62. Kapitel

03. Juni 2011
im Berg
Uhrzeit unbekannt

Als Ondragon wieder zu sich kam, fühlte er sich, als litte sein ganzer Körper an Muskelkater. Ihm war schwindelig und nur mit Mühe gelang es ihm, seine verkrampften Gliedmaßen zu bewegen. Er drehte den Kopf und sah, dass er in einer kleinen Höhle auf sandigem Boden lag. Erstaunlicherweise hatte man ihn nicht gefesselt und der Ausgang der Höhle schien auch nicht bewacht zu sein. Stöhnend setzte er sich auf und strich sich den Sand aus dem Gesicht. Anschließend hob er sein Hemd an. Die Stelle, an der er von der seltsamen Waffe außer Gefecht gesetzt worden war, schmerzte und roch leicht versengt, als hätte er dort einen Stromschlag abbekommen. Er ließ das Hemd wieder sinken und tastete nach seiner Ausrüstung. Leider waren die Mistkerle recht gründlich gewesen und hatten ihm alles abgenommen, was er bei sich getragen hatte, selbst das Messer aus seinem Stiefel.

Er blickte zum offenen Eingang der kleinen Höhle. Noch immer war niemand zu sehen. Draußen hingen nackte Glühbirnen an der Decke des Ganges und leuchteten zu ihm herein. Ondragon sah sich in dem Raum um. Ein Stapel Holzkisten stand in einer dunklen Ecke. Er kroch hinüber und wischte die Staubschicht von den Seitenwänden. Darunter kam ein Emblem zum Vorschein, das ihm mehr als vertraut war. Ein Reichsadler mit ausgebreiteten Flügeln, der in seinen Krallen ein eichenlaubumkränztes Hakenkreuz hielt. Ondragon blickte nachdenklich zum Höhlenausgang. Er könnte die Gelegenheit nutzen, um zu fliehen. Sein Blick huschte zurück zu den Kisten. Oder er könnte nachschauen, was sich darin befand. Vielleicht war das die Fracht der Junkers. Wieder ein Blick zum Ausgang und zurück zu den Kisten. Ausgang, Kisten. Ausgang, Kisten. Er spürte, wie das Geheimnis seine Fühler nach ihm ausstreckte und versuchte, ihn festzuhalten.

„Verdammt!“, flüsterte er. „Scheißneugier!“ Er wandte sich zu den Kisten und versuchte, sie zu öffnen. Die Deckel waren fest vernagelt, bis auf einen, der etwas lose war. Ondragon krallte seine Fingernägel in den schmalen Spalt, musste aber schnell einsehen, dass er ohne Werkzeug nicht weiterkam. Suchend sah er sich um, aber da war nichts, was er zum Hebeln benutzen konnte. Also zog er seinen Gürtel aus der Hose und versuchte es mit der Schnalle. Immer fahriger hantierte er an dem Deckel herum, bis es ihm schließlich gelang, den Spalt so weit aufzustemmen, dass er an einer Ecke den Gürtel hindurchschieben konnte. Danach zog er mit aller Kraft an beiden Enden des Lederriemens und mit einem leisen Knacken gaben die Nägel endlich nach. Der Deckel löste sich und Ondragon spähte in die Kiste. Zwischen Holzwolle und Lumpenfetzen verbarg sich etwas Glänzendes. Eine Apparatur? Schnell wischte er das Füllmaterial beiseite und blickte verdutzt auf den Inhalt. Seine eben noch empfundene Spannung verpuffte.

Goldbarren?

Mit den Fingerspitzen strich er über die kalte, sattgelbe Oberfläche. Es waren handliche 1000g-Barren, punziert mit ‚Degussa Feingold 999,9‘.

Leider keine geheime Tesla-Technologie, bloß ordinäres Gold

Er ließ sich zurück auf die Fersen sinken. Ja, okay, es war eine ganze Menge davon. Und wenn die anderen Kisten auch voll damit waren, dann lagen hier Millionenwerte, aber irgendwie hatte er etwas Spektakuläreres erwartet.

Enttäuscht wollte er sich erheben, da fiel von hinten plötzlich ein Schatten auf ihn. Ondragon fuhr herum und blickte auf die schemenhafte Gestalt, die sich vor dem hell erleuchteten Gang abzeichnete. Sie tastete an der Wand entlang und kurz darauf wurde der Höhlenraum in grellweißes Licht getaucht. Geblendet kniff Ondragon die Augen zusammen. Wie konnten solch altmodische Lampen bloß so hell sein!

Als seine Netzhaut sich von dem Schock erholt hatte, erkannte er, dass Clandestin LeNoire vor ihm stand. Der kleine Mistkerl lächelte unergründlich, hob eine Hand und tippte mit dem Finger sanft gegen eine der Glühbirnen. Sie begann leicht zu schaukeln, was den Raum unwillkürlich mitschaukeln ließ.

„Tesla-Lampen“, sagte er versonnen. „Nicht diese unwirtschaftlichen Dinger von Thomas Edison, die mehr Wärme als Licht abgeben. Nikola Tesla hat sie damals zur Eröffnung der Weltausstellung in Chicago neu entworfen, weil Edison ihm verboten hatte, sein Patent zu benutzen, nachdem er beim Wettbewerb um die Illuminierung der Ausstellung von Tesla ausgestochen worden war. Es ist eine Schande, dass diese Glühbirnen in Vergessenheit geraten sind. Würden die Menschen sie heute benutzen, blieben sie vom Ärger mit diesen unsäglichen Energiesparlampen verschont.“

Verwundert blickte Ondragon den Kerl in seiner traditionell arabischen Kleidung an. Sein Äußeres passte so gar nicht zu dem, was er da von sich gab.

„Sind Sie Wissenschaftler?“, fragte er.

Clandestin richtete seinen Blick von der Lampe auf Ondragon und seine Gesichtszüge verhärteten sich. „Nein!“

„Was dann?“

Der Mann trat so schnell auf ihn zu und verpasste ihm eine Ohrfeige, dass Ondragon ihn nur überrascht anstarrten konnte. „Ich bin immerhin kein Mörder! So wie Sie!“, presste er wütend zwischen seinen Zähnen hervor.

Ondragon wollte die Chance nutzen und sich auf ihn stürzen, doch da erschienen noch weitere Männer im Eingang der Höhle. Sie hielten Waffen auf ihn gerichtet.

Mahnend hob Clandestin einen Finger. „Nein, nein, Mr. O, die Regeln haben sich geändert. Sie sind jetzt mein Gefangener und ich zeige Ihnen, wie wir hier mit unerwünschten Gästen umgehen!“

Ohne Vorwarnung trat er ihm in den Bauch. Ondragon krümmte sich und kippte nach vorn in den Sand. Der Mistkerl war verdammt schnell, dachte er und wollte sich wieder aufrichten, aber eine Reihe von gut gezielten Tritten hielten ihn am Boden. Ondragon biss die Zähne zusammen. Er würde nicht schreien. Auf keinen Fall. Eher würde er sich zu Tode trampeln lassen!

Als die Tritte einen Moment aussetzten, hob er den Kopf. „Sie sind wütend wegen Achmed“, sagte er keuchend. „Das verstehe ich. Aber Sie haben brutal eine Frau überfahren und meine Assistentin angeschossen!“

„Alles nötige Maßnahmen. Das mit der Agentin tut mir sogar leid. Und Ihre Assistentin wäre niemals verblutet. Ich wusste ganz genau, wo ich hinschießen musste, um Sie zu beeindrucken und in Schach zu halten, Mr. O!“

Ondragon drehte sich auf die Seite und wagte es, sich aufzusetzen. Doch das wurde sogleich mit einem harten Schlag auf den Kopf belohnt. Der Schmerz schoss über seinen eh schon lädierten Nacken bis in seinen Rücken hinein. Schützend warf er die Arme über den Kopf und gab nun doch ein Stöhnen von sich.

