10. Kapitel
25. Juli 1899
Colorado Springs
am
Nachmittag
Philemon blickte schwitzend von seiner Wartungsarbeit an den Kondensatoren auf. Draußen schien die pralle Sonne auf das Holzgebäude und machte die Luft im Innern unerträglich stickig. Zu gern hätte er die großen Scheunentore an der Westseite geöffnet, um ein frisches Lüftchen hereinzulassen, doch das dunkle Labor blieb von der grellen Außenwelt abgeschottet. Dr. Tesla mochte keine neugierigen Blicke. Erst kürzlich, so hatte Mr. Löwenstein ihm erzählt, habe der Doktor auch die kleinen Fenster zunageln lassen, weil Kinder aus dem Ort dort hereingelugt und allerlei Schabernack mit den Forschern getrieben hatten. Czito hatte sie schließlich mit der Warnung verjagt, sie sollten sich hier nicht mehr blicken lassen, sonst würde sie der Schlag treffen! Nun, das trug sicherlich nicht zu einer besseren Verständigung mit den Bewohnern von Colorado Springs bei, dachte Philemon, der in den Esslokalen und auf den Straßen immer mehr böses Gerede über den Doktor und seine Schergen aufschnappte. Mittlerweile hatte es sich herumgesprochen, dass er für Dr. Tesla arbeitete, und die Einwohner zeigten sich ihm gegenüber deutlich distanzierter als zuvor.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und schaute zu Mr. Löwenstein hinüber, der gebückt neben den mit Öl gefüllten Kondensatorenkästen stand und mit Stahlwolle die Drähte polierte. Die Hitze und die schwirrenden Fliegen schienen ihm kaum etwas auszumachen, ein versonnenes Lächeln lag auf seinen Zügen. Er war der Älteste in diesem kleinen und seltsamen Ensemble aus Wissenschaftlern. Philemon schätzte ihn auf etwa Fünfzig. Ein bodenständiger Deutscher mit blondem Haar, einem gewaltigen Backenbart und teutonischer Akkuratesse. Manchmal geradezu redselig und damit das genaue Gegenteil des kleinen und brummigen Mr. Czito. Fritz Löwenstein besaß einen brillanten Sinn für alles Analytische und brütete wie Dr. Tesla gern über seinen Aufzeichnungen. Doch auch das schlichte Putzen von Elektroden empfand er nicht unter seiner Würde. Philemon hatte den Eindruck, dass der deutsche Ingenieur jegliche manuelle Arbeit als heilsamen Gegenpol zu seinen geistigen Leistungen betrachtete. Bewegung und körperliche Ertüchtigung seien gedeihlich für Körper und Geist, behauptete Löwenstein, der nicht zuletzt ein Anhänger des deutschen Turnvaters Jahn war. „Frisch, fromm, fröhlich, frei!“ Das war sein Leitspruch, den er am Tag mindestens einmal zitierte.
Ganz anders dagegen war Dr. Tesla, der eine ausnahmslos ätherische Erscheinung besaß, gespeist allein von der Energie seines Schöpfergeistes, seiner extraordinären Ideen und Visionen. Gleichfalls unermüdlich und hart zu sich selbst, war er jemand, der über den Dingen zu schweben schien. Wenn Tesla das Feinsinnige und von den weltlichen Bedürfnissen Losgelöste darstellte, dann verkörperte Fritz Löwenstein den robusten und soliden Kern des Labors. Die Kraft im Inneren, die alles zusammenhielt. Nur der pummelige Czito war schwer einzuordnen. Am ehesten konnte man ihn als die gute Seele des Labors bezeichnen. Wie ein alter Kater schien er es jedes Mal in seinen Schnurrhaaren zu spüren, wann sich ein Problem anbahnte, und war zur Stelle, noch ehe man ihn rief. Eifrig schwirrte er um die Apparaturen herum und behob die jeweilige Störung mit der Grandezza einer dicken Hummel. Dabei brummte er serbische Liedchen vor sich hin. Doch wenn er einmal nichts zu tun hatte, verwandelte er sich wieder in den lauernden Kater und verschmolz regungslos mit dem Hintergrund. Dann schwebte nur noch sein zwielichtiges Grinsen zwischen den Schatten wie ein Sichelmond mit Zahnlücke. Ja, das war Mr. Czito, die serbische Ausführung der Grinsekatze aus dem Buch ‚Alice im Wunderland‘.
