24. Kapitel
23. Mai 2011
Fortaleza, Brasilien
19.07 Uhr
Draußen war es mittlerweile dunkel geworden. Eine weitere tropische Nacht floss wie dickflüssiger Sirup über die Stadt, und die Favela erwachte langsam zum Leben. Ondragon hörte Stimmen und Schritte durch das geöffnete Fester dringen. Er hockte auf einem durchgesessenen Bett und stierte auf einen flimmernden Fernseher. Beides befand sich in einer kleinen Wohnung, die in einem der oberen Stockwerke der Pyramide lag. Ein leicht schimmliger Geruch hing in der Luft. Sein Ursprung war in der Nasszelle beheimatet, besser gesagt, in der Zuchtstation für neuartige Pilz-Algen-Symbiosen, die so aussah, als wäre sie früher mal ein Bad gewesen. Zwei Eimer ersetzten die Toilette, einer mit Wasser, einer mit … na ja, sprechen wir nicht darüber. Ansonsten war die Bude einigermaßen sauber. Sem hatte ihm das Quartier zur Verfügung gestellt, solange sie in Fortaleza nach dem Unbekannten suchen würden. Ondragon hatte schon schlimmere Absteigen erlebt und war froh, hier vorerst sicher zu sein, denn in der ganzen Stadt herrschte große Aufregung wegen des Einbruchs im Labor am Hafen. Überall wurde intensiv nach den Tätern gefahndet.
Auf dem Bildschirm des Fernsehers erschienen zwei Fotos. Das eine stammte von Charlizes Akkreditierungsausweis. „Dr. Letícia Matsumoto Souza“ wurde als mögliche Mittäterin gehandelt, weil sie seit der Nacht des Raubs nicht wieder an ihrem Arbeitsplatz aufgetaucht war. Das andere Bild zeigte die schattenhafte Gestalt von Ondragon selbst. Es war von einer Überwachungskamera aufgenommen worden, die weder Charlize noch er bemerkt hatten. Zum Glück waren beide Fotos reichlich unscharf. In den Nachrichten wurde zwar nicht erwähnt, was aus dem Labor gestohlen worden war, aber man sprach von einer denkbaren Aktion durch eine ausländische Diebesbande. Ob die Schießerei auf einem Parkplatz an der Praia de Meireles ebenfalls damit zu tun hatte, sei noch unklar.
Ondragon, der es besser wusste, schaltete den Ton leiser und blickte neben sich aufs Bett. Dort lagen die Ausdrucke vom Logbuch. Erwartungsvoll rieb er seine Fingerkuppen aneinander. Gleich würde er das Geheimnis von Pandora lüften, doch vorher musste er seine Gedanken ein wenig sortieren – oder, wie Charlize es vorhin so schön ausgedrückt hatte, seinem deutschen Ordnungsinn nachgeben. Er zückte den Notizblock und schrieb hinein, was er bisher von Sem über den großen Unbekannten erfahren hatte.
Sems Leute hatten den alten Toyota nach der Tat verfolgt und ihn noch vor der Polizei in einer ruhigen Seitengasse zur Favela gefunden. Front- und Heckscheibe waren kaputt, der Wagen leer. Aber eine Favela wäre nicht eine Favela, wenn nicht irgendein Bewohner etwas bemerkt hätte. In den Favelas, so lautete ein brasilianisches Sprichwort, hatten die Wände Augen!
Sem hatte also herumfragen lassen und siehe da, es war herausgekommen, dass der Kerl durch das Viertel geflohen war. Wie eine leuchtende Spur zog sich sein Weg durch das Labyrinth bis hin zu einem geheimen Winkel in einem verlassen Fabrikgebäude. Unter einem Stapel aus zerrissenen Plastikplanen hatte der Typ sich dort einen Unterschlupf eingerichtet. Leider war er schon wieder fort, und einige zurückgelassene Gegenstände legten nahe, dass er sein Versteck eilig geräumt hatte. Mindestens eine Woche musste der Kerl sich in dem Gebäude aufgehalten haben, das schätzte Ondragon anhand der Müllreste, die Sem eingesammelt und mitgebracht hatte. Schlauer Junge. Das bedeutete aber auch, dass Mr. Unbekannt schon da war, bevor er und Charlize nach Fortaleza gekommen waren. Hatte der Kerl etwas von Pandora gewusst und ihre Ankunft erwartet? Oder hatte er seinen eigenen Coup durchgeführt und war ihnen nur zufällig deshalb in die Quere gekommen?