„Was Sie hingegen unserem Bruder Achmed angetan haben“, zischte Clandestin, „ist kaltblütiger Mord! Sie haben ihm ein Auge ausgestochen, Sie sadistisches Schwein!“

„Achmed hatte die Wahl“, entgegnete Ondragon kalt. „Er hätte nicht sterben müssen, wenn er uns verraten hätte, was er wusste!“

Mit einer wütenden Grimasse riss Clandestin dem Mann neben sich die Pistole aus der Hand und drückte sie auf Ondragons Stirn. „Sie hatten auch eine Wahl! Die Wahl, zu verschwinden, bevor Sie hier eingedrungen sind.“

Ondragon blickte am Lauf vorbei auf seinen Widersacher, der es geschafft hatte, ihn so lange an der Nase herumzuführen. Würde er tatsächlich den Mumm haben abzudrücken?

Clandestin fletschte die Zähne, sein Atem ging schnell. Dieser Achmed schien ihm näher gestanden zu haben, als er angenommen hatte.

„Ich habe eben meine Prinzipien“, erklärte Ondragon ruhig. „Ich konnte nicht einfach so aufgeben, denn ich habe einen Auftrag. Und ich erfülle meine Aufträge immer! Egal, was passiert.“

„Tja, dann werden Ihre Prinzipien Sie diesmal ins Grab bringen!“, stieß Clandestin verächtlich aus, und Ondragon sah, wie sein Finger sich krümmte.

„Halt!“, ertönte es plötzlich vom Eingang der Höhle her und alle Anwesenden drehten sich erschrocken herum. Alle bis auf Clandestin, der weiterhin auf Ondragon starrte. Seine Hand mit der Waffe zitterte.

„Ich habe gesagt: Halt!“

Ein Mann, den Ondragon zuvor noch nicht gesehen hatte, trat neben Clandestin, legte sanft eine Hand auf die Waffe und drückte sie nach unten. Er hatte schlohweißes Haar, und sein bärtiges Gesicht wirkte wie das weise Antlitz eines Propheten. Er trug eine traditionelle Derra’a mit besticktem Brustschlitz. Ondragon sah die Tätowierung an seinem Hals. Es war das Tenet-Kreuz mit den römischen Ziffern.

„Meister Yaqub!“, knurrte Clandestin mit kaum verhohlenem Zorn. „Es ist meine Schuld, dass dieser Kerl hier ist, und deshalb ist es auch meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass er wieder verschwindet!“ Er wollte seine Pistole erneut heben, doch der Alte hielt ihn davon ab und entwand ihm die Waffe mit einer geschickten Bewegung. Ondragon sah, dass auch er einen dieser Armreifen trug. Er schien aus Silber zu sein und besaß eine polierte Oberfläche, auf der sich ein winziges Loch befand. Ein kleines grünes Lämpchen leuchtete darin.

„Lass ihn!“, befahl der Alte. Sein Französisch war klar und ohne die Spur eines Akzents. „Ich will mit ihm reden.“

Reden, dachte Ondragon hoffnungsvoll, das klang doch schon mal vernünftig. „Wer sind Sie?“, wollte er wissen.

Der Alte verschränkte seine Hände vor dem Körper und sah ihn hochmütig an. „Mein Name ist Yaqub Kahn und ich bin der oberste Anführer der Bruderschaft.“

„Was für eine Bruderschaft?“

„Jetzt tun Sie doch nicht so, als wüssten Sie nicht, wer wir sind.“

Ondragon erhob sich und wischte sich das Blut von der Lippe. Er dachte an das Tattoo, das jeder von diesen Männern besaß. „Der Schöpfer bewahrt seine Schöpfung?“

Yaqubs Miene erhellte sich. „Na also. Sie sind doch gar nicht so dumm. Sator opera tenet – tenet opera Sator. Diese Formel ist unser Leitspruch.“

„Deshalb auch die Tätowierung.“

„Ja, das Tenet-Kreuz mit den römischen Ziffern ist unser Erkennungszeichen. Wir sind die Sator-Bruderschaft“

„Die Sator-Bruderschaft“, wiederholte Ondragon nachdenklich. „Davon habe ich noch nie etwas gehört. Wie kommen Sie hierher? Ich meine, woher stammt ihre Bruderschaft? Aus Rom, dem Vatikan? Sind Sie ein Ableger der Illuminaten oder der Tempelritter?“

Der Alte schüttelte vergnügt den Kopf. „Sie gucken zu viele Hollywood-Filme, Monsieur Ondragon. Nein, wir stammen nicht von den Illuminaten ab und auch nicht von den Tempelrittern. Und dass es uns noch gibt, ist lediglich ein Zufall der Geschichte, wenn Sie es so wollen. Eine Fügung des Schicksals. Die Sator-Bruderschaft ist noch gar nicht so alt, wie Sie vielleicht denken. Sie wurde 1941 von General Kammler gegründet – den Herrn kennen Sie ja zweifellos. Die Bruderschaft verfolgte damals im Geheimen das Ziel, eine alles vernichtende Waffe zu entwickeln, mit der das Deutsche Volk den Krieg gewinnen und somit die ganze Welt erobern sollte. Kammler schickte Spione aus, um an die dafür nötige Technologie zu kommen. Die Technologie von Nikola Tesla.“

„Dann waren es tatsächlich seine Spione, die Tesla ermordet haben. Waren das auch Anhänger der Sator-Bruderschaft?“

„Ja, das waren sie“, entgegnete Yaqub und senkte beschämt den Blick. „Nicht gerade die rühmlichste unserer Aktionen, das muss ich zugeben. Die Spione sollten dem General Teslas Technologie bringen, aber die Apparate waren zu groß und so haben sie auf den Rat eines Informanten hin nur das Notizbuch aus Teslas Tresor mit sich genommen.“

„Welcher Informant?“

„In den Reihen von Teslas Vertrauten gab es einen Mann, der den Deutschen für Geld verriet, wo sie das Buch finden würden. Soweit ich weiß, hieß er Georg Scherff. Er war Teslas langjähriger Buchhalter. Zum Glück war er nie Mitglied der Bruderschaft.“

„Aber am Ende ist es den Nazis nicht gelungen, diese Teufelsmaschine rechtzeitig vor der Kapitulation fertigzustellen“, sagte Ondragon.

„Nein, aber sie waren kurz davor gewesen, als die Alliierten anrückten. Kammler musste den Turm und die Labors in Ludwigsdorf zerstören. Er verfrachtete alle wichtigen Teile in die Junkers und floh.“

„Aber wenn die Bruderschaft schon vor Kriegsende existiert hat, wo sind dann die anderen Mitglieder geblieben? Es gab doch bestimmt auch noch welche, die in Deutschland zurückgeblieben sind oder nicht?“

„Ja, aber die hat es in alle Himmelsrichtungen versprengt“, entgegnete Yaqub. „Haben Sie schon mal von der Operation ‚Paperclip‘ gehört? Viele deutsche Wissenschaftler bekamen damals vom US-Militär Straffreiheit zugesagt, wenn sie in die USA auswandern und ihr Wissen der dortigen Forschung zur Verfügung stellen würden. Einer der prominentesten ist Wernher von Braun, der Erfinder der V2-Rakete.“

Ondragon nickte. „Den kennt jeder.“

„Ich denke, einige von uns sind nach Amerika gegangen. Nach dem Krieg haben wir versucht, mit unseren verschollenen Brüdern Kontakt aufzunehmen“, fuhr Yaqub fort. „Leider vergeblich. Vielleicht haben sie der Bruderschaft nach dem Untergang des Deutschen Reiches abgeschworen. Oder sie fühlten sich als Versager und haben sich deshalb nicht zu erkennen gegeben. Deshalb gehen wir davon aus, dass wir die einzigen Überlebenden der Bruderschaft sind.“

„Und warum sind Sie jetzt hier mitten in der Wüste?“

„Das ist jener Zufall, von dem ich sprach. Ich habe Ihnen doch meinen Namen genannt. Yaqub Kahn.“

Ondragon runzelte die Stirn. Kahn? Was sollte an diesem Namen so besonders sein, dachte er, doch plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

„Eschenberg, Schwarz und Kahn!“, rief er aus. „Die drei Wissenschaftler, die von General Kammler hier zurückgelassen worden sind.“

Yaqub nickte. „Werner Kahn ist mein Vater und Albrecht Schwarz der Großvater dieses tüchtigen Mannes hier.“ Er legte Clandestin eine Hand auf die Schulter.