Philemon drehte den Kopf in Richtung des Mechanikers, von dem nicht viel zu sehen war, Dafür konnte man ihn gut hören. Der Serbe schrubbte die Spulen innerhalb des großen Metallzauns blank und keuchte dabei angestrengt wie eine Lokomotive.
Dr. Tesla hockte indes in seiner kleinen Kammer und grübelte über seinen Entwürfen.
„Ist der Doktor Tag und Nacht dort drinnen?“, fragte Philemon verwundert.
Löwenstein nickte, ohne in seiner Arbeit innezuhalten.
„Und wann kommt er heraus?“
Der deutsche Ingenieur hob den Kopf. „Vermutlich, wenn er seine Aufgabe gelöst hat. Und das kann dauern. Wir haben schließlich vor, Großes zu vollbringen. Dinge, die noch nicht dagewesen sind. Und dafür braucht es viel Hirnschmalz.“ Er tippte sich mit einem öligen Finger an die Stirn und grinste von einer buschigen Kotelette bis zur anderen.
„Und was genau wird das sein? Diese großen Dinge? Die drahtlose Telegraphie vielleicht? Ich meine, halten Sie es für möglich, dass ihm dies tatsächlich gelingen wird?“
„Zweifeln Sie etwa daran, Phil?“
Philemon fühlte sich ertappt. Ja, er hatte Zweifel und ja, er hatte Angst. Außerdem fand er es unerträglich, dass er noch immer nicht wusste, an welchen Experimenten Dr. Tesla hier arbeitete und ob sie tatsächlich ungefährlich waren. Dennoch wurde dies alles von der geheimen Hoffnung überlagert, an etwas wahrhaft Großem teilhaben zu dürfen. An etwas, das womöglich Geschichte schrieb.
„Nein, ich habe keine Zweifel!“, log Philemon, ohne Löwenstein anzusehen.
„Das ist gut, mein Junge. Sehr gut, denn wir sind Auserwählte des Doktors, seine helfenden Hände.“ Der Deutsche richtete sich auf und legte eine Hand auf seine schürzenbewährte Brust. „Wir kümmern uns darum, dass alle Apparate im Labor stets einwandfrei arbeiten und einsatzbereit sind, wenn sie gebraucht werden. Das mag in Ihren Augen simpel wirken, ist aber eine durchaus ehrenvolle Aufgabe.“
„Und warum sind wir hier in der Prärie und nicht in Dr. Teslas Laboratorium in New York? Hätten wir in der Stadt nicht viel bessere Bedingungen für die Experimente?“ Die Frage brannte Philemon schon seit einiger Zeit auf den Lippen und er war froh, sie jetzt endlich aussprechen zu können.
„Dafür gibt es mehrere gute Gründe“, entgegnete Löwenstein. „Zum einen – und das ist nicht ganz unerheblich – bekommt Dr. Tesla hier sämtlichen Strom, den wir benötigten, umsonst aus dem städtischen Kraftwerk geliefert. Und zwar über die Masten, die als einziges hier raus in die Prärie führen. Und zum anderen ist die Luft hier auf dem Hochplateau besonders reich an statischer Energie. Colorado Springs ist bekannt für seine heftigen Gewitter mit gewaltigen Blitzentladungen. Die braucht Dr. Tesla, um seine Erkenntnisse zu sammeln. Das wäre in New York nicht möglich.“ Löwenstein hielt in seiner Arbeit inne und ließ den Blick durch das Labor gleiten. Aber von Tesla war nichts zu sehen und Czito brummte, noch immer außer Sichtweite, seine Liedchen vor sich hin. Dann beugte er sich vor, und sein Mund berührte fast Philemons Wange.
„Es gibt da allerdings noch einen anderen Grund“, flüsterte er.
Philemon, der gerade darüber nachgesonnen hatte, wozu um alles in der Welt der Herr der Blitze noch mehr Blitze brauchte, sah den Ingenieur überrascht an.