Ondragon ging noch einmal die Sachen durch, die Sem aus dem Versteck mitgebracht hatte. Der größte Teil bestand aus Verpackungen von Lebensmitteln und Getränkedosen. Aber es gab auch ein paar recht hilfreiche Indizien, die es Ondragon ermöglichten, eine erste Einschätzung des Unbekannten vorzunehmen. Erstens: Auf dem Müll war nicht ein einziger, brauchbarer Fingerabdruck zu finden. Das war schon mal ungewöhnlich und könnte bedeuten, dass sie es mit einem Profi zu tun hatten. Zweitens: Unter den Verpackungsresten befand sich eine gelbe Bonbon-Dose mit Cachou-Lajaunie-Pastillen. Diese Lutschbonbons mit Mentholgeschmack waren jedoch nur in Frankreich erhältlich, das hatte Ondragon herausgefunden, und sie konnten durchaus ein Hinweis dafür sein, dass der große Unbekannte aus Frankreich stammte, oder sich zumindest kürzlich dort aufgehalten hatte. Außerdem war das Flugzeug, das vor der Küste Brasiliens abgestürzt war, eine Maschine der Air France. Wer hätte also als erstes Wind von den Wrackteilen des Naziflugzeuges bekommen können, als jemand, der in ständigem Kontakt mit der Bergungsoperation stand? Ondragon tippte dabei entweder auf ein Mitglied der BEA, der französischen Untersuchungsbehörde für Flugunfälle mit Hauptsitz in Paris, oder auf einen der Matrosen, die die Kiste geöffnet hatten. Die Franzosen konnten durchaus Kenntnis von der Legende der Junkers 390 und dem verschollenen Hans Kammler samt seiner mysteriösen Nazi-Technologie haben. Und ihr Interesse daran wäre genauso groß wie das jedes x-beliebigen anderen Landes. Vielleicht hatte besagter Mitarbeiter der BEA etwas ausgeplaudert und damit – beabsichtigt oder nicht – etwas ausgelöst.
Ondragon schrieb „FRANKREICH“, in seinen Notizblock und umkringelte das Wort mehrfach. Es war eine erste, lauwarme Spur.
Doch da war noch etwas anderes gewesen, das ihn geradezu alarmiert hatte! Es war ein Streichholzbriefchen mit der Aufschrift „Gran Marquise“. Sein Hotel! Der Kerl war also direkt in seiner Nähe gewesen und hatte ihn beobachtet! Ondragon kramte in seinem Gedächtnis, fand aber kein verdächtiges Gesicht, dem er im Hotel begegnet sein könnte. Offensichtlich hatte sich der Typ sehr geschickt angestellt und war ihm nicht aufgefallen, obwohl er sein Umfeld immer gründlich abcheckte. Ein Schaudern floss über seinen Nacken wie Eiswasser. Er musste es mit seinesgleichen zu tun haben, jemandem, der etwas von seinem Job verstand. Ein Geheimdienstler oder schlimmer noch: ein Söldner wie er!?
Er blätterte eine Seite weiter und trug auf einem frischen Blatt die Beschreibung des Unbekannten ein, welche die Bewohner der Favela abgegeben hatten. Die Angaben waren ein wenig verwirrend, passten sie doch nicht hundertprozentig zu seiner Frankreich-Theorie. Der Kerl sei nicht sehr alt gewesen, um die Dreißig, und recht klein, mit einem dürren, aber durchtrainierten Körperbau. Ungewöhnlich geschmeidig sei er durch die dunklen Gassen gehuscht. Wie eine Eidechse – so lauteten gleich zwei der Berichte. Seine Kleidung sei unauffällig gewesen und hätte aus einem T-Shirt, einer kurze Hose und Ledersandalen bestanden. Mehrere Favela-Bewohner wollten an seinem linken Arm einen silbernen Reif gesehen haben. Ein bizarres, breites Ding „wie eine Manschette aus Metall“. Was auch immer damit gemeint war. Aber das war nicht der Punkt, der Ondragon irritierte. Es war die Hautfarbe des Mannes. Die Bewohner hatten ihn für einen der ihren gehalten. Einen mulato mit hellbrauner Haut und kurzem, schwarzem Kraushaar.
