43. Kapitel
24. August 1899
Colorado Springs
gegen
Abend
Nachdem sie den Tee ausgetrunken hatten, bauten Philemon und Löwenstein gemeinsam das Terminal ab und brachten es ins Laborgebäude. Dort verstauten sie es in einer Ecke, wo Philemon die Kupferröhre trockenrieb, damit sie nicht oxidierte. Anschließend deckte er alles ordentlich mit einem Wachstuch ab.
„Vielen Dank, Mr. Ailey. Sie können dann gehen und Feierabend machen. Wir sehen uns morgen wieder“, rief Dr. Tesla ihm zu und Philemon nickte. Was war mit Czito und Löwenstein? Missgünstig sah er zu den beiden Assistenten rüber. Anscheinend durften sie hierblieben. Philemon biss sich auf die Lippen. Obwohl er von Dr. Tesla erst kürzlich zum vollwertigen Laborassistenten ernannt worden war, hörte die Geheimniskrämerei nicht auf. Ärger kochte in ihm hoch. Hielten sie ihn tatsächlich für so dumm? War ihnen denn nicht klar, dass er sich längst Gedanken darüber machte, was mit Myers geschehen war?
Wieder einmal wandte er sich enttäuscht ab, verabschiedete sich scheinbar gehorsam von den anderen, die bereits auf dem Weg in Teslas Studierzimmer waren, und trat nach draußen auf die nassglitzernde Ebene. Die Grillen zirpten nach dem Regen, und die Luft roch nach feuchter Erde. Es schien, als atme die Prärie nach der langen Dürrezeit tief durch.
Aber Philemon hatte nicht vor, zur Stadt zurückzugehen. Er schloss die Tür zum Laborgebäude so geräuschvoll, dass alle es hören konnten, und lief ein paar Schritte bis zum Zaun, dann machte er kehrt und schlich geduckt zurück. Leise umrundete er das Gebäude, bis er zu der Stelle kam, hinter der sich das Studierzimmer von Dr. Tesla befand. Die Laborwände waren aus vergleichsweise dünnen Holzlatten, vielleicht könnte er hören, was drinnen gesprochen wurde. Er legte sein Ohr an die raue Oberfläche und lauschte. Tatsächlich hörte er Stimmen, jedoch nicht deutlich genug. Rasch wechselte er die Stelle, aber die war auch schlecht. Er besah sich die Wand und fand auf der Höhe seines Bauchnabels eine Fuge. Philemon ging in die Knie und hielt sein Ohr daran, dabei verspürte er keinerlei schlechtes Gewissen, denn die da drin waren schließlich diejenigen, die ein dunkles Geheimnis hüteten. Durch die Fuge konnte er die Stimmen der drei Männer gut auseinanderhalten. Sie redeten in nervösem Tonfall miteinander. Ganz offensichtlich hatte sie etwas aufgeregt. Nur was?
Dr. Tesla: „Sie waren doch dort, Fritz! Haben Sie ihn nicht gesehen?“
Löwenstein: „Nein, ich habe ihn nicht gesehen.“
Dr. Tesla: „Aber das ist doch nicht möglich! Er muss dort sein.“
Löwenstein: „Ich kann es mir auch nicht erklären.“
Dr. Tesla: „Hm, dann muss ich das Frequenzspektrum für das Solute in der Äthersolvenz wohl noch einmal neu kalibrieren.“
Schweigen. Dann ein Seufzen – vom wem, konnte Philemon nicht hören.
Löwenstein: „Könnte es denn sein, dass Philemon ihn gesehen hat? Ich meine, er war ja lange genug fort. Vielleicht traut er sich nur nicht, uns das zu sagen, weil er denkt, er hätte Halluzinationen gehabt. Mir ging es beim ersten Mal auch so, bis ich begriffen habe, was da vor sich geht.“
Ein Knurren – von Czito.
