitzten, und erzählte ihr rasch, was er herausgefunden hatte.
Charlize kicherte, als er bei dem Nazi-Klischee mit den geheimen Flugscheiben angekommen war. „Eine wunderbare Story: SS-Kommandant flieht mit einem Geisterflugzeug und einem geheimnisvollen Fluggerät an Bord und gilt seitdem als verschollen. Das klingt nach einem Drehbuch für einen Film von Roland Emmerich. Aber wer weiß, an Gerüchten ist immer etwas dran.“
„Ich bitte dich! Das gehört eindeutig in den Bereich der Mythen und Legenden!“
„Und wie viele Mythen und Legenden haben sich in den vergangenen Jahren schon als wahr entpuppt? Ich sage nur Voodoo-Zombie und Wendigo! Das war ja ein schöner angeblicher Quatsch!“
Ondragon hob ergeben beide Hände. „Schon gut. Ich gebe ja zu, dass es Dinge gibt, die wir nicht erklären können. Aber Ufos?“ Er winkte ab. „Das ich echt Schwachsinn.“
„Schon möglich. Ich wäre in dieser Hinsicht nicht so dogmatisch. Was ist eigentlich mit dem Piloten, der in dem Flugbuch eingetragen ist? Gibt es über den etwas?“
Ondragon war dankbar, das Ufo-Thema nicht weiter vertiefen zu müssen, und gab den Namen des Piloten bei Google ein. Aber für „Oberst Karl Brenner“ und „JU 390“ gab es null Treffer. „Was sagen deine Wissenschaftler denn zu dem Kerl?“, fragte er Charlize.
„Nicht viel. Heute ging es in erster Linie um die Beweissicherung und die Probenentnahme. Die Überprüfung der Provenienz des Textes und der Echtheit der Handschrift folgt in den kommenden Tagen.“
„Dann bleib weiter dran und versuch, diesen Dr. Lima auszuquetschen, aber unauffällig.“
„Mach ich. Mal sehen, wie viel Information das Drachenfräulein zulässt. Sie hat mich vorhin im Van ganz schön durch die Mangel gedreht! Wollte alles wissen, jedes Detail über die Untersuchung und was ich herausgefunden habe. Die Tante ist echt‘n Kontrollfreak!“
„Sie ist professionell … und Deutsche!“
„Du nimmst sie in Schutz, obwohl sie uns mit der Kamera verarscht hat?“ Charlize stemmte sich aus dem Sessel hoch.
„Dafür hat sie bestimmt ihre Gründe. Wahrscheinlich befolgt sie nur ihre Befehle. Aber falls es dich beruhigt: Ich werde nicht mit ihr ausgehen.“
„Ungemein beruhigend!“ Charlize begann, im Raum auf und ab zu laufen. Auf dem gefliesten Boden gaben ihre nackten Füße ein leises Tapsen von sich. Ondragon musste lächeln.
„Was grinst du so blöd, Chef?“
„Ach, nichts. Ich schlage vor, wir gehen jetzt was essen. Derweil überlege ich, ob ich jemanden kenne, der uns was zum Piloten Karl Brenner sagen kann, und du bereitest dich mental auf deinen morgigen Einsatz vor. Was hältst du davon?“
Charlize zögerte, und Ondragon setzte seinen unwiderstehlichen Schwerenöter-Blick auf, bis sie zu grinsen begann.
„Tu das nicht, Chef, ich mach alles, was du sagst, aber bitte nicht dieser Blick!“ Sie verschwand im Bad und erschien wenige Minuten später in einem dunkelblauen Sommerkleid.
Nach dem Essen trennten sie sich und Ondragon fuhr mit dem Taxi zu seinem Hotel. Das Auto wollte er vorerst an der strategisch günstigen Stelle stehenlassen. In seinem Zimmer schlüpfte in den Bademantel und bestellte sich noch einen Absacker.
Während er im Bett den Mai Tai schlürfte, recherchierte er im Internet noch ein wenig über Nikola Tesla. Tatsächlich gab es einiges über den Erfinder im Zusammenhang mit Ufos und geheimer Antriebstechnologie. Aber ob es sich dabei um exakte Wissenschaft oder bloß esoterische Spinnerei handelte, konnte er nicht beurteilen. Er schloss die Internetverbindung und wählte eine Nummer.
„Hey, Mr. O! Lange nichts von Ihnen gehört!“, drang es volltönend aus dem Telefon.
„Hallo, Strangelove. Störe ich?“
„Aber nein. Sie stören nie.“ Der junge Mann am anderen Ende gluckste. Dr. Strangelove war ein brillanter Chemiker und Ondragons Mann für sämtliche Aufträge, wenn es um die Welt des Periodensystems ging.