„BRASILIEN“ fügte Ondragon seiner Liste hinzu. War der Unbekannte ein Mulatte mit französischen und brasilianischen Wurzeln? Möglich war es schon, denn Brasilien war ein Einwanderungsland ähnlich den USA. Die Ureinwohner stellten kaum mehr als ein Prozent der Bevölkerung dar. Jemand mit gemischter Herkunft wäre natürlich perfekt für eine solche Aktion. Unauffällig und polyglott.
Ondragon nahm das letzte Mosaiksteinchen zur Hand. Es war eine Zeichnung. Der Armreif war nicht das einzig Ungewöhnliche an dem Burschen gewesen, und auch die Kiste nicht, die er mühelos auf der Schulter getragen hatte. Jemand hatte doch tatsächlich eine Tätowierung an seinem Hals bemerkt und versucht, sie aufzuzeichnen. Es war eine Art Kreuz aus vielen kleinen Strichen.

Ondragon sah es sich lange an, hatte aber keine Ahnung, was es bedeuten konnte, außer dass das Symbol in der Mitte entfernt an das Balkenkreuz der deutschen Wehrmacht erinnerte. Aber was könnte der Unbekannte mit den Nazis zu tun haben? Und dazu noch ein Schwarzer?
Er nahm sein Handy und schaute im Internet die bekanntesten Kreuzsymbole durch. Doch er fand auf die Schnelle keines, das dem Tattoo-Kreuz ähnelte. Er schrieb „WARUM?“ unter seine Notizen und fragte sich, was die Intention des Mannes gewesen sein könnte. Wer war sein möglicher Auftraggeber? Das brachte ihn zu der Ahnung, die ihn überkommen hatte, nachdem Kubicki ihm vom Perpetuum mobile erzählt hatte. Er nahm die Liste zur Hand, die Charlize ihm zusammengestellt hatte. Darin waren sämtliche Industriezweige verzeichnet, die mit Strom, Atomkraft, Gas und Öl zu tun hatten. Umsonst Energie, das konnten solche Konzerne doch nur verhindern wollen. Was, wenn einer von ihnen jemanden beauftragt hatte, das Perpetuum mobile zu finden und zu zerstören? Er las die Namen auf der Liste und hob überrascht die Augenbrauen. Gleich vier der zehn größten Konzerne waren in Frankreich ansässig! Gut möglich, dass sie ihre Finger im Spiel hatten. Nur welcher von ihnen war es? Oder waren es alle zusammen? Ondragon geriet ins Grübeln, kam jedoch zu keiner Lösung und klappte den Notizblock schließlich zu. Er sah auf die Kopien vom Logbuch, die neben ihm auf dem Bett lagen. Vielleicht erfuhr er mehr über den Hintergrund des Unbekannten, wenn er wusste, was der Inhalt des Buches war.
Erwartungsvoll berührte er das Papier. Das Beste hatte er sich bis zum Schluss aufgehoben. Würde sich ihm das Geheimnis gleich offenbaren, oder hielt es ein paar anspruchsvolle Windungen parat? Ondragon spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Das war es, wofür er lebte. Das war seine Religion! Das verhaltene Wispern ungelöster Rätsel.
Plötzlich klopfte es an der Tür, erst ein Mal, dann drei Mal und schließlich wieder ein Mal. Das war das Zeichen, das er mit Charlize vereinbart hatte. Ondragon stand auf und ließ seine Assistentin herein. Sie hatte woanders in der Pyramide Quartier bezogen und vermutlich war ihre Wohnstätte auch ein wenig luxuriöser eingerichtet, da Mylady ja offenbar zur Crème de la Crème der heimischen Mafia-Szene gehörte. Ein wenig zerknirscht bot er ihr das Bett als einzige Sitzgelegenheit an. Zu seiner großen Freude hatte Charlize kaltes Bier und eine Tüte mit wohlriechenden Churrascos dabei. Hungrig stürzte sich Ondragon auf die gegrillten Fleischspieße in scharfer Soße.
„Hm, das war gut!“, seufzte er wenig später und wischte sich die Finger ab. Dann nahm er endlich die Kopien des Logbuches zur Hand. „Und nun lass uns mal sehen, was da so lange auf dem Grund des Meeres gelegen hat!“
„Hai, Chef!“, sagte Charlize mit einem kleinen Nicken.