Dr. Tesla: „Möglich. Ich habe bereits darüber nachgedacht, ob es nicht eine gute Idee wäre, ihn endlich vollständig einzuweihen. Er ist ein verlässlicher Junge und ahnt längst etwas, das spüre ich. Seine Akte, die Mr. Scherff mir geschickt hat, beweist uns seine spezifische Qualifikation. Seine hervorstechendste Eigenschaft ist seine außerordentliche Loyalität. Er praktiziert sie bis zur Selbstaufgabe.“
Löwenstein: „Sie meinen den Vorfall mit der Studentenvereinigung?“
Dr. Tesla: „Exakt. Sein Verhalten in dieser Angelegenheit zeigt uns doch, dass er fähig ist, ein Geheimnis zu bewahren, selbst wenn es ihn in große Not bringt.“
Wieder ein Brummen von Czito.
Philemon wurde plötzlich heiß unter seiner Kleidung. War das tatsächlich der Grund, warum man ihn auserwählt hatte? Diese leidige Geschichte mit dem schiefgegangenen Experiment an der Universität und der Studentenvereinigung Chi Psi? Er biss sich auf die Lippen, weil es ihm peinlich war, dass sich diese drei Männer darüber berieten. Damals hatten er und ein paar Kommilitonen einen Fehler begangen und teuer dafür bezahlt. Dass ausgerechtet dieser Umstand ihn jetzt hierher geführt haben sollte, war an Ironie kaum zu überbieten.
Löwenstein: „Also, ich weiß nicht, ob er damit umgehen kann. Besser, wir warten noch.“
Dr. Tesla: „Sie haben recht, Fritz. Er ist noch nicht lange genug bei uns, als dass wir vollkommene Gewissheit über seine Vertrauenswürdigkeit erlangt hätten. Wir werden weiter abwarten. Vielleicht wird er niemals eingeweiht werden können. Dann werden wir uns leider von ihm trennen müssen. Aber nun zurück zu unserem Problem. Es muss uns gelingen, die Divergenz aufzuspüren, in der Frederick gefangen ist. Nur dann können wir ein Schlupfloch für eine Re-Lokalisierung modulieren.“
Löwenstein: „Dem stimme ich zu. Aber zumindest ist uns diesmal die Transmission vollständig geglückt. Wir hatten kaum noch Rauschen, so wie in dem Versuch davor, in dem Philemon volontiert hat. Der Röhnfeldt-Effekt scheint also doch kontrollierbar zu sein. Man sieht es ja an mir. Ich bin völlig unversehrt.“
Dr. Tesla: „Unser künftiges Augenmerkt muss einer noch höheren Konstanz des Frequenzspektrums gelten. Nur weil das Experiment bei Ihnen geglückt ist, Fritz, heißt das noch lange nicht, dass es auch bei mir glückt oder bei Kolman. Das Rauschen muss restlos eliminiert werden. Ich habe vor, die Dämpfungsfrequenzen noch einmal zu konfigurieren. Auch werden in ein paar Tagen hoffentlich die Bauteile aus New York bei uns eintreffen, die ich telegraphisch bei Mr. Scherff bestellt habe. Mit ihnen haben wir größere Möglichkeiten, die Frequenzen und Signale präziser zu steuern. Unser Ziel muss es sein, die Schwingungsspektren aller Körper vor einer Transmission genau bestimmen zu können. Das Weltensystem muss am Ende multipersonal anwendbar sein, sonst war unsere Forschung hier sinnlos!“
Schweigen folgte.
Dann wieder Dr. Tesla: „Nichtsdestotrotz denke ich, dass wir auf einem guten Weg sind und da weitermachen sollten, wo wir jetzt stehen. Eine gescheiterte Transmission mit Mr. Myers, eine mit Mr. Ailey, die man durchaus als geglückt bezeichnen kann, und eine weitere, hervorragend gelungene mit Fritz. Da sehe ich einen gewissen Fortschritt.“
Czito: „Wenn Sie es wünschen, werde ich es als nächstes versuchen, Doktor!“
Dr. Tesla: „Kolman, mein Bester, das ist zu freundlich von Ihnen. Ich werde darauf zurückkommen, wenn es so weit ist.“
Jemand druckste herum.