Schwarz alias LeNoire. Natürlich! Ondragon hätte sich am liebsten vor die Stirn geschlagen, bemühte sich jedoch, seinen Ärger über den vorausgegangenen Mangel seiner Kombinationsgabe zu verbergen. „Das klingt soweit plausibel“, sagte er, „nur leider sehen Sie für mich nicht nach den Nachfahren deutscher Wissenschaftler aus.“

Yaqub sah an sich herunter und lächelte. „Ich verstehe Ihre Skepsis. Deshalb gebe ich Ihnen noch einen weiteren Beweis für unsere Herkunft. Bitte schön“, mitten im Satz wechselte er mühelos ins Deutsche. „Auch wenn wir in Ihren Augen nicht so aussehen mögen, aber wir sind tatsächlich Nachfahren der drei Wissenschaftler. Diese mutigen Männer haben aus ihrer aussichtslosen Lage das Beste gemacht. Sie haben sich mit den nomadischen Bewohnern der Oase verbündet und Familien gegründet. In unseren Adern fließt also deutsches wie auch Sahraui-Blut. Aber erzogen wurden wir ganz im Sinne der Bruderschaft.“

„Sie meinen im Sinne einer Nazi-Bruderschaft?“

„Etwas in der Art, ja.“

Ondragon musste unwillkürlich schmunzeln. Das war wirklich Ironie des Schicksals. Da stand eine Gruppe dunkelhäutiger Menschen vor ihm und behauptete, Ableger einer alten Nazi-Sekte zu sein. Absolut phänomenal!

„Ich sehe, dass Sie das komisch finden, Monsieur Ondragon. Und natürlich waren unsere Väter und Großväter Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie, zumindest solange Hitler an der Macht war. Aber sie stand nie im Vordergrund. Mein Vater und seine Brüder im Geiste verehrten die Wissenschaft und nichts als die Wissenschaft. Das war es, wofür sie lebten. Die Nazi-Doktrin legten sie hier in der Wüste schnell ab.“

„Das heißt, Sie arbeiten gar nicht für die Groupe Hexagone?“, fragte Ondragon nun vorsichtig.

„Die Groupe Hexagone hat nichts mit der Sache zu tun. Das war eine falsche Fährte, auf die Clandestin Sie gelockt hat. Mit einigem Erfolg, wie ich sehe.“

Ondragon warf einen bösen Blick auf Clandestin, der stolz sein Kinn vorreckte. Er konnte diesen Hund nicht ausstehen, aber eines musste er ihm lassen, er war ganz schön gerissen! Er wandte sich wieder dem alten Mann zu. „Das heißt also, Sie sitzen seit Jahr und Tag hier in der Wüste und passen auf, dass niemand ihrem Schatz zu nahe kommt, und falls doch einmal Gefahr von außen droht, schicken Sie Ihre Söldner aus, um diese zu beseitigen?“, fasste er zusammen.

„Korrekt!“ Yaqub sah ihn mit einem Ausdruck an, der keinen Zweifel an seiner Aussage ließ.

„Und woher stammt das Gold dort?“, fragte Ondragon und wies auf die Kisten hinter sich.

„Das Gold“, sagte Yaqub wenig beeindruckt, „hat General Kammler zur Sicherung seines Wohlstandes mitnehmen wollen. Doch das Zeug ist ihm bekanntermaßen zu schwer geworden. Er hat Ballast abwerfen müssen. Und jetzt liegt das Zeug hier. Ab und zu verkaufen wir einen Barren, um unsere Ausgaben zu decken, aber mehr nicht.“

„Die Kisten waren also in der Junkers. Was noch?“

Yaqub machte ein Zeichen. „Folgen Sie mir, dann zeige ich es Ihnen!“

Ondragon zögerte. Warum sollte der Kerl ihm das hier alles so freimütig offenbaren? Es gab keinen Grund dafür. Die Bruderschaft musste ihren Schatz um jeden Preis geheimhalten. Es konnte nur bedeuten, dass sie ihn früher oder später entsorgen würden. Er sollte sich also besser einen Ausweg einfallen lassen, solange dieser Yaqub noch so freundlich zu ihm war. Mit scheinbar gelassener Mine trat Ondragon am finster dreinblickenden Clandestin vorbei aus der Höhle und schloss sich Yaqub an. Gefolgt von den anderen Männern liefen sie durch die langen Gänge, von denen unzählige weitere Tunnel und Höhlen abzweigten. Einige der Räume waren angefüllt mit gestapelten Kisten und andere eingerichtet wie kleine Wohnungen, mit Möbeln, Teppichen, Computern und anderer moderner Technik. Ondragon fiel auf, dass überall rotlackierte Metallfässer herumstanden.

„Was ist das?“, fragte er und zeigte im Vorbeigehen auf eines der Fässer.

„Das ist meine Vorkehrung für den Fall, dass jemand Fremdes hier eindringt“, antwortete Yaqub, ohne sich umzudrehen. Ondragon dachte sich seinen Teil und folgte dem alten Mann raschen Schrittes. Als sie kurz darauf an einigen Höhlen vorbeikamen, in deren Felswände längliche Nischen eingelassen waren, blieb Ondragon unvermittelt stehen. Er konnte nicht anders, als einen neugierigen Blick hineinzuwerfen. Auf dem Boden standen allerlei Tontöpfe mit undefinierbarem Inhalt und in den Nischen lag etwas, das aussah wie Lumpenpuppen. Eine dicke Staubschicht lag über allem, und ein muffiger Geruch entströmte der Höhle.

„Das sind uralte Grabstätten“, erklärte Yaqub. „Die Mumien stammen aber nicht von den Oasenbewohnern, sondern von einem viel älteren Volk aus der Zeit, in der die Sahara noch fruchtbar war. Wir haben Gefäße mit Weizen und Hirse gefunden. Sicherlich eine interessante Stätte für Archäologen, aber auch die Sahrauis aus der Oase halten sie streng geheim. Bei ihnen heißt dieser Ort ‚Der Berg der Toten‘ und es ist tabu, ihn zu betreten.“

Welch hübsches Ambiente, dachte Ondragon und nickte.

Yaqub drehte sich um, und sie setzten ihren Weg durch die Katakomben fort. Nach etlichen Biegungen und Abzweigen erreichten sie schließlich das Ende des Ganges und traten in eine Halle. Staunend legte Ondragon den Kopf in den Nacken. Die Höhle besaß die Ausmaße einer Kathedrale und war vollgestopft mit fremdartiger Technologie: bizarr geformte Antennen, altmodische Schaltkästen aus schwarzem Bakelit, gedrungene, düster wirkende Motorenblöcke und Spulen in allen Größen. Das Faszinierendste aber waren die unterschiedlich geformten, mannshohen Radioröhren aus Glas, die in Reih und Glied in einem Sockel aus Messing standen. Aus ihm ragten armdicke, mit Flechtgewebe umwickelte Kabel, die sich mit anderen überall auf dem Boden herumschlängelnden Kabelsträngen vereinten, so dass man aufpassen musste, wohin man seinen Fuß setzte. Ein phosphoreszierendes Leuchten ging von den zylindrischen Röhren aus und tauchte den hallenartigen Raum in diffuses Licht. Der ganze Ort wirkte wie das vergessene Reich eines verrückten Professors.

„Und diese Geräte waren alle schon hier?“, fragte Ondragon, nachdem sein Staunen sich gelegt hatte.