„Ich werde es dir verraten, Phil“, sagte Löwenstein, „aber vorher musst du schwören, dass du es nicht weitererzählst. Erst recht nicht hier in Colorado Springs. Die Leute in diesem Kaff können mit sowas nicht umgehen.“
Philemon wunderte sich über die plötzliche Vertraulichkeit des Deutschen, dennoch hob er die Hand und sagte: „Ich schwöre!“
Löwensteins graue Augen ruhten eine Weile auf ihm, sie wirkten wie zwei kühle Bergseen. Dann senkte er seinen Blick und begann, mit gedämpfter Stimme zu erzählen: „Der eigentliche Grund dafür, das Labor hier in dieser gottverlassenen Gegend zu errichten, ist der, dass Dr. Tesla Angst hat, man könne seine Forschung sabotieren.“
„Sabotieren? Weshalb?“
„Dir ist doch bekannt, dass das erste Labor des Doktors in New York vor vier Jahren vollkommen ausgebrannt ist.“
„Natürlich, die Zeitungen waren damals voll mit Berichten. Und Sie glauben jetzt, dass es Sabotage war? Das wäre ja ungeheuerlich!“
„Es ist nur eine von vielen Vermutungen, denn niemand war im Labor, als es zu brennen begonnen hat. Keiner hat etwas gesehen. Außerdem überprüfen wir stets sämtliche Apparate und Versuchsanordnungen, ehe wir die Räumlichkeiten verlassen. Ich bin mir auch heute noch absolut sicher, dass wir damals nichts übersehen haben. Ich selbst habe den letzten Rundgang durch das Labor gemacht, bevor ich das Licht gelöscht habe. Alles war ausgeschaltet, kein Strom floss mehr. Deshalb glaube ich, wie auch der Doktor fest daran glaubt, dass jemand das Feuer absichtlich gelegt hat.“
„Aber wer, in Gottes Namen?“
Löwenstein zuckte mit den Schultern. „Das wüssten wir auch gerne. Auf jeden Fall ist es dem Kerl gelungen, Dr. Tesla in seiner Arbeit um Jahre zurückzuwerfen. Wertvolle Konstruktionen einzigartiger Maschinen und ein ganzes Archiv mit Aufzeichnungen sind bei dem Brand vernichtet worden. Das hat den Doktor schwer mitgenommen. Er hat geweint, als er vor den Trümmern seines Labors gestanden hat. Und er hat um die Menschheit geweint, die um ihren Fortschritt betrogen worden ist.“
Philemon lauschte betroffen. Wie konnte es Menschen geben, die Dr. Teslas Arbeit derart verteufelten, dass sie sie zerstören wollten? Sahen sie denn nicht, welch großartige Wunder dieser Mann vollbrachte und mit welch großzügiger Selbstlosigkeit er seine Geschenke an die Menschheit verteilte? Es war traurig, wahrhaft traurig.
„Vielleicht war es Mr. Edison oder einer seiner Leute“, fuhr Löwenstein fort. „Teslas Verdienste waren ihm schon immer ein Dorn im Auge. Aber vielleicht tue ich dem guten Thomas auch Unrecht und es steckt eine viel höhere Macht dahinter. Leider wissen wir es nicht und werden es womöglich auch nie erfahren.“
Philemon presste die Lippen zusammen Die Geschichte erschütterte ihn und ließ die Arbeit hier draußen in dem Holzhaus mitten in der Prärie plötzlich in einem ganz anderen Licht erscheinen. Die Abgeschiedenheit war gewollt, genauso wie die Geheimniskrämerei um die Experimente. Allmählich begann er zu verstehen.
Währenddessen wandte sich Löwenstein wieder der Reparatur des Kondensators zu und hüllte sich in ein für ihn untypisches Schweigen. Philemon versuchte, es dem Deutschen gleichzutun, doch seine Aufmerksamkeit wollte sich nicht mehr auf so triviale Dinge wie den Kondensator lenken lassen. Einem unheilvollen Echo gleich hallten Löwensteins Worte weiterhin durch seinen Kopf.
Sabotage …
Vielleicht steckt eine viel höhere Macht dahinter …