25. Kapitel

03. August 1899
Colorado Springs
morgens

Am nächsten Morgen nahm Philemon im Speisesalon schnell sein Frühstück ein, bestehend aus Kaffee und süßen Brötchen. Von Dr. Tesla und den beiden anderen war nichts zu sehen. Entweder schliefen sie noch oder sie waren schon wieder im Labor tätig. Philemon spürte einen Stich in der Brust. Es störte ihn noch immer, dass man ihn ausgeschlossen hatte.

Das änderte jedoch nichts an seinem Plan, dachte er grimmig, und wenn dieser gut verlief, dann hätte er seinen Teil zu Dr. Teslas Ehrenrettung beigetragen und seine Loyalität bewiesen. Der Doktor würde dies mit Wohlwollen zur Kenntnis nehmen und ihn das nächste Mal hoffentlich nicht mehr fortschicken.

Du weißt aber, dass du dich damit selbst betrügst, mahnte eine innere Stimme, während er seine Kaffeetasse leerte. Du tust das nicht bloß, weil du den Ruf Dr. Teslas reinwaschen willst, sondern weil dein Misstrauen dich dazu treibt. Du zweifelst zutiefst an der Aufrichtigkeit des Doktors und hast bloß Angst, dass dein großes Idol mit Makeln behaftet sein könnte. Was ist, wenn du herausfindest, dass an der ganzen Sache tatsächlich etwas faul ist?

Philemon verzog unwillig das Gesicht und würgte den Kaffee herunter. Für Wenns und Abers gab es später noch genug Zeit. Mit der Serviette tupfte er sich den Mund ab und stand vom Tisch auf. Er nahm seinen Hut, verließ das Hotel und trat auf die sonnenbeschienene Straße. Nichts erinnerte mehr an den unheimlichen Marsch in der vergangenen Nacht und die drohenden Worte des Konstablers. Entschlossen spazierte Philemon zu Benson’s Restaurant. Dort würde er nach dem Weg zum alten Foley fragen.

Als er durch die Tür in den Schankraum trat, wandten sich ihm sämtliche Gesichter zu. Rund ein Dutzend Männer starrten ihn an. Einige von ihnen feindselig, andere neugierig. Philemon biss die Kiefer aufeinander und ließ sich nicht anmerken, wie unangenehm ihm die Situation war. Erhobenen Hauptes ging er zur Theke, von wo aus ihn der Wirt mit finsterer Miene musterte.

„Was wollen Sie denn hier?“, fragte er.

Nanu, dachte Philemon, was war aus der Gastfreundlichkeit vom ersten Tag geworden? Da konnte man mal sehen, wie schnell man an diesem Ort in Ungnade fiel. Er straffte seine Gestalt und legte eine lässige Ausdruckweise an den Tag: „Wenn Sie mir sagen, wie ich zu Benjamin Foley finde, dann bin ich ruckzuck wieder verschwunden und Sie werden sich nie wieder von mir als Gast belästigt fühlen.“ Er schob ein süffisantes Lächeln hinterher und hoffte, dass er souverän wirkte. In Wirklichkeit fühlte er sich ganz und gar nicht so.

Der Wirt stützte sich mit beiden Händen auf den fleckigen Tresen und lehnte sich vor. Die Muskeln an seinen behaarten Unterarmen traten deutlich hervor. Philemon spürte, wie die beiden Männer, zwischen denen er stand, ihn regelrecht mit ihren Blicken bedrängten, und ihm wurde heiß unter seinem Jackett. Er bemühte sich, ruhig weiterzuatmen.

Der Wirt mahlte mit seinem mächtigen Unterkiefer, wandte schließlich den Kopf und spie einen langen braunen Strahl Kautabak hinter den Tresen. Anschließend wischte er sich über den Bart, in dem einige Fäden des ekelerregenden Sekretes hängengeblieben waren. „Zu Foley“, sagte er mit dunkler Stimme. „Soso. Was will er denn da, der Großstadt-Knirps?“

Philemon ignorierte die Beleidigung und wartete weiterhin ab.