„In der Tat“, bestätigte Yaqub. „Die Station wurde 1943 errichtet und von einer Gruppe deutscher Wissenschaftler betrieben, die hier vor Eintreffen General Kammlers gelebt und geforscht haben.“

„Aber laut Dr. Schuchs Bericht war die Station zerstört, als er mit der Junkers hier landete“, warf Ondragon ein, „und die Wissenschaftler waren alle verschwunden. Nach vollkommener Zerstörung sieht es mir hier aber nicht gerade aus, wenn ich mich so umsehe. Wer hat das alles wieder aufgebaut?“

„Das waren die drei Zurückgelassenen. Sie hatten ja jede Menge Zeit, um die Station zu einem großen Teil wieder herzurichten.“

„Und wo sind die anderen Wissenschaftler geblieben?“, fragte Ondragon.

Yaqub hob die Schultern. „Von ihnen gab es keine Spur. Vermutlich haben sie die Station zerstört und sind geflohen. Vielleicht sind sie in der Wüste umgekommen.“

Ondragon besah sich erneut die Röhren. Über ihnen hing ein Flimmern wie von heißer Luft. Erst jetzt nahm er auch ein hohes Summen wahr und bemerkte, dass überall an den Apparaten kleine Kontrolllämpchen blinkten. Standen sie tatsächlich unter Strom? Woher kam der? Gab es hier im Berg einen Generator?

Der alte Mann fing seinen faszinierten Blick auf. „Dies sind besondere Elektronenröhren“, erklärte er. „Die Ladung der Junkers hat zu einem Großteil daraus bestanden, und es grenzt an ein Wunder, dass die fragilen Glaszylinder alle heilgeblieben sind. Aber mit ihrer Hilfe gelang es meinem Vater und seinen Kollegen, die Station wieder in Betrieb zu nehmen. Die Röhren sind wertvoller als alles Gold der Welt und ein weit unterschätztes, aber entscheidendes Element in Teslas Forschungen. Denken wir nur an das Radio, das er vor Marconi erfunden hat. Für sein Weltensystem hat Tesla im Laufe seiner Schaffensperiode ganz spezielle Röhren entwickelt. Es sind Spulen in verschiedenen Größen und Ausführungen. Die Glasröhren sind evakuiert oder mit Gasen gefüllt und wurden in Ludwigsdorf nach einer Anleitung aus Nikola Teslas Notizbuch gebaut. Der Gruppe von Wissenschaftlern gelang es auch, Teslas Wardenclyffe Tower nachzubauen. Jenes wundervolle Konstrukt dort draußen in der Wüste, durch das Sie in unser geheimes Reich eingedrungen sind. Leider sind diese Röhren und der Turm die einzigen Muster, die noch existieren, denn Teslas Notizbuch und sämtliche anderen Aufzeichnungen sind damals noch im selben Jahr, in dem sie gestohlen wurden, auf unerklärliche Weise wieder verschwunden.“

„Und das ist es jetzt?“ Ondragon ließ den Blick über die unzähligen blinkenden Geräte schweifen. „Teslas Traum? Sein drahtloses Weltensystem!“

„Ja, das ist es.“ Yaqub nickte stolz.

„Und was genau kann es jetzt? Ich meine, ist es eine Waffe oder ein Perpetuum mobile?“

Yaqub überlegte. Dann antwortete er. „Nun, es hat viele Funktionen. Es ist das perfekte All-in-one-Gerät, um es mit heutigen Worten zu sagen. Sämtliche Konstrukteure dieser Welt können von so etwas nur träumen. Aber Tesla hatte schon damals die überlegene Fähigkeit besessen, multifunktional und auf verschiedenen Ebenen zu denken. Das war und bleibt bis heute einzigartig. Teslas Weltensystem ist so simpel wie genial und vereint eine Reihe von Anwendungsmöglichkeiten. Zum einen ist es eine großartige Konstruktion, die drahtlos Energie und Daten von einem Ort zum anderen übertragen kann, natürlich nur, wenn sich dort eine entsprechende Empfangsstation befindet. Das klingt für uns heutige Menschen nicht besonders spektakulär, da wir längst in der Lage sind, große Datenpakete per Funk zu übertragen, aber allein diese Anlage, wie Sie sie hier sehen können, ist in der Lage, so viel Energie zu produzieren, um ganz Las Vergas mit Strom zu versorgen!“

„Tatsächlich?“, fragte Ondragon und ließ skeptisch seinen Blick durch die Höhle schweifen. Das klang doch arg übertrieben.

„Glauben Sie mir“, beteuerte Yaqub, „diese Erfindung kann sogar noch mehr! Sie würde zusätzlich sämtliche Kabel und Überlandleitungen auf der Welt überflüssig machen. Alle Geräte, Maschinen, Gebäude und Fahrzeuge könnten über ein kleines Bauteil kabellos mit Strom versorgt werden. So wie ein Mobiltelefon mit dem Funknetz verbunden ist, wären Geräte und Fahrzeuge über ein weltumfassendes drahtloses Stromnetz verbunden.“

„Das klingt toll, zumindest wenn man Kabelsalat hasst.“

„Sie klingen sarkastisch, Monsieur Ondragon, aber das ist eine bedeutende Sache. Stellen Sie sich vor, Sie bekämen den Strom einfach so aus dem Äther. Autos, Züge, Schiffe und Flugzeuge könnten sämtlich auf Elektromotoren umgerüstet werden, die über das kabellose System mit Energie versorgt würden.“

Reichlich amüsiert über diese Fantastereien schüttelte Ondragon den Kopf und überlegte unterdessen, wie er diesem Verrückten entkommen konnte. Unauffällig ließ er seinen Blick erneut durch die Halle gleiten.

„Ich sehe, Sie glauben mir immer noch nicht“, sagte Yaqub und zog unvermittelt Ondragons Handy aus seiner Tunika hervor. „Das haben wir Ihnen vorhin abgenommen. Hier, nehmen Sie es und holen Sie den Akku heraus.“

Ondragon tat, wie ihm geheißen, und als er den Akku in der Hand hielt, gab ihm Yaqub ein kleines Kästchen aus Messing, das kaum größer war als der Akku und aus dem ein handelsüblicher Klinkenstecker ragte.

„Das ist ein spezieller Empfänger für die drahtlose Energie. Stecken Sie ihn in die Kopfhörerbuchse ihres Handys. Und schalten Sie das Gerät ein!“

Ondragon tat auch das und hob überrascht seine Brauen. Das Handydisplay leuchtete auf und zeigte sogar vollen Empfang an. Und das mitten in der Wüste!

„Okay, das ist beeindruckend“, sagte er und tippte auf Charlizes Nummer. Das Telefon begann zu wählen. Doch bevor die Verbindung hergestellt werden konnte, legte Yaqub eine Hand darauf.

„Nicht doch, Monsieur Ondragon. Das wäre doch viel zu einfach, oder?“

Ondragon grinste entschuldigend und schaltete das Handy aus. „Das ist toll“, sagte er dann, „aber woher kommt die Energie nun? Tatsächlich aus dem Äther?“

„So ist es!“ Yaqub lächelte. „Mit Teslas Weltensystem bräuchten Sie niemals wieder Ihr Handy aufzuladen. Niemand müsste mehr Geld für Strom zu bezahlen. Wir hätten Energie umsonst. Bis in alle Ewigkeit!“

„Funktioniert das alles über den Turm da draußen in der Wüste? Teslas Wardenclyffe Tower? Saugt er die Energie aus dem Äther“, fragte Ondragon weiter, aber nicht nur aus Neugier, er muss auch Zeit gewinnen.

Yaqub schüttelte den Kopf. „Nein, der Turm ist nur der Transmitter, eine Art Vermittler zwischen dem Äther und der stofflichen Welt, so ähnlich wie eine Antenne. Das eigentliche Wunder geschieht mit diesen Röhren dort. Wie ihre genaue Funktionsweise ist, wissen wir nicht, aber sie sind das Kernstück dieses einzigartigen Systems. Es ist also in der Tat so etwas wie ein Perpetuum mobile, wenn Sie so wollen. Aber keines im klassischen Sinne, bei dem sich ein Rad bis in alle Ewigkeit dreht, sondern eher ein Raumenergie-Konverter. Er fängt die Raumenergie ein und wandelt sie in elektrischen Strom um.“

Ondragon musste unwillkürlich an Truthfinder denken, dem dieses Gespräch sicherlich viel Freude bereitet hätte. Leider saß der Bengel gerade Tausende von Kilometern entfernt an seinem Schreibtisch und träumte von großen Abenteuern.