„Strangelove, kennst du jemanden, der sich mit Physik auskennt?“
„Was für eine Art von Physik meinen Sie? Da gibt es etliche Fachgebiete von Materialforschung bis zur Quantenphysik.“
„Jemand, der was mit Antigravitationsantrieb, Nullpunktenergie oder Nazi-Flugscheiben anfangen kann.“
„Also einen Ufowissenschaftler.“
Bei diesem Ausdruck kniff Ondragon die Augen zusammen. Er hasste dieses Wort: Ufo! Er wartete ab, ob Strangelove sich bloß einen Scherz erlaubt hatte, aber kein Lachen ertönte. Im Gegenteil, der Chemiker schien ernsthaft darüber nachzudenken.
„Hmm. Ich kenne da einen Freak, der ein Internetforum über die Area 51 betreibt. Es heißt alienbuster. Der könnte Ihnen vielleicht helfen. Worum genau geht es denn? Extraterrestrische oder terrestrische Flugobjekte?“
„Extraterrestrisch? Woher soll ich das wissen?“
„Na, Sie müssen schon damit rausrücken, wenn Sie wollen, dass er Ihnen hilft. Keine Angst, ich werde Sie schon nicht für bescheuert halten, in den letzten Jahren sind Sie mir mit weit abgefahreneren Sachen gekommen. Dagegen sind Ufos Kinderkram!“
Ondragon rang mit sich. Er wollte über dieses Thema kein Fass aufmachen, aber sein Wissen über Physik war arg begrenzt und er brauchte jemanden, der ihn beriet. „Nun gut“, sagte er, „aber es ist bisher rein spekulativ!“
Jetzt kicherte Stangelove. „Das sind Ufos im Allgemeinen.“
Ondragon unterdrückte den Drang, einfach aufzulegen und atmete einmal tief durch. „Ich brauche Informationen darüber, wie ein gewisser Erfinder namens Nikola Tesla mit Nazi-Flugobjekten in Verbindung stehen könnte.“
Strangelove grunzte vergnügt. „Also, das ist wirklich schräg. Nun gut, ich werde den Typen fragen. Wie kann er sich mit Ihnen in Verbindung setzen?“
„Ist der Kerl integer?“
„Kann ein Ufologe integer sein?“
Ondragon sah die Unsinnigkeit dieser Frage ein. „Schick eine Nachricht, wenn er mit mir sprechen will. Ich werde ihn dann anrufen.“
„Okay, Mr. O. Kann ich sonst noch was für Sie tun? Ich hab da eine ganz neue Erfindung am Start. Es befindet sich allerdings noch in der Testphase. Ich habe eine spezielle Flüssigkeit entwickelt. Man tropft sie sich in die Augen und kann danach im Dunkeln besser sehen! Wie eine Katze. Ist das nicht sensationell?“
„Toll … ich meine, wow! Sagtest du Testphase? Ich glaube, im Moment brauche ich sowas eher nicht, danke. Aber sag Bescheid, wenn es aus der Testphase raus ist.“
„Geht klar. Auf Wiederhören.“
Kopfschüttelnd legte Ondragon auf. Er konnte nicht glauben, dass er soeben Kontakt zu einem Ufologen in die Wege geleitet hatte. Fehlte nur noch jemand, der sich mit Nazi-Deutschland auskannte. Sein Vater, dachte er, der würde ihm jetzt mit Sicherheit Auskunft geben können. Herr Botschafter a. D. Siegfried Ondragon war schon immer gut in deutscher Geschichte gewesen, besonders in dem unrühmlichen Kapitel der NS-Zeit. Aber er würde ihn niemals um Hilfe bitten. Vorher würde er sich seine Zunge herausreißen und sie das Klo runterspülen. Ondragon sah auf die Uhr. Leider war es zu spät, um einen weiteren Anruf zu tätigen. Das würde er auf morgen früh verschieben müssen. Aber er konnte sich noch ein wenig über den Ufologen schlau machen. Strangelove hatte ihm den Namen von dessen Internetseite genannt. Er rief www.alienbuster.com auf und war sofort von den grellbunten Farben abgeschreckt, mit denen das Forum gestaltet war, das sich volltönend „das führende Portal über Area 51“ nannte. Er klickte sich durch die Threads der Diskussionen, die das Grauen in jedem rational denkenden Menschen weckten, und wunderte sich darüber, wie man nur an solch einen Quatsch glauben konnte. Wenig später schloss er die Seite wieder und warf einen letzten Blick in das Bulletin Board.