Der Wirt wechselte einen Blick mit den Männern, die kaum merklich nickten. „Gehen Sie die Pikes Peak Avenue nach Osten bis zur El Paso Street“, sagte er dann, „danach rechts bis zum Ende und noch einige hundert Meter weiter in die Prärie hinaus. Dort treffen Sie auf ein Wash, ein ausgetrocknetes Flussbett. Folgen Sie dem Ziegengestank, die Hütte vom alten Foley ist nicht zu verfehlen. Aber passen Sie auf Ihre eleganten Stadtschuhe auf, dort draußen ist es staubig.“ Der Wirt grinste unverschämt.

„Die Prärie ist eben nichts für feine Pinkel wie Sie. Geben Sie gut auf sich Acht!“, ergänzte einer der Männer und bleckte seine gelben Zähne.

„Meinen Dank, die Herren“, erwiderte Philemon unbeeindruckt und lüpfte kurz seinen Hut. „Ich empfehle mich.“ Er verließ das Esslokal und trollte sich schnell in Richtung Osten. Während er der Wegbeschreibung folgte, verflüchtigte sich sein Zorn über die Männer. Sie wussten es ja nicht besser. Er bog auf die El Paso Street ein. Hier standen ausnahmslos große Holzhäuser, überschattet von hohen Bäumen, gepflegte Anwesen in viktorianischem Stil. Wie um alles in der Welt kamen die Leute auf die Idee, sich ausgerechnet hier in Colorado Springs niederzulassen? Mitten im staubigen Nichts! Und obendrein in einem selbstgefälligen Kaff ohne den Hauch von aufrichtiger Freundlichkeit! Verständnislos schüttelte Philemon den Kopf.

Nach einer Weile begannen sich die Häuserreihen zu lichten und die Straße verwandelte sich in einen Pfad. Die Häuser waren weniger prächtig und schon an der nächsten Biegung stand Philemon mitten in der vor Hitze flimmernden Prärie. Hier wuchsen keine schattenspendenden Bäume mehr, nur noch struppiger Wüstenbeifuß und verdorrtes Süßgras. Unter der glühenden Sonne marschierte er auf die Ebene hinaus. Der Pfad schlängelte sich zwischen einigen Felsformationen und undurchdringlichem Gestrüpp in Richtung Süden. Mehrere Male kreuzten ein Rennkuckuck und eine aufgeschreckte Schar Kalifornischer Wachteln seinen Weg.

Wie angekündigt stieß er bald auf den Wash. Der Schweiß hatte mittlerweile sein Hemd unter dem Jackett durchtränkt. Mit brennenden Augen blickte er auf den ausgetrockneten Wasserlauf, der aus glattgeriebenen weißen Kieseln bestand, die anzeigten, dass hier zur Regenzeit regelmäßig ein reißender Strom durchfloss. Philemon schlug einen Haken nach links und marschierte weiter am Rand des Washs entlang, dabei hielt er seine Nase in den Wind. Und tatsächlich drang ihm kurz darauf der unverwechselbare Geruch von Ziegen in die Nase. Die Hütte konnte also nicht mehr weit sein. Er umrundete einen weiteren Felsen und sah das windschiefe Bauwerk auch schon vor sich liegen. Es duckte sich in den Schatten mehrerer Mesquite-Bäume, deren Zweige von unten zu einer klaren Linie abgefressen worden waren. Ziegen mähten wirklich alles ab, was ihnen in die Quere kam!

Philemon blieb stehen und warf einen Blick zurück. Von Colorado Springs war kaum noch etwas zu sehen. Nur der Kirchturm ragte vor der blassgrauen Silhouette der Berge in den Himmel. Er drehte sich wieder um und betrachtete die von der Sonne ausgeblichene Holzhütte. Ein Hauch alter Zeiten umwehte sie – ein klägliches Überbleibsel aus dem „Wilden Westen“, jener fabelhaften Zeit der Pioniere und Planwagen. Philemon war noch nie weiter nach Westen als bis nach Chicago gereist, wo er 1893 als frisch gebackener Schulabsolvent die Wunder der Kolumbus-Weltausstellung bestaunen durfte. Sie war von Nikola Tesla persönlich elektrifiziert worden, nachdem er den Kampf um den von ihm propagierten Wechselstrom gegen Thomas Edison gewonnen hatte. Aber Chicago und auch New York waren fortschrittliche und aufstrebende Metropolen, gegen die Colorado Springs so lächerlich unbedeutend wirkte, dass es einem beinahe leid tat.