„Aber Sie können es nennen, wie Sie möchten, Monsieur Ondragon“, fuhr Yaqub fort, „Freie Energie, Nullpunktenergie, Neutrinos oder kosmische Strahlung. Jedenfalls ist es eine schier unerschöpfliche Energiequelle. Ihr Ursprung liegt im All. Nikola Tesla hat diese Art von hochenergetischen Partikeln ganz zufällig entdeckt, als er 1899 in seinem Labor in Colorado Springs geforscht hat. Nach der Verkündung dieses Phänomens ist er dafür ausgelacht worden, aber aller Ablehnung und Spott zum Trotz hat er es nicht aufgegeben, einen Weg zu finden, diese kosmische Strahlung einzufangen und zu nutzen.“

„Das klingt großartig“, sagte Ondragon. „Aber ich frage mich dennoch die ganze Zeit, woher Sie das alles wissen können? Schön, Sie sind ein Nachfahre der Männer, die das alles hier aufgebaut haben, aber Sie sind weder Wissenschaftler noch Ingenieur.“

„Das stimmt. Wir sind nur die Wächter dieses Ortes. Und das Wissen darüber wurde uns mündlich von unseren Vätern übertragen. Das war und ist bis heute die sicherste Methode, ein Geheimnis weiterzugeben. Dadurch ist aber leider auch viel Wissen verlorengegangen. Zum Beispiel die Funktionen des Systems. Heute sind uns längst nicht mehr alle bekannt. Wir wissen zwar, dass es auch einen sogenannten Todesstrahl erzeugen kann, haben aber keine Ahnung, wie wir ihn in Betrieb nehmen können.“

„Sehr schade. Auf diese Demonstration wäre ich gespannt gewesen!“ Er legte den Kopf in den Nacken und sah versonnen zu den Geräten auf. „Wenn das System nun aber tatsächlich funktioniert“, sagte er, „grenzt es dann nicht an ein Verbrechen, es der Menschheit nicht zur Verfügung zu stellen?“

Meister Yaqub blinzelte und ein gedankenvoller Ausdruck trat auf sein Gesicht. Schließlich hob er eine Hand und machte eine allumfassende Geste. „Diese fantastischen Apparaturen mögen zwar der ‚Heilige Gral‘ der Wissenschaft sein, aber sie stellen auch eine große Gefahr für die Welt dar. Das paradiesisch verlockende Licht, das sie ausstrahlen, birgt auch finstere Abgründe. Denn der Mensch trägt beides in sich, Licht und Schatten. Genau wie diese fabelhafte Maschine. Das Böse und das Gute sind untrennbar in uns verankert. Das ist unsere Natur. Wissen Sie, was passieren würde, wenn wir Teslas Traum an die Menschen da draußen weitergeben würden?“

„Nun, da fällt mir spontan ein ganz wesentlicher Punkt ein, nämlich dass wir schlagartig frei von der Geißel der Energiekonzerne wären – nur so als kleine Anregung“, entgegnete Ondragon.

Yaqub verzog das Gesicht und Clandestin, der immer noch neben seinem Meister stand, stieß verächtlich Luft aus. „So schlicht, wie Sie sich das denken, ist das leider nicht“, begann der Alte zu erklären. „Was wäre zum Beispiel geschehen, wenn die Nazis das Weltensystem in Betrieb genommen hätten? Richtig. Sie hätten nicht das Gute in ihr gesehen, sondern Böses mit ihr erschaffen. Für sie war es eine Waffe, mit der sie furchtbare Dinge angestellt und ihre Schreckensherrschaft über die ganze Welt ausgeweitet hätten. Und nun übertragen Sie das auf heutige Regierungen …“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause, in der niemand etwas zu sagen wagte. „So ist es. Niemand könnte beschwören, dass nicht das Gleiche passieren würde. Das ist die traurige Wahrheit. Und dies ist nur eine der möglichen Auswirkungen. Selbst ohne böse Absicht würde das System unabsehbare Folgen für unsere Gesellschaft haben.“

„Und welche, bitte schön?“

„Kapieren Sie das wirklich nicht?“ Yaqub sah ihn kopfschüttelnd an wie ein Lehrer einen begriffsstutzigen Schüler. Doch als er schließlich weitersprach, zog sich jedes einzelne Wort des alten Mannes wie ein beklemmendes Band um Ondragons Magen. Am Ende des Vortrages fühlte er sich, als hätte man ihn ins kalte Wasser gestoßen. Und jetzt stand er da, zitternd und frierend angesichts des Szenarios, das Yaqub ihm soeben aufgezeigt hatte.

Dabei war es so einfach wie logisch. Natürlich wäre mit der Einführung von Teslas Weltensystem jeder Mensch frei, so viel Energie zu verbrauchen, wie er wollte. Er wäre unbegrenzt mobil, könnte ungedämmte Häuser bauen und sich einen Scheiß um Emissionen oder Energieverlust kümmern. Er könnte immer das Licht brennen lassen, wenn ihm danach wäre, und niemand würde ihn zur Kasse bitten. Energie wäre unendlich und umweltfreundlich. Eine wahrhaft schöne neue Welt … die gleichzeitig dem Untergang geweiht wäre. Denn jeder Energieproduzent, der auf fossile Brennstoffe und Atomenergie setzte, wäre von heute auf morgen pleite … und ganze Staaten gleich mit ihnen! Viele Länder hielten Mehrheitsanteile an diesen global vernetzten Konzerngiganten oder stockten ihre maroden Haushalte mit einer Energiesteuer auf. Die Folge wäre ein sofortiger Zusammenbruch der etablierten Wirtschaftsysteme. Geldflüsse würden ins Stocken geraten, Banken bankrott gehen und die Börsen implodieren. Von den Auswirkungen auf andere Industrien und auf die finanzielle Lage eines jeden einzelnen Weltenbürgers ganz zu schweigen.

Teslas Weltensystem war eine verdammte Büchse der Pandora!

„Verstehen Sie nun, dass der Traum, den Tesla hatte, ein zweischneidiges Schwert ist?“, fragte Yaqub.

Ondragon nickte. Oh ja, und wie er das verstanden hatte!

Auf den Zügen des alten Mannes erschien ein trauriges Lächeln „Tja, leider ist nicht immer alles, was auf den ersten Blick gut aussieht, auch auf den zweiten gut.“

„Und warum zerstören Sie das dann alles hier nicht?“, fragte Ondragon. „Das wäre doch das Einfachste. Dann könnten Sie sicher sein, dass es niemals in falsche Hände gerät. Und es würde Ihnen viel Mühe ersparen.“

„Darüber habe ich lange nachgedacht“, entgegnete Yaqub. „Es ist eine große Verantwortung, die in unsere Hände gelegt wurde, und jeden Tag stelle ich mir ein und dieselbe Frage: Ist das hier die größte Erfindung der Menschheit oder nur der Anfang des Jüngsten Gerichts? Bis heute konnte ich sie nicht beantworten. Ich bin einfach nicht fähig, die Entscheidung zu treffen, ob ich die Geräte zerstören soll oder nicht. Vielleicht wird es der Generation von Brüdern nach mir gelingen. Ich weiß es nicht und bin deswegen untröstlich. Es ist ein Dilemma. Teslas Arbeiten sind ein Segen und ein Fluch zugleich. Und vielleicht wird der Mensch nie weise genug sein, sie wirklich nutzen zu können.“

„Das kann sein. Mich würde jetzt aber schon dringend interessieren, warum Sie mir das alles gezeigt haben.“

Yaqub hob seinen Kopf und sah ihn an. „Das ist einfach: Sie sind doch ein Mann der Mysterien, Monsieur Ondragon. Geheimnisse sind Ihre Leidenschaft.“

„Ja, und?“

„Ich will nicht, dass Sie sterben müssen, ohne dieses letzte große Rätsel gelöst zu haben!“

„Sterben?“, fragte Ondragon scheinbar naiv, während seine Zentrifuge raste. Jetzt war es so weit. Jetzt brauchte er dringend einen Ausweg! Hilfesuchend sah er sich um.