Dort schrieb Dobermann12: „Erster Tag der Operation Pandora zufriedenstellend verlaufen. Pinscher26 ist eingeschleust und hat Job gemäß den Vorgaben recht ordentlich erfüllt. Morgen mehr Ergebnisse erwünscht! @ Pinscher26: Denken Sie an die FOTOS!“
Oh, darüber wird sich Charlize aber freuen, ein halbes Lob vom Drachenfräulein! Über ein ganzes hätte Ondragon sich allerdings auch gewundert. Er musste zugeben, dass er Ritters emotionslose Ausdrucksweise und ihre Geradlinigkeit bewunderte. Sie besaß Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen, obwohl sie noch sehr jung war. Aber in ihrem Job konnte man nicht früh genug sein Gewissen abtöten. Vielleicht sollte er sich doch mal mit ihr treffen, wenn alles vorbei war, so rein privat. Der Gedanke war reizvoll, aber Ondragon verwarf ihn gleich wieder. Charlize würde ihn in kleine Stückchen schneiden. Schlimmer noch, sie würde kündigen! Und das wollte er auf keinen Fall provozieren. Charlize besaß für ihn einen unschätzbaren Wert. Sie war seine gute Fee, seine Retterin in letzter Sekunde. Da konnte er ab und an auf ein paar amouröse Abenteuer verzichten. Er lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf das Board und las den nächsten Eintrag.
Pinscher26: „Jigoku e ike!!“
Fahr zur Hölle! Oh oh!
Das halbe Lob schien bei Charlize ungehört verhallt zu sein. Das hieß, er würde sich morgen alle Mühe geben müssen, sie bei Laune zu halten, damit der Pinscher dem Dobermann nicht an die Gurgel ging.
Er las die Antwort von Dobermann12: „@ Pinscher26: Ich nehme an, dass Ihre Antwort nicht nett gemeint war. Aber keine Angst, ich fühle mich nicht gekränkt. Im Gegenteil, das beruht ganz auf Gegenseitigkeit. Dennoch schlage ich vor, dass wir diese Operation mit dem nötigen Ernst zu Ende bringen und uns hinterher nach Herzenslust beschimpfen. Gute Nacht!“
Trockener konnte man nicht kontern. Ondragon schaltete das Handy ab und legte es auf den Nachttisch. Dann knipste er das Licht aus.
Wenig später knipste er das Licht wieder an. Er konnte jetzt nicht schlafen. Sämtliche Neuronen in seinem Gehirn kribbelten, was ein untrügliches Zeichen dafür war, dass sich hier ein besonders kompliziertes Rätsel auftat. Eines der Königskategorie! Ondragon sah auf die Uhr und sprang aus dem Bett. Er würde es ausnutzen, dass seine Zentrifuge auf vollen Touren lief. Rasch griff er nach seinem Notizblock und begann, erneut im Internet zu recherchieren. Eigentlich war das Charlizes Job, aber in diesem Auftrag verhielt sich alles anders. Sie hatten die Rollen getauscht. Charlize würde für den operativen Teil ihren Schlaf brauchen, während er die aufwendige Suche nach Informationen übernahm.
Zunächst widmete er sich dem einzigen angeblichen Passagier der Junkers 390: SS-Obergruppenführer Dr. Hans Kammler. Über ihn fand Ondragon einiges im Netz. Der deutsche Ingenieur und Architekt war unter den Nationalsozialisten schnell bis zum Chef der Amtsgruppe für Bauwesen aufgestiegen, was zunächst einmal harmlos klang, aber unter diesem Titel hatte Kammler seine schlimmsten Kriegsverbrechen begangen. Zum Bespiel hatte er die Aufsicht über sämtliche Bauvorhaben für Vernichtungslager geführt, in denen er die Gaskammern und Krematorien optimieren ließ, da ihm eine Leistung von 2650 Leichen pro Tag nicht als ausreichend erschien.
Da haben wir sie mal wieder, die deutsche Gründlichkeit!, dachte Ondragon und ein Teil von ihm begann sich zu schämen, der andere hingegen blieb kalt.
General Hans Kammler zeichnete jedoch nicht nur für die Gräuel in den Konzentrationslagern verantwortlich, sondern auch für den Bau unterirdischer Produktionsstätten für Düsenflugzeuge, bei denen Zehntausende von Zwangsarbeitern ums Leben kamen. Kraft seines Amtes wusste Kammler stets über die geheimen Projekte Bescheid, bei denen die besten Wissenschaftler des Reiches an Hitlers „Wunderwaffen“ forschten, und er hatte jederzeit Zugang zu den Fabrikstollen. Damit war das Prachtbürschchen von einem Parade-Nazi prädestiniert für eine Flucht mit geheimer Technologie an Bord, fand Ondragon. Eine dieser unterirdischen Anlagen hatte sich in Schlesien befunden, keine 200 Kilometer von Prag entfernt, wo Kammler sich zu Kriegsende aufgehalten hatte. Der Ort hieß Ludwigsdorf und hatte eine geheime Forschungseinrichtung beherbergt. Ein Projekt namens „Die Glocke“.