Entschlossen setzte Philemon seinen Weg zur Hütte fort. Er hatte schließlich etwas mit dessen Bewohner zu klären. Als er bei der Behausung anlangte, schaute er sich um. Niemand war zu sehen, nur das Meckern der Ziegen drang an sein Ohr.

„Hallo?“, rief er vorsichtshalber, denn er hatte wenig Lust, eine Ladung Schrot auf den Pelz gebrannt zu bekommen. „Hallo, Mr. Foley! Sind Sie da?“

Keine Antwort. Philemon trat in den Schatten der baufälligen Veranda. Von Nahem sah die Hütte noch verkommener aus. So also lebte es sich westlich des Mississippi als angesehener Bürger eines maßgeblichen Kurortes! Weit genug weg von der feinen Gesellschaft, aber noch nah genug dran, um für Klatsch und Tratsch herzuhalten. Philemon hob eine Hand und pochte energisch an die geschlossene Tür. Stille antwortete.

Unschlüssig verharrte er. Sollte er die Tür öffnen und nachsehen? Oder die Ziegen suchen? Vielleicht hielt sich der Hirte in ihrer Nähe auf. Er entließ erneut einen Ruf in die flimmernde Hitze des Vormittags. Weiter hinten auf der Ebene tanzte die gelbliche Säule einer Windhose in der staubigen Luft. Philemon blinzelte in die Sonne. Dann drehte er sich um und erschrak. Hinter ihm stand ein abgerissener Kerl mit verfilztem Bart und Schlapphut. Seine Hände waren riesige Pranken und hielten eine Flinte umklammert.

„Was zum Teufel wollen Sie hier?“, blaffte er ihn an.

„Sind Sie Mr. Foley?“, fragte Philemon furchtsam und hob rasch beide Hände.

„Ja, bei den Eiern meines Vaters, diesem Bastard! Und wer sind Sie?“ Das Gesicht des Alten war unter einer schmierigen Schicht aus Staub und Schweiß kaum zu erkennen. Dafür leuchteten seine blauen Augen umso klarer. Aufmerksam huschten sie über den ungebetenen Gast.

„‘N feiner Pinkel, sind Sie, was?“, knurrte er schließlich. „Sind nich‘ von hier.“

Philemon räusperte sich, stellte sich vor und erklärte dem Mann sein Anliegen: „Ich bin aus New York und arbeite draußen in dem Labor mit D-“

„Was? In dem Geisterhaus? Hauen Sie bloß ab! Damit will ich nichts zu tun haben! Los, verschwinden Sie!“ Der Lauf der Flinte zuckte.

Philemon presste die Lippen aufeinander. Ihm hätte klar sein müssen, dass der Kerl nicht so leichtfertig alles ausplaudern würde. Erst recht nicht gegenüber einem Fremden. Ihm schwante, dass die Männer im Benson‘s deshalb so hämisch gegrinst hatten. Aber so schnell wollte er nicht aufgeben. Er zog den Hut vom Kopf und unternahm einen neuen Anlauf. „Mr. Foley, ich bin nicht gekommen, um Ihnen Angst einzujagen. Im Gegenteil, Sie haben recht. Von Ihrer Warte aus betrachtet, gehen merkwürdige Dinge in dem Laborgebäude vor. Aber es ist nichts, was sich nicht mit einfachen Worten erklären ließe. Bitte nehmen Sie die Flinte runter und lassen Sie uns wie Gentlemen miteinander reden. Ich glaube Ihnen ja, dass Sie etwas Merkwürdiges gesehen haben und vielleicht kann ich ja zur Aufklärung des Spuks beitragen.“

Der Alte rührte sich nicht. Nur sein misstrauischer Blick flackerte weiterhin über Philemon.

„Bitte. Mr. Foley! Ihr Bericht über die Ereignisse jener Nacht ist mir wichtig.“

„Und Sie woll’n mich nich’ verulken wie die anderen Idioten aus der Stadt?“

„Nein, ganz bestimmt nicht.“

Der alte Ziegenhirte schien zu überlegen. Dann senkte er die Waffe und kam humpelnd auf ihn zu. „Na schön, ich hab sowieso nichts gegen ein bisschen Gesellschaft.“ Er wies auf einen klapprigen Schaukelstuhl und eine Bank, die auf der Veranda standen. Philemon bedankte sich artig und ließ sich vorsichtig auf der Bank nieder.