„Vergessen Sie es“, sagte Yaqub beinahe mitleidig. „Sie kommen hier nicht mehr raus. Dieser Berg wird auch Ihr Grab sein! Haben Sie das nicht gewusst? Es war doch klar, dass ich Sie nicht gehen lassen kann.“

„Na, da komme ich ja gerade rechtzeitig. Was für ein hübscher Plausch unter Freunden!“

Überrascht drehten Ondragon und Yaqub sich um, als sie die fremde Stimme vernahmen.

Hinter ihnen trat ein Mann mit schwarzer Sturmhaube aus dem Schutz einer Maschine und richtete sein M16 auf sie. „Werfen Sie bitte die Waffen weg, meine Herren, und heben Sie die Arme! Das wäre überaus freundlich von Ihnen!“

Diese Stimme, dachte Ondragon, die kannte er doch! Hoffnung keimte in ihm auf und langsam hob er seine Arme. Neben ihm folgte Yaqub seinem Beispiel. Der fremde Eindringling nickte und hinter ihm tauchte plötzlich eine ganze Einheit von vermummten Männern auf. Sie trugen sandfarbene Tarnuniformen und waren bis an die Zähne bewaffnet. Geduldig warteten sie auf den Befehl. ihres Anführers, der breitbeinig dastand. Alles an ihm strotzte nur so vor Selbstsicherheit. Ondragon bemerkte, dass Yaqub sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen war und er am ganzen Leib zu zittern begann. Der schlimmste Albtraum des alten Mannes war soeben wahr geworden. Sein Geheimnis war enthüllt. Das Schicksal der ganzen Welt stand auf Messers Schneide!

Plötzlich trat der Anführer des Sturmtrupps vor und zog sich die Haube vom Kopf. Es war Agent Steiner. Hatte er doch richtig vermutet, dachte Ondragon und lächelte ihm erleichtert entgegen, doch Steiners Miene blieb hart. „Herr Ondragon“, sagte er kühl, „schön, Sie wiederzusehen. Sie können Ihre Arme runternehmen und sich zu uns gesellen. Kommen Sie.“

Ondragon zögerte kurz. Was dachte Yaqub jetzt wohl von ihm? Dass er sein Geheimnis an den deutschen Geheimdienst verraten hatte? Aber so war es nicht. Auch wenn er sich über Steiners Auftauchen freute, so hatte er doch das Bedürfnis, dem Alten klarzumachen, dass das alles nicht so geplant gewesen war. Langsam ging er auf Steiner zu und spürte den brennenden Blick von Clandestin in seinem Rücken. Zumindest war es eindeutig, was dieser jetzt glaubte.

„Das war ja eine hervorragende Arbeit von Ihnen“, sagte Steiner mehr ironisch denn beeindruckt, als Ondragon neben ihm ankam. „Kubicki wird sehr erfreut über den Erfolg der Operation sein.“

„Wo ist Kubicki?“, fragte Ondragon.

„Draußen im Basislager. Mit einem Dutzend weiterer Männer.“ Steiner wandte sich an Yaqub und seine Gefolgsleute. „Sie sehen also, es hat keinen Zweck, Widerstand zu leisten!“

Ondragon sah, dass Clandestin sich unwillkürlich anspannte. Der Kerl schien etwas vorzuhaben. Hoffentlich nichts Dummes.

„Und was wollen Sie jetzt tun?“, erkundigte er sich bei Steiner.

„Als erstes werden wir diese Trachtengruppe dort festnehmen und ins Basiscamp schaffen. Dort wird man sie verhören, während wir in aller Ruhe begutachten, was hier unten alles so Hübsches herumsteht. Sieht sehr vielversprechend aus.“ Der BND-Agent ließ seinen Blick gierig über die Apparaturen gleiten. „Eine entzückende Sammlung. Hat man Ihnen erklärt, wie die Maschinen funktionieren?“

Will er testen, wie viel ich weiß?, überlegte Ondragon, doch bevor er antworten konnte, sah er, wie Clandestin auf den Fersen herumschnellte und mit einem Satz zwischen die Maschinen sprang. Von einem Augenblick auf den nächsten war er verschwunden.

„Lauf, Clandestin! Sator opera tenet!“, rief Yaqub ihm hinterher, doch einer der Söldner brachte ihn jäh zum Schweigen, indem er ihm seinen Gewehrkolben gegen die Schläfe schmetterte. Stöhnend stürzte der alte Mann zu Boden, während Steiner zweien seiner Bluthunde zubrüllte, sie sollten den flüchtenden Clandestin zurückholen.

„Es war ein Fehler, Monsieur Ondragon!“, sagte Yaqub mit bebender Stimme. „Ein großer Fehler!“ Mühsam stemmte er sich wieder auf die Beine, wobei er eine Hand auf seine blutende Schläfe presste. „Clandestin hätte Sie schon in Brasilien töten sollen! Es war dumm von mir, Sie hierherkommen zu lassen. Aber ich hatte gehofft, es würde friedlicher enden. Leider hat die Bruderschaft versagt.“

Ondragon blickte auf den alten Mann. Ein plötzlicher Ruck ging durch Yaqub. Er richtete sich auf und löste sich langsam aus der Gruppe seiner Gefolgsleute.

„Halt! Wo wollen Sie hin? Stehenbleiben!“, befahl Steiner und zielte mit dem MG auf Yaqub. Der ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken und setzte seinen Weg fort. Zielstrebig steuerte er auf einen der großen Schaltkästen zu. Steiner schoss einmal als Warnung in die Luft, doch der alte Mann blieb beharrlich auf Kurs.

Ondragon beobachtete das Spektakel und ahnte, was als nächstes kommen würde, doch Yaqub schien sich nicht dafür zu interessieren. Er zuckte lediglich ein wenig zusammen, als ein weiterer Schuss aus Steiners Waffe die Stille zerriss. Augenblicklich erschien ein roter Fleck auf Yaqubs Tunika. Er breitete sich schnell aus, aber der Anführer der Bruderschaft hielt sich tapfer auf den Beinen und erreichte mit taumelnden Schritten den Schaltkasten. Schwer atmend stützte er sich daran ab. Einige seiner Brüder stießen wütende Schreie aus und wollten ihm zu Hilfe eilen, doch Yaqub drehte sich um und hielt sie mit erhobener Hand zurück. Sein Blick wanderte von seinen Brüdern zu Ondragon. Blut rann ihm aus dem Mund. Lange sahen die beiden Männer einander an.

„Meine Entscheidung ist gefallen!“, flüsterte Yaqub schließlich und sackte leblos in sich zusammen.

Ondragon starrte auf den Schaltkasten. Eine rote Spur zog sich von einem hektisch blinkenden Lämpchen bis zum Boden.

„Was hat der Mistkerl getan?“, rief Steiner und blickte auf den blinkenden Knopf, den Yaqub hinter seinem Rücken heimlich gedrückt haben musste.

„Keine Ahnung“, antwortete Ondragon und duckte sich in Erwartung irgendeines Knalls. Doch nichts geschah. Gebannt schauten alle auf das Lämpchen, das mit einem Mal aufhörte zu blinken. Die Stille, die danach einsetzte, war fast greifbar.

Aber nichts geschah, und Ondragon hörte, wie Steiner erleichtert aufatmete.

„Fehlalarm!“, sagte der BND-Agent spöttisch und drehte sich um. „Der alte Idiot hat wohl den falschen Selbstzerstörungsknopf gedrückt!“

Ondragon sah noch immer auf den toten Yaqub, bemerkte dessen Armreif, an dem der kleine grüne Punkt plötzlich rot leuchtete.

Warum in seinem Geist plötzlich die roten Fässer mit den blinkenden Kästchen auftauchten, wusste er später nicht zu sagen. Sicher war nur, dass sein Instinkt schneller reagierte als sein Geist und im selben Moment, in dem das erste rote Fass in ihrer Nähe explodierte, setzte er zu einem Hechtsprung an. Ondragon flog durch die Luft und prallte im Schutz eines Transformators hart auf den Boden. Eine Hitzewelle schwappte über ihn hinweg und beißender Geruch drang in seine Nase.