Ondragon zog die Stirn kraus. Nanu? Nicht mehr die Mafiabraut? Stattdessen die allzeit dienstbereite Assistentin? Er musterte sie. Spielte sie ihm nur die eifrige Mitarbeiterin vor oder war sie tatsächlich gerne bei ihm beschäftigt? Zumindest hatte er ihr nie angemerkt, dass sie unzufrieden gewesen wäre oder sich von ihm unter ihrer Würde behandelt gefühlt hätte. Charlize war über die Jahre zum heimlichen Herzstück von Ondragon Consulting geworden und er konnte sich nicht vorstellen, ohne sie zu arbeiten. Deshalb erstickte er das schleichende Misstrauen unter einer guten Portion Optimismus und rückte ein wenig näher an Charlize heran. Der Duft ihres Schampoos umschmeichelte seine Nase und er fragte sich, wo sie die Dusche gefunden hatte, die er sich so dringend wünschte. Er war seit 36 Stunden wach und stank bestimmt wie ein Iltis. Zum Glück ließ sich Charlize das in ihrer zurückhaltenden, japanischen Höflichkeit nicht anmerken.
Er schaute auf das erste Blatt, atmete tief ein und konzentrierte sich auf die Handschrift des Verfassers. Sie war gestochen scharf und trat durch Charlizes Bearbeitung tiefschwarz auf dem weißen Hintergrund hervor. Von der ehemals faserigen Beschaffenheit der Logbuchseiten war nichts mehr zu erkennen. Nichts erinnerte mehr an ein Buch.
Charlize legte den Kopf schief, als Ondragon die einzelnen Abschnitte ins Englische zu übersetzen begannen. Auf jeder Seite befand sich eine vorgedruckte Tabelle mit Überschriften. Ondragon hatte so etwas schon mal bei seiner Flugausbildung gesehen. Es waren verschiedene Punkte, die der Pilot vor und nach jedem Flug dort eintragen musste, ähnlich wie bei einem Fahrtenbuch für einen Dienstwagen. Die ersten beiden Seiten hatte der verantwortliche Flugzeugführer vorschriftsmäßig ausgefüllt.
Flugzeugtyp: JU 390 – V II. Kennung: RC-DA. Flugzeugführer: Oberst K. Brenner. Zweck des Fluges: Überführung der Maschine für die Fliegerstaffel des Führers. Fracht: keine. Abflug: Prag/Böhmen. Landung: Rerik/Ostsee.
Danach war ein Flug am 28. März 1945 von Rerik nach Bardufoss in Norwegen eingetragen und zwei Tage später einer von Bardufoss über die Insel Paramushiru nach Tokio.
„Tokio?“, entfuhrt es Charlize erstaunt.
„Ja, ich hatte das bisher für ein Gerücht gehalten, aber dieser Flug scheint offensichtlich geglückt zu sein. Wirklich beachtlich für die damaligen technischen Möglichkeiten“, entgegnete Ondragon und las weiter in der Tabelle.
Von Tokio war die Junkers 390 kurz darauf wieder zurück nach Bardufoss geflogen und am 2. Mai 1945 tatsächlich nach Ludwigsdorf in Schlesien.
„Bingo!“, sagte Ondragon und stieß mit dem Finger auf den Eintrag. „Da haben wir es.“
Am 10. Mai 1945 notierte der Pilot einen Flug von Ludwigsdorf nach Spanisch Sahara. Die angegebenen Namen der Passagiere lauteten: General H. Kammler, Dr. F. Eschenberg, Dr. W. Kahn, Dr. X. Schuch und Dr. A. Schwarz. Fracht: unbekannt. Der letzte Eintrag stammte vom 11. Mai. Passagiere: General H. Kammler, Dr. X. Schuch. Fracht: keine.