Dr. Tesla: „Ja, Fritz? Was haben Sie auf dem Herzen?“
Löwenstein: „Ich mache mir Sorgen, Doktor. Nicht nur um Sie. Hier in Colorado Springs gehen merkwürdige Dinge vor.“
Czito: „Ja, die Pinkertons sind unterwegs.“
Dr. Tesla: „Ach, das ist mir bereits bekannt. Das schreckt mich nicht.“
Czito: „Aber sie fragen die Leute über Sie aus, Doktor.“
Dr. Tesla: „Na und? Was sollen diese einfältigen Teufel ihnen schon erzählen? Vielmehr interessiert mich, ob sie auch schon mit Ihnen geredet haben, meine Herren?“
Czito und Löwestein zusammen: „Nein, Sir.“
Löwenstein allein: „Das haben die Schnüffler offensichtlich noch nicht gewagt. Mit Sicherheit wissen sie, dass sie bei uns nichts holen können. Aber was ist, wenn sie an Philemon herantreten? Oder es bereits getan haben? Und was, wenn die Pinkertons auf die Sache mit Frederick stoßen?“
Dr. Tesla: „Über Frederick werden sie nicht viel herausbekommen. Dafür hält sich das Gerücht über seine Verdampfung nach einem Blitzschlag zu hartnäckig. Und das ist, wie wir alle wissen, absoluter Humbug. Aber das mit Mr. Ailey ist ein durchaus ernstzunehmender Punkt. Erst kürzlich habe ich mit ihm ein Gespräch bezüglich der Informationsverbreitung in dieser Stadt geführt, aber es kann nicht schaden, wenn Sie, Fritz, sich dessen noch einmal annehmen. Haben Sie ein Auge auf unseren jungen Freund, nur für den Fall, dass diese lästigen Schnüffler sich mit ihren höchst unsportlichen Methoden an ihn heranpirschen. Diese Leute sind wie die Schmeißfliegen!“
Löwenstein: „Ich befürchte, die werden erst Ruhe geben, wenn sie haben, was sie wollen.“
Dr. Tesla – mit einem sehr scharfen Tonfall: „Sie werden es aber nicht bekommen. Niemals! Denn alles, was es darüber zu wissen gibt, befindet sich hier in meinem Kopf und in diesem kleinen Buch, das ich immer bei mir trage. Selbst Sie wissen zu Ihrer Sicherheit nur jeweils einen Teil davon, meine Herren. Ohne mein Wissen jedoch sind all diese Geräte hier wertlos!“
Nachdenkliche Stille.
Dr. Tesla: „Lassen Sie uns jetzt nicht länger wegen dieser Detektive hadern. Die sind nur lästig, aber keinesfalls gefährlich. Wir sollten uns lieber an die Aufarbeitung des letzten Experiments machen. Ich möchte einen detaillierten Bericht von Ihnen haben, Fritz. Kolman wird Ihnen dabei helfen. Ich werde derweil neue Berechnungen anstellen. An die Arbeit, Gentlemen, die Nacht ist noch lang!“
Philemon hatte genug gehört. Genug, um emotional komplett verwirrt zu sein. Er wollte sich aufrichten, merkte jedoch, dass seine Beine von der Kauerstellung vollkommen taub geworden waren. Nur langsam kam das Leben wieder in seine kribbelnden Glieder zurück, und wenig später stakste Philemon steifbeinig durch die beginnende Dämmerung davon.
Es störte ihn, dass Dr. Tesla ihm noch immer nicht vertraute. Andererseits wussten Czito und Löwenstein anscheinend auch nicht alles. So hatte es sich zumindest angehört. Wenigstens schien er den drei Männern als so vertrauenswürdig zu gelten, dass sie darüber nachdachten, ihn einzuweihen. Und sie hatten tatsächlich seine Loyalität bewundert. Dabei wusste Philemon nicht einmal selbst, ob er überhaupt dazu in der Lage war, eine solch außergewöhnliche Treue zu empfinden, wie sie es von ihm verlangten.
Doch sein Herz kannte die Antwort bereits.
Ganz gleich, was er oder Dr. Tesla jetzt noch tun würden, seine Loyalität hatte sich ihren neuen Herrn längst gewählt. Die drei Männer im Labor hatten recht. Er würde lieber sterben, bevor er auch nur den kleinsten Splitter dieses Geheimnisses preisgab. Auch wenn dieser Splitter sich dabei immer tiefer in sein eigenes Fleisch bohren würde!