Als der ohrenbetäubende Knall verhallt war, konnte er die schrillen Schmerzensschreie vernehmen, die jene ausstießen, die weniger Glück gehabt hatten als er. Eine Hand vor den Mund gepresst spähte er um den Transformatorkasten herum. Was er erblickte, war schlimmer als alles, was er je gesehen hatte. Es schien, als seien sie direkt im Vorhof der Hölle gelandet. Überall in der Halle loderten Flammen. Scheinbar ohne Mühe fraßen sie sich in das Metall der Apparaturen und Geräte … aber auch in die menschlichen Körper. Ondragons entsetzter Blick traf auf die Männer, die schreiend und wild um sich schlagend durch den Raum irrten. Dabei war es egal, ob sie der Bruderschaft angehörten oder dem Sondereinsatzkommando des BND, jeder von ihnen kämpfte mit den Flammen, die sich in ihren Kleidern und Haaren eingenistet hatten. Einigen Verletzten fehlten Gliedmaßen, andere hatten an der Stelle ihrer Gesichter nur noch eine blutige Maske. Es stank nach verbranntem Fleisch und Chemikalien. Und überall zwischen den hungrig züngelnden Flammen lagen abgerissene Körperteile und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Leichen. Es war ein Anblick des Grauens.

Doch dann erblickte Ondragon Steiner und er spürte, wie das Blut in seinen Adern gefror.

Inmitten des um sich greifenden Chaos‘ kniete der BND-Agent auf dem Boden und versuchte in blanker Panik das Feuer auf seinen Wangen auszuschlagen. Doch es blieb an seinen Händen kleben und breitete sich mit jedem Versuch, es zu löschen, weiter auf seinem Körper aus.

Und erst jetzt begriff Ondragon, womit er es zu tun hatte.

Phosphor!

Die Bombe war mit Phosphor versetzt gewesen!

Entsetzt presste er seine Hand fester auf Mund und Nase und beobachtete, wie sich das teuflische Gemisch aus Phosphor und Kautschuk ungehindert auf Steiners Gesicht ausbreitete. Durch den Sauerstoff in der Luft entzündete es sich immer wieder von selbst und konnte weder mit Wasser noch mit Löschschaum erstickt werden. Es brannte einfach immer weiter. Gnadenlos.

Ondragon sah Blut aus Steiners Wangen quellen, doch schien es sofort wieder zu gerinnen und sich wie eine Schicht erstarrtes Wachs auf seine Haut zu legen. Die Löcher in seinem Gesicht wurden größer und etwas Helles blitzte hervor. Steiners Zähne! Aber der Phosphor würde auch davor keinen Halt machen! Er würde sich immer weiter in Steiners Schädel fressen, bis er elendig daran verreckte!

Und auch du wirst daran verrecken, wenn du deinen Arsch nicht endlich hier rausschaffst!

Dank seiner inneren Stimme gelang es Ondragon endlich, seinen Blick vom wie von Sinnen schreienden Steiner loszureißen und sich umzuwenden. Zur selben Zeit explodierten gleich mehrere der Radioröhren über ihm und ein beißender Regen aus Glassplittern prasselte auf ihn hernieder. Schützend warf er einen Arm über den Kopf und lief los. Fort von den wimmernden Verletzten und fort vom grauenhaft entstellten Steiner.

Er passierte noch mehrere der roten Fässer, die neben der endlosen Reihe von Maschinen standen, und dachte, dass es nur eine Frage von Minuten oder gar Sekunden war, bis auch sie hochgehen würden. Nach und nach oder alle auf einmal, das war dabei egal. In den Gängen und Höhlen war mit Sicherheit so viel Sprengstoff gelagert, dass damit der ganze Berg in Schutt und Asche gelegt werden konnte.

Als hätten diese Gedanken einen der unsichtbaren Zünder ausgelöst, explodierte ohne Vorwarnung das nächste Fass – zum Glück am anderen Ende der Halle. Mit einem lauten Krachen schossen glühende Phosphorbrocken wie Lavabomben durch die Luft. Ondragon hechtete unter einen schützenden Vorsprung und wartete, bis der tödliche Regen niedergegangen war. Weißer Qualm breitete sich aus. Giftige Phosphordämpfe! Hastig zog sich Ondragon sein Hemd aus und band es sich vor Mund und Nase. Er musste hier schnellstens raus! Mit brennenden Augen sah er sich um. Wo ging es zum Ausgang? In diesem Labyrinth war das unmöglich zu sagen. Seine einzige Chance war, denselben Weg rauszugehen, den er auch reingekommen war. Aber wo war der?

Ist doch scheißegal! Lauf los, wenn du nicht ersticken oder von einer der Bomben zerfetzt werden willst! Ondragon gab sich einen Ruck und rannte los. Dabei wich er mehr oder weniger geschickt den brennenden Brocken auf der Erde aus. Er hörte, wie hinter ihm weitere der Röhren zerplatzten und der laute Splitterregen die verzweifelten Schreie der Todeskandidaten übertönte. Aber er hatte jetzt keine Zeit für Reue oder Bedauern, er musste zusehen, dass er seine eigene Haut rettete.

Stolpernd erreichte er eine Tür und öffnete sie. Dahinter gähnte ihm ein dunkler Gang entgegen. Kein Feuer. Kein Licht. Der Strom des wundersamen Ätherkraftwerks musste ausgefallen sein. Ondragon tauchte in den Gang und folgte ihm beinahe blind, bis er schmerzhaft gegen eine Wand stieß. Tastend stellte er fest, dass es eine T-Kreuzung war. Er musste sich entscheiden. Links oder rechts?

Er hörte das Donnern weiterer Detonationen hinter sich. Die Fässer explodierten immer schön der Reihe nach. Ob auch hier in den Gängen welche standen? Es war anzunehmen. Denn Yaqub war ein sehr gründlicher Mann gewesen, daran bestand kein Zweifel. Ondragon entschied sich für den linken Gang und tastete sich an der Wand entlang. Doch schon an der nächsten Abzweigung landete er in einem Raum, der sich als Sackgasse herausstellte. Fluchend suchte er nach dem Ausgang. Als er ihn endlich fand und in den Gang zurückkehren wollte, schoss unvermittelt etwas an ihm vorbei. Deutlich konnte er den Luftzug spüren und die schnellen Schritte hören. Es war eine Person. Mit einem Mal ertönten Rufe. Sie kamen vom anderen Ende des Ganges.

„Stehenbleiben! Oder wir schießen!“

Ondragon sah, wie zwei Lichter wild auf ihn zugetanzt kamen. Das mussten die beiden Söldner von Steiner sein, dachte er, die sind noch immer hinter Clandestin her. Also war er es womöglich gewesen, der eben an ihm vorbeigestürmt war. Ondragon zog sich schnell in die Höhle zurück und hörte, wie die beiden Söldner näherkamen. Einer von ihnen gab einen Schuss ab, der Ondragon mächtig in den Ohren klingelte. Er verbiss sich einen Fluch und drückte sich tiefer in die Schatten. Erneut erschütterte eine Explosion den Fels. Es rumpelte gefährlich und kleine Steine rieselten von der Decke. Ondragon vermied es, nach oben zu schauen, konnte er den Druck des Berges doch deutlich spüren. Er zwang sich, noch ein wenig länger zu warten, und bewegte sich dann auf den Ausgang zu. Vorsichtig lauschte er in die Katakomben hinaus. Alles war ruhig. Von den Söldnern war nichts mehr zu hören. Wenn er doch wenigstens eine von ihren Lampen hätte, dachte er und streckte erneut seine Arme aus, um sich den Weg zu ertasten, doch unvermittelt zog er sie wieder zurück, denn schon wieder kam jemand angerannt.