„Wow!“, raunte Charlize schließlich beeindruckt, während Ondragon in seinen Notizen rasch zu den Vermerken über die Junkers 390 blätterte. Wenn die Eintragungen in dem Flugbuch echt waren, und daran zweifelte er nicht, dann war die Flucht von General Hans Kammler kein Hirngespinst von irgendwelchen Nazi-Mystikern. Sie hatte wirklich stattgefunden! Außerdem stimmten Flugroute und Landung in Spanisch Sahara mit dem überein, was Ondragon zuvor im Internet recherchiert hatte. Leider stand im Flugbuch kein Grund für die Landung in dem westafrikanischen Staat, der um 1945 als neutrale Zone gegolten hatte. Auffällig war jedoch, dass sich beim letzten Eintrag nur noch zwei der ursprünglichen fünf Passagiere an Bord befunden hatten. General Kammler und ein gewisser Dr. X. Schuch. Das konnte nur bedeuten, dass die Fracht und drei der Passagiere in Spanisch Sahara zurückgelassen worden waren. Danach rissen die Tabelleneinträge ab, vermutlich wegen des Absturzes. Wer waren nun aber jene Doktoren, die als Passagiere aufgeführt wurden? Wissenschaftler oder Ärzte? Ondragon tippte auf Wissenschaftler wegen des Projektes „Die Glocke“, mit der dieser Flug in Verbindung gebracht wurde. Leider war nicht das Geringste über die Fracht verzeichnet. Darüber schwieg der Pilot sich aus.
Er nahm sich das dritte Blatt aus dem Flugbuch vor und sah, dass es auf den nächsten Seiten ohne jede Rücksicht auf die vorgedruckten Linien beschrieben worden war.
„Das hat aber nicht der Pilot verfasst“, stellte er fest, „die Handschrift ist eindeutig eine andere.“ Mit dem Zeigefinger fuhr er über die Wörter, so als könnten sie ihm dadurch verraten, von wem sie stammten. Der Duktus war hastig, fast fliegend, so als hätte den Autor die Zeit gedrängt. Und als Ondragon zu lesen begann, wusste er auch, warum:
12. Mai 1945, 1 Uhr – Der Pilot hat mir erlaubt, sein Flugbuch zu nutzen. Bewundere Oberst Karl Brenner für seine zähe Ausdauer am Steuerknüppel. Sprechen wenig. General Kammler hat sich nach hinten in den leeren Frachtraum zurückgezogen. Was er dort macht? Ich weiß es nicht.
Viel Zeit bleibt uns nicht mehr. Tank ist fast leer und nur noch vier der sechs Motoren laufen. Küste Brasiliens liegt in weiter Ferne. Chancen stehen schlecht. Schreibe diese Zeilen, um das Geschehene ins rechte Licht zu rücken. Vielleicht wird eines Tages jemand diese Notiz lesen und mich von meiner drückenden Schuld befreien.
Nachtrag vom 10. Mai 1945 – Unsere Flucht begann in Ludwigsdorf/Schlesien mit Kurs auf Nordafrika. Haben in der Nacht das Mittelmeer überquert, danach Algerien. Unter uns nur Wüste. Unser Ziel: Spanisch Sahara. Dort im Niemandsland befand sich eine von uns errichtete Forschungsstation. Haben versucht, Funkkontakt aufzunehmen, leider erfolglos. Dachten, wir könnten uns da verstecken.
Nachtrag vom 11. Mai 1945 – Landung in den frühen Morgenstunden auf flachem Stück Wüste. In der Nähe ein Gebirgszugs. Fanden Station im Chaos vor. Werkstätten, Funkstation, Labore – alles zerstört und sämtliche Wissenschaftler verschwunden!
Ob es der Überfall eines Wüstenstammes oder der alliierten Streitkräfte war, konnten wir nicht feststellen. General Kammler zeigte sich darüber sehr aufgebracht. Allen war klar, dass wir nicht bleiben konnten. Aber wo sollten wir hin? Jemand schlug Uruguay oder Argentinien vor. Forderten den Piloten auf, den verbliebenen Treibstoff für einen solchen Überflug zu berechnen. Wenig später wussten wir, dass wir es nicht bis nach Südamerika schaffen würden. Schwarz geriet darüber völlig aus der Fassung. Konnte es ihm nicht verdenken, fühlte ich doch eine ähnliche Verzweiflung in mir. Keiner von uns wollte in der Wüste bleiben und hier sterben. Haben diskutiert. General Kammler machte Vorschlag, der uns als hoffnungsvoll erschien. Mache mir jetzt fürchterliche Vorwürfe, dass ich nicht erkannt habe, was dieser Mann vorhatte.
Kammler beschied, Flugzeug zu entladen. Ohne Fracht wöge es weniger und verbrauche auch weniger Treibstoff. Auch der Pilot bestätigte dies als unsere einzige Chance. Wir stimmten Kammlers Plan zu. Brachten sämtliche Kisten in die Station. Dort schien das wertvolle Material für einige Zeit am sichersten zu sein. Zumindest würden hier die Früchte unserer Forschung nicht so rasch in falsche Hände geraten und keinen Schaden anrichten können. Niemand außer uns und den verschwundenen Wissenschaftlern weiß von dieser Station in der afrikanischen Einöde. Als Kammler erklärte, es sei seine Absicht, später wieder hierherzukommen und die kostbaren Geräte zu bergen, waren wir froh, das zu hören. So wäre unsere Forschung nicht vergebens.
Nachdem Maschine leer war, drängte Kammler zum Aufbruch. Wollten an Bord der Junkers gehen, doch Kammler zog Waffe und zwang Kahn, Schwarz und Eschenberg draußen zu bleiben. Drei Mann weniger Besatzung spare noch mehr Treibstoff! Mich ließ er einsteigen. Warum? Wusste ich nicht, aber ich stieg ein, ohne mich umzusehen, ließ meine Kollegen einfach zurück.
Natürlich haben sie sich gewehrt, aber Kammler schoss Eschenberg zur Warnung ins Bein. Sie ließen ab und Kammler schloss die Tür. Wir starteten, als die Sonne unterging. Weiß noch, wie die drei Zurückgelassenen unten im Sand hockten und uns nachsahen. War erleichtert, das musste ich zugeben. Beruhigte mich damit, dass ich nur ein Wissenschaftler sei und kein Kriegsmann. Hatte keine Wahl, als mich dem Willen des Generals zu beugen. Zum Glück war dort unten eine Oase und ich hoffte, den anderen würde es gelingen, sich bis dorthin durchzuschlagen.
1.30 Uhr – Unter uns der Atlantik. Soeben hat Pilot zwei weitere Motoren abgeschaltet. Müssen Sprit sparen. Ob das was bringt? Bin skeptisch und will mich keiner einfältigen Hoffnung hingeben.
Weiß inzwischen, warum Kammler mich mitgenommen hat. Bin der einzige aus unserer Forschungsgruppe, der damals die Notizen von Nikola Tesla gelesen und verstanden hat. Das Tagebuch des großen Erfinders war einzigartig. Ein Segen für das Deutsche Volk. Waren so kurz davor, den Traum Teslas zu verwirklichen, den Heiligen Gral der Wissenschaft zu finden! Doch Buch von Tesla ist spurlos verschwunden. Habe den Inhalt aber in meinem Gedächtnis behalten. Könnte alle Geräte neu zum Leben erwecken, Kraft meines Geistes. Kammler weiß das. Wir haben vor zwei Jahren gemeinsam an Teslas Tagebuch gearbeitet. War also keine Nächstenliebe von Kammler, mich mitzunehmen, nur Berechnung. Er will wenigstens das Wissen retten, wenn er schon die teuren Geräte zurücklassen musste. Kammler ist ein sehr ehrgeiziger und vorausschauender Mann, er weiß, dass er etwas braucht, um seine Zukunft in einem fremden Land zu sichern. Er will aus meinem Wissen Kapital schlagen. Hätte ich doch bloß den Mut aufgebracht, bei den anderen in der Wüste zu bleiben. Es wäre meine Pflicht gewesen, ihnen beizustehen, meinen Brüdern im Geiste. Aber das Rad des Sämanns lässt sich nur schwerlich zurückdrehen. Das Wissen wird mit mir untergehen. Bin untröstlich. Ein unendlich wertvoller Schatz wird für ewig verlorengehen. Stelle mir vor, dass eines Tages ein mutiger Forscher die Wüste durchkämmt und auf das stößt, was wir dort zurückgelassen haben. Wünsche mir dies zum Wohle des Deutschen Volkes, nein, zum Wohle der ganzen Welt! Und hoffe auf des Schicksals rechten Wink.
2 Uhr –Beide Motoren laufen noch. Doch Nadel der Tankanzeige auf Null! Bereiten uns auf Wasserlandung vor. Ich kann nicht schwimmen, bin in den Bergen aufgewachsen. Mein Schicksal ist besiegelt. Werde das kalte Wasser des Atlantischen Ozeans in meinen Lungen spüren, so wie einst die Unglücklichen der Titanic.