„Wollen Sie Wasser? Ich habe einen Brunnen“, fragte Foley.

Philemon überlegte, ob er das Risiko eingehen sollte, sich den Magen an unsauberem Wasser zu verderben, und nickte dann. Er hatte eine staubige Kehle von seinem Marsch und etwas Erfrischung konnte nicht schaden. Der Alte verschwand daraufhin hinterm Haus und kam wenig später mit einer zerbeulten Zinnkanne wieder. Er schenkte klares Wasser in zwei Emaillebecher und reichte Philemon einen davon. Der wischte den Rand mit seinem Ärmel sauber und nahm einen Schluck. Das Wasser war kühl und schmeckte frisch. Durstig leerte er den Becher und stellte ihn neben sich auf die Bank. Der alte Foley hatte sich derweil in den Schaukelstuhl gesetzt und sich ein Pfeifchen gestopft. Mit einem Streichholz zündete er sie an. Bläulicher Rauch stieg auf und wehte in die verdorrte Landschaft hinaus. Gemächlich nahm er ein paar Schlucke aus seinem Becher.

„Sie kommen also aus der großen Stadt im Osten. Schön grün dort, hm?“, fragte er und blinzelte verträumt dem Rauch der Pfeife nach. Das Kraut roch scheußlich.

„Ja“, entgegnete Philemon.

„Regnet viel.“

„Kann man wohl sagen.“

„Soso …“

Das schien eine der Standardphrasen hier in Colorado Springs zu sein. „Soso“ bedeutete demnach so viel wie, „Kann schon sein, ist mir aber egal“. Philemon verlagerte sein Gewicht auf der Bank und fragte sich, wann der Alte endlich mit der Sprache rausrücken würde. Ungeduldig wischte er sich den Schweiß von der Stirn und sah zu, wie Foley in aller Ruhe seine Pfeife rauchte. In einer Stunde musste er zurück in der Stadt sein, um dort etwas zu essen und danach im Labor zu erscheinen.

Er war so tief in seine Gedanken versunken, dass er nicht merkte, wie der alte Foley mit einem Mal seinen Kopf drehte und ihn durchdringend ansah. „Was wollen Sie von mir hören, Fremder? Wie in jener unseligen Nacht ein Mann vom Blitz getroffen wurde, oder dass die Männer seitdem Nacht für Nacht vor dem Laboratorium herumlaufen und nach ihm rufen?“

Überrascht schaute Philemon in die grellblauen Augen. „Sie rufen nach ihm? Wer?“

„Na, der verrückte Doktor und die beiden anderen, der Blonde und der kleine Dicke. Fast jeden Abend nach Sonnenuntergang laufen sie um das Gebäude und rufen nach dem Kerl. Immer um dieselbe Zeit. Ich weiß das, weil ich in der Gegend meine Ziegen weiden lasse.“

Philemon überlegte. Er hatte nie mitbekommen, dass Tesla oder die anderen nach jemandem gerufen hätten. Andererseits war er auch noch nicht oft bis nach Sonnenuntergang dortgeblieben. „Und was rufen sie?“, erkundigte er sich.

„Den Namen des Mannes. Frederick, immer wieder, Frederick!“

Frederick Myers, dachte Philemon aufgewühlt. Es war also doch etwas mit ihm passiert! „Erzählen Sie mir mehr davon!“

Der Alte sah ihn eine Weile ruhig an und blickte anschließend hinaus auf die Prärie. „In Ordnung, aber nur wenn Sie mich nich’ auslachen. Ich habe es satt, mich verspotten zu lassen. Ich bin nämlich nicht blöde, ich weiß, was hinter meinem Rücken über mich geredet wird. Aber ich habe gesehen, was ich gesehen habe, und es war keine Einbildung, wie die Leute im Ort es mir einreden wollen. Es ist passiert, so wahr ich hier sitze!“

Wenn er wüsste, dass seine Geschichte in Colorado Springs der Gassenhauer schlechthin war, dachte Philemon und gab dem Ziegenhirten schnell sein Ehrenwort.