Ausgemachter Blödsinn? Oder NS-Propaganda, die von irgendwelchen unverbesserlichen Anhängern dieser Nazi-Mythen am Leben gehalten wurde? Angeblich hatte es sich bei dem Objekt um einen, wie der Name schon sagte, glockenförmigen Flugkörper gehandelt, der auf wundersame Weise schweben konnte. Zwei gegenläufig rotierende Zylinder hätten eine Art magnetischen Feldantrieb erzeugt, der das Gerät mühelos zum Abheben gebracht haben soll. Ondragon hatte noch weitere Schlagwörter dazu gefunden: Antigravitationsantrieb, Levitation durch Torsionsfelder, Wirbelmechanik und Repulsionskräfte. Alles Bereiche der Physik, von denen er null Ahnung hatte. Es wurde höchste Zeit, dass er mit dem Bekannten von Strangelove sprach, dem Ufologen.
Aber noch einmal zurück zu Dr. Hans Kammler. Es wäre durchaus möglich gewesen, dass der General von Prag aus nach Ludwigsdorf hätte gelangen können, wo die Junkers mit ihrer Fracht bereitstand. Zwar behaupteten Kammlers erster Ordonnanzoffizier und sein Fahrer, dass der General in einem Wald nahe Prag Selbstmord mit einer Zyankalikapsel begangen habe, aber seine Leiche wurde nie gefunden. Eine bewusst angelegte Finte von Kammler, die von seiner Flucht ablenken sollte?
Ondragon sah grübelnd von seinen Notizen auf. Falls überhaupt etwas an dieser Sache dran war, dann würde er für diese Variante plädieren, denn hier passten einfach die meisten Teile zusammen. Außerdem sprach die Tatsachte, dass das US-Militär nach Kriegsende überall in der Welt nach Kammler gesucht hat, für sein Überleben und eine mögliche Flucht. Sein Tod hingegen wurde 1948 auf Betreiben seiner Witwe vom Amtsgericht Berlin-Charlottenburg für den Zeitpunkt 9. Mai 1945 festgesetzt und damit auch schlussendlich ein Deckel auf diese Angelegenheit geschraubt.
Ondragon legte den Notizblock beiseite und nahm das iPhone zur Hand. Das Puzzleteil namens Kammler würde er für heute ruhen lassen, da sich später noch ausreichend Gelegenheiten böten, mit dem Ufologen darüber zu sprechen. Der nächste Eckpfeiler in diesem Rätsel stellte das FBI dar. Laut Angaben im Netz hatte das FBI 1943 nach Teslas Tod all seine Unterlagen und Gerätschaften beschlagnahmt. Wenn das der Wahrheit entsprach, musste es einen Bericht darüber geben. Schließlich war das Bureau auch ein Büro, und es ging mindestens genauso gewissenhaft bei der Archivierung seiner Fallakten vor wie der BND.
Ondragon schrieb eine Mail an seinen Freund beim FBI, George Hurley. Auch wenn er ein gesundes Misstrauen gegenüber dieser ur-amerikanischen Organisation besaß, so wusste er es doch zu schätzen, dort jemanden sitzen zu haben, der ihn ab und zu mit Informationen versorgte. Warum dieser Agent das tat? Nun, Ondragon kannte ihn bereits seit seinem Studium in Harvard und hatte ihm damals aus einer sehr prekären Lage geholfen. Bis heute wusste der gute George, wem er einen Gefallen schuldig war. Und nebenbei war er tatsächlich so etwas wie ein alter Kumpel, von denen Ondragon nicht gerade viele besaß – was natürlich seinen Grund hatte. Freunde und Familienangehörige machten einen Mann mit seiner Profession nur anfällig für Erpressungen. Und deswegen hielt er sich emotionale Abhängigkeiten zu anderen Menschen weitgehend vom Hals. Nur manchmal gestattete er sich kleine Ausnahmen. Charlize war eine davon. Ondragon wusste nicht, was er tun würde, wenn je jemand versuchen würde, ihr etwas anzutun.
Das ist schlecht, tadelte er sich. Sehr schlecht! Du musst aufpassen, dass du im rechten Moment davon loskommst, sonst wird es noch böse enden mit dir.
Das wird es doch so oder so, stichelte eine gehässige kleine Stimme in seinem Kopf. Jemand wie du wird nie ein gutes Ende finden.
Auch wieder wahr. Unbekümmert hob er die Schultern und schickte die Mail an George ab. Hoffentlich bekam er bald Antwort.