Habe hinten im Laderaum einen Schuss gehört. Keiner muss nachschauen, was geschehen ist. Wir wissen es. Kammler hat sich davongestohlen! Dieser feige Verräter!
Warten auf Ausfall der beiden Motoren. Pilot und ich schweigen. Jeder ist in sich selbst gefangen.
Segelflug. Wissen nicht, ob wir nahe genug an Küste gelangen können. Wie es wohl sein wird, von den Fischen aufgefressen zu werden? Vollkommen spurlos zu verschwinden in den Gezeiten der Meere?
Flugzeug ächzt unter unseren Sitzen. Wird uns ein guter Sarg sein. Muss das Flugbuch jetzt in wasserdichte Kiste tun. Gebe es Gott, dass die Nachwelt etwas von unserem Schicksal erfährt. Möge der Finder weise damit umgehen.
Gezeichnet Dr. rer. nat. Xaver Johann Schuch
Ein sehr bewegender Bericht über das dramatische Ende einer Flucht, fand Ondragon. Er wollte sich gar nicht ausmalen, wie die letzten Minuten an Bord der Junkers gewesen sein mochten, bevor sie auf dem Wasser aufprallte und ihre Insassen mit in die Tiefe riss … welch ein erdrückender Moment. Und trotzdem hatte dieser Dr. Schuch alles diszipliniert festgehalten. Bis zum letzten Augenblick. Leider war im Text weder die Rede von der Art der Geräte, die sie zurückgelassen hatten, noch davon, wo genau das geschehen war. Bei einer Oase in der Nähe eines Gebirgszugs irgendwo in Spanisch Sahara. Das war alles. Aber Oasen gab es bestimmt mehrere Dutzend in dem genannten Gebiet. Warum hatte Dr. Schuch keine genaueren Hinweise hinterlassen, wenn er es sich doch so sehr wünschte, dass der „Schatz“ irgendwann gefunden werden würde? War es letzten Endes doch zu geheim? Zu gefährlich? Immerhin sprach Schuch auch von falschen Händen und etwaigen Schäden, die er verursachen könnte. Handelte es sich dabei um Teslas berüchtigte Strahlenkanone? Oder doch um das glockenförmige Flugobjekt mit Antigravitationsantrieb? Ondragon biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Und was könnte Schuch mit dem „Heiligen Gral der Wissenschaft“ gemeint haben? Das Perpetuum mobile? Das Notizbuch von Tesla? Aber wo war das Buch jetzt, wenn es den deutschen Wissenschaftlern damals abhanden gekommen war?
Begleitet von einem diffusen Gefühl der Enttäuschung ließ Ondragon seine malträtierte Unterlippe los. Das Zeug lag irgendwo mitten in der Wüste. Es würde die berühmte Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen bedeuten, wenn er sich darauf einließ. Und dann auch noch ausgerechnet die Sahara! Nicht gerade der freundlichste und zugänglichste Ort auf diesem Planeten. Vielleicht hatte der gute Dr. Schuch in seiner Annahme recht: Das Vermächtnis Teslas war für immer verloren. Begraben unter dem heißen Sand Afrikas.
Ondragon nahm das letzte Blatt zur Hand und stellte überrascht fest, dass darauf lediglich Zahlen geschrieben waren.
„Das haben wir auf der hintersten Seite des Logbuches entdeckt“, erläuterte Charlize. „Es ist mit ziemlicher Sicherheit dieselbe Handschrift wie die von Dr. Schuch.“
„Also hat er doch noch etwas hinzugefügt. Was könnte das darstellen?“ Ondragon betrachtete die Zahlen, die in acht gleichgroßen Quadraten angeordnet waren, und zwar in zwei Viererreihen übereinander. Er zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht sind es Auflistungen der Fracht … oder Koordinaten“, sagte Charlize.
„Hm, warte mal. Letzteres können wir schnell herausfinden.“ Ondragon gab eine der Kolonnen bei einem Geokonverter im Internet ein. „Fehlanzeige. Keine Koordinaten. Die Zahlen müssen etwas anderes bedeuten. Wäre ja auch zu einfach gewesen.“
Charlize fuhr mit einem Finger über die Reihen. „Könnte auch ein Code sein“, murmelte sie gedankenvoll.