„Nun gut, mein Junge. Ich erzähle Ihnen die Geschichte.“ Foley legte die Pfeife beiseite und faltete die Hände auf dem Schoß. „Es war vor über einem Monat. Es hatte ein paar Tage zuvor einen Regenguss geben und ich hatte meine Ziegen auf die Prärie hinausgetrieben, damit sie sich am frischen Grünzeug sattfressen konnten. Am Abend machte ich mich auf den Weg, sie wieder reinzuholen. Ich folgte ihren Spuren, dabei kam ich wie immer am Laboratorium vorbei. Ich habe dort schon häufig komische Geräusche im Innern gehört, aber an diesem Abend war es still. Ich ging weiter in die Prärie hinaus, fand meine Tiere und lockte sie zu mir, damit wir uns auf den Rückweg machen konnten. Es war inzwischen dunkel. Aber ich kenne die Ebene wie meine Hosentasche. Als wir an dem Gebäude vorbeigingen, hatte ich schon so ein seltsames Gefühl. So ein Kribbeln, das sich über den ganzen Körper legt, kennen Sie das?“

Philemon nickte und Foley schüttelte sich, als erlebe er die Schrecken der Nacht von Neuem. „Es war eine Vorahnung, ganz gewiss! Auch die Tiere waren unruhiger als sonst. Sie wollten schnell weiter. Ich folgte ihnen, damit sie nicht in alle Himmelsrichtungen davonliefen. Doch dann begann es im Laboratorium zu rumoren. Zuerst war da nur ein tiefes Brummen, das immer höher wurde. Blitze flackerten durch die Ritzen der Bretterwände und plötzlich gab es einen lauten Knall! Danach war es mit einem Schlag wieder düster, das fürchterliche Rumoren allerdings ging weiter. Noch nie im Leben hatte ich eine solche Angst gehabt, das können Sie mir glauben!“ Foley machte eine Pause, um Atem zu schöpfen. Philemon bemerkte, dass die Hände des alten Mannes zu zittern begonnen hatten. Er wirkte zutiefst beunruhigt.

Mit heiserer Stimme erzählte er weiter. „Es knallte und knisterte. Es klang wie ein Gewitter, das im Innern des Hauses tobte. Ich konnte den Krach von den fernen Bergen widerhallen hören, ein rollender, unheilvoller Laut. Doch was dann geschah, hat mir buchstäblich die Haare zu Berge stehen lassen. Zuerst dachte ich, meine Augen spielen mir einen Streich. Das Haus hat angefangen zu leuchten! Halten Sie mich nich’ für blöd, aber es war so. Zuerst nur der Turm auf dem Dach, dann das ganze Gebäude. Kleine Lichtbälle sind aus dem Gras aufgestiegen und um mich herumgeflogen. Elmsfeuer! Irrlichter aus der Unterwelt!“ Foley bekreuzigte sich, obwohl ihm anzusehen war, dass er die Kirche von Colorado Springs nicht allzu oft von innen gesehen haben dürfte.

Philemon lächelte in sich hinein. Bis jetzt hatte der Alte nichts weiter beobachtet, als er selbst auch. Und es war auch klar, dass Foley es aus seiner Sicht nur für einen bösen Spuk halten konnte. Aber wie sollte er einem solch ungebildeten Mann verständlich machen, dass das, was er gesehen hatte, überhaupt nichts mit Geistern und Irrlichtern zu tun hatte, sondern lediglich mit Physik?

„Seien Sie unbesorgt“, sagte er stattdessen, „diese Phänomene sind vollkommen ungefährlich. Sehen Sie es lieber als Naturspektakel an, als Schauspiel der Elementarkräfte.“

Foley stierte ihn irritiert an. „Es war Elmsfeuer!“, beharrte er. „Und nichts anderes können Sie mir weismachen. Es war ein Zeichen, das mich und andere warnen soll vor dem, was da im Laboratorium vor sich geht! Ich sage Ihnen, das ist reines Teufelswerk. Es hat noch nie etwas Gutes gebracht, sich in die Kräfte der Natur einzumischen!“

Da hatte der alte Knabe recht. Niemand wusste, was dabei herauskam, wenn man Millionen von Volt durch die Erde pumpte, dachte Philemon. Geschweige denn, was es für Auswirkungen auf die Lebewesen hatte. Den elektrifizierten Nachtfaltern war es jedenfalls schon mal nicht gut bekommen. Was sie wieder zurück zu der Frage brachte, was mit Frederick Myers geschehen war.