Ganz schön viel Verkehr hier unten! Ondragon trat einen Schritt zurück und verharrte in der Höhle. Die Person lief im Dunkeln an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken, und er wunderte sich, dass der Kerl ohne Lampe so gut zurechtkam. Schnell streckte er den Kopf aus der Höhle und spähte ihm hinterher. In der Finsternis pendelte ein winziges rotes Lämpchen auf und ab.

Der Armreif! Das konnte nur Clandestin sein! Schnell folgte Ondragon ihm. Wenn sich hier unten einer auskannte, dann LeNoire!

Während er versuchte, an dem kleinen tanzenden Lichtpunkt dranzubleiben, hallte immer wieder der Donner der Explosionen durch die Katakomben. Ondragon erhöhte sein Tempo, doch mit einem Mal war das rote Irrlicht verschwunden. Hastig lief er zu der Stelle und erkannte, dass der Gang dort abknickte. Von dem Licht gab es jedoch keine Spur mehr.

Verdammt! Jetzt war er am Arsch. Ratlos sah er sich um. Überall nur Finsternis. Ohne zu wissen, wohin er sich wenden sollte, lief er weiter und wurde wenig später schmerzhaft von einer Wand gestoppt. Wieder eine Sackgasse! Scheiße!

Wütend gab Ondragon dem Hindernis einen Tritt. Es hörte sich hohl an. Hastig tastete er die Wand mit den Fingern ab und fühlte Holz und einen metallenen Griff. Eine Tür! Er öffnete sie und starrte entsetzt auf das Inferno dahinter. Die eine Seite des großen Raumes, der sich vor ihm auftat, stand helllodernd in Flammen, die andere war in weißen Qualm gehüllt. Beißender Gestank drang ihm in die Nase und schnell machte Ondragon die Tür wieder zu, um sich vor dem giftigen Rauch zu schützen. Aber Clandestin musste dort hindurchgerannt sein, dachte er fieberhaft, es gab keinen anderen Weg!

Hinter ihm ertönten die Rufe der Söldner. Die beiden Idioten hatten ihm noch gefehlt! Sie würden ihn in ihrer Hektik vermutlich für Clandestin halten und einfach abknallen. Es gibt keine andere Möglichkeit. Du musst durchs Feuer!

Entschlossen holte Ondragon Luft, drückte sich das Hemd fester vor Mund und Nase und riss die Tür auf. Geduckt lief er in den brennenden Raum und sah sich hektisch um. Er konnte die Hitze des zehrenden Feuers auf seinem nackten Oberkörper spüren. Wo zum Teufel war Clandestin geblieben? Wo war er hingelaufen? Mehrmals drehte sich Ondragon um seine eigene Achse. Die Luft in seinen Lungen wurde allmählich knapp, und er presste seine Lippen fester aufeinander, um nicht der Versuchung zu erliegen, einfach einzuatmen, denn das wäre glatter Selbstmord! Kleine helle Punkte erblühten vor seinen Augen und seine Lunge begann zu protestieren. Luft!, schrie sie. Luft! Tu was!

Da blieb Ondragons Blick an etwas hängen, das ihm vage bekannt vorkam. Er rannte zu der Stelle und erkannte, dass es der Eingang zu dem Tunnel war, durch den er mit Clandestin gekommen war. Die Tür stand einladend offen, und ohne zu zögern lief Ondragon in den Gang hinein. Gerade noch rechtzeitig, denn hinter ihm betraten die beiden Söldner den brennenden Raum. Er konnte ihre Stimmen hören, dann ihre erstickten Schreie, als sie den ätzenden Phosphordampf in ihre ungeschützten Lungen bekamen. Ondragon verschloss seine Ohren und kämpfte mit seinen Lippen, die sich ebenfalls öffnen wollten. Sein ganzer Körper verlangte nur noch nach einem: Luft! Mit aller Macht stemmte er sich gegen das Bedürfnis, einfach nachzugeben, und rannte tiefer in den Tunnel hinein. Die hellen Punkte vor seinen Augen verwandelten sich in schattenartige Flecken, die sich wie flüssige Tinte immer weiter auf seiner Netzhaut ausbreiteten. Und bald wusste er nicht mehr, ob es die pechschwarze Finsternis war, durch die er taumelte, oder nur eine Vision seines nach Sauerstoff schreienden Gehirns.

Du musst weiter. Viel weiter!

Doch dann – mit einem Schlag – versagte seine Selbstbeherrschung.

Seine Hand ließ von Mund und Nase ab, und während Ondragons Hirn noch mit aller Gewalt versuchte, die Kontrolle zurückzugewinnen, holte sein Mund mit einem lauten Schrei Luft.

Einmal, zweimal, dreimal. Er konnte gar nicht genug davon in seine Lungen bekommen.

Mit auf die Knie gestützten Händen stand er da und atmete. Doch sein Geist lief weiterhin Amok.

Ich habe den Tod eingeatmet!

Wie lange wird es dauern, bis ich sterbe?

Doch nichts passierte. Bis die kleine Stimme in seinem Kopf sich wieder zu Wort meldete.

Auch wenn du nicht auf der Stelle tot umgefallen bist, musst du trotzdem weiter! Du bist noch lange nicht in Sicherheit! Auch hier können überall Fässer mit Phosphor herumstehen!

Ondragon richtete sich auf und lief stolpernd durch den dunklen Tunnel. Der Weg erschien ihm viel länger als beim ersten Mal, und er begann sich allmählich zu fragen, ob er nicht doch tot und dies seine ganz persönliche Hölle war. Paul Eckbert Ondragon – verdammt zur ewigen Flucht durch dunkle Gänge, gesalzen mit einer Portion der guten alten Angst vor dem Ersticken!

Doch dann erreichte er endlich die Tür und taumelte in den Turm. Mit brennenden Augen schaute er zu der gigantischen Spule hinauf und ein aberwitzig beschwingtes Gefühl bemächtigte sich seiner. Ohne zu wissen, warum, legte er den Kopf in den Nacken und lachte laut zur Turmkuppel hinauf. Von dort drang ein diffuses Licht zu ihm hinab.

Worauf wartest du?, meldete sich die Stimme in seinem Kopf. Grins nicht wie ein Idiot, sondern hau ab, bevor hier auch noch eines der Fässer hochgeht!

Rasch erklomm Ondragon die rostige Treppe und gelangte in die Kuppel. Erst dort erkannte er, dass es Tageslicht war, das durch den selbstgemachten Eingang ins Innere fiel. Leider befand sich die Öffnung mehrere Längen über seinem Kopf. Ondragon nahm Anlauf, sprang mit beiden Beinen ab und bekam die Kante zu fassen. Unter Aufbietung seiner letzten Kräfte zog er sich hinauf. Dabei war es ihm fast egal, dass er sich an dem scharfkantigen Kupfer beide Hände aufschnitt. Es war wie eine Wiedergeburt, die nur unter Schmerzen stattfinden konnte. Eine Art Läuterung. Der Weg vom Dunkel ins Licht.

Auf der anderen Seite fiel Ondragon wie ein toter Fisch ins Freie, rappelte sich sofort wieder auf und lief so schnell, wie es sein geschundener Körper zuließ, in die Wüste hinaus.

Weiter! Du musst weiter! Mehr Abstand!

Während sein Geist ihm diese Befehle gab, ertönte hinter ihm ein gewaltiger dumpfer Knall. Eine heiße Stichflamme schoss in den Himmel und schleuderte Ondragon nach vorn auf die Knie. Er konnte unter sich die Wucht weiterer Detonationen im Boden spüren und versuchte, erneut auf die Beine zu kommen.

Der Turm! Er flog in die Luft!

Ondragon gelang es, sich aufzurichten und rannte weiter, einfach immer weiter, bis er nicht mehr konnte. Erst dann drehte er sich um und warf einen atemlosen Blick zurück auf die Düne, in der einst der Turm verborgen gewesen war. Ein großer Krater hatte sich aufgetan, und immer mehr Sand rieselte in das qualmende Loch.

Blutend und zitternd ließ sich Ondragon in den Sand fallen, und erst als er in den kühlen morgendlichen Himmel hinaufblickte, realisierte er, dass er es geschafft hatte.