„Und was ist jetzt mit diesem Mann, der vom Blitz getroffen wurde?“, erkundigte er sich.

Foley blickte ihn an. Eine unergründliche Furcht stand in seinen Augen geschrieben. Aber war es nur die Furcht vor der Erinnerung oder die Angst davor, das Böse beim Namen zu nennen? Der alte Ziegenhirt wollte etwas sagen, doch ein Hustenanfall schüttelte ihn. Als er sich wieder gefangen hatte, spie er geräuschvoll auf die Veranda aus und sprach danach mit leiser Stimme weiter: „Nun, ich sah das Licht der Elmsfeuer. Sie schwebten um mich herum. Da ertönte plötzlich ein Schrei.“

„Ein Schrei?“

Foley nickte. „Und er war erfüllt von Todesangst.“

„Todesangst? Sind Sie sicher?“

„Ja doch! Ich habe meinen Blutzoll im Bürgerkrieg bei den verdammten Konföderierten geleistet. Ich weiß genau, wie sich sowas anhört, mein Junge!“

Philemon hob eine Hand. Er hatte verstanden. „Und was geschah danach? Nach dem Schrei?“ „Dann folgte ein lauter Knall und schlagartig wurde im Gebäude alles düster! Fort waren das Leuchten und das Grollen … und das Geschrei. Mit einem Mal, alles still! So als hätte man jemandem die Kehle durchgeschnitten!“

Philemon spürte, wie sich seine Haare auf den Unterarmen aufstellten. Wenn er eben noch abgeklärt über die ganze Sache gedacht hatte, so fühlte er jetzt, wie sich ein dumpfes Grausen bei ihm einschlich. Er ahnte, dass der alte Foley gleich etwas sagen würde, das die Grundfesten seines Denkens erschüttern würde. Dass diesmal er derjenige sein würde, der an der Wirklichkeit zweifelte. Wie ein kleines Kind hielt er die Luft an und krallte dabei unbewusst seine Finger in den Stoff seiner Hose.

„Ich wusste nicht, was ich tun sollte“, fuhr Foley krächzend fort. „Wegrennen oder nachsehen, ob die da drinnen meine Hilfe brauchten? Ich ging einige Schritte auf das Gebäude zu bis zum Stacheldrahtzaun und lauschte. Ich konnte gedämpfte Stimmen hören. Sie sprachen hektisch miteinander.“

„Haben Sie etwas verstehen können?“, unterbrach Philemon atemlos.

„Hmm … ja. So etwas wie ‚Um Himmels Willen!‘ und ‚Frederick ist verschwunden‘. Bis einer der Männer sagte, er sei bestimmt vom Blitz getroffen worden. Daraufhin wurde der andere nervös und rief laut, dass sie lieber Hilfe holen sollten, aber eine dritte Stimme fuhr dazwischen. ‚Nein!‘, sagte sie, ‚wir dürfen nicht zu voreilig sein, sonst bringen wir das ganze Experiment in Gefahr!‘“ Der Alte nickte gedankenverloren, so als müsse er sich selbst die Richtigkeit dieser Auskunft bestätigen. „So war es. Das haben die Stimmen gesagt.“

„Frederick ist verschwunden? Sagten Sie nicht, er sei verbrannt?“

„Das weiß ich doch nicht so genau! Ich kann nur von dem erzählen, was ich gehört habe. Glauben Sie, ich denke mir das aus?“, entgegnete Foley gereizt.

„Nein, nein“, lenkte Philemon ein. „Aber warum behaupten Sie dann, der Mann sei zu Asche verbrannt? Das können Sie doch gar nicht gesehen haben, wenn sich das Ganze im Labor abgespielt hat“

„Ich habe es ja auch nicht gesehen, ich habe es gerochen!“, sagte der Alte aufgebracht.

„Gerochen?“

„Ja, da war ein Geruch. Vielmehr ein fürchterlicher Gestank! Wie aus dem Pfuhl der Hölle!“

Philemon runzelte die Stirn.

„Mein Junge, Sie brauchen gar nicht so dämlich zu schauen, es war der Geruch der Hölle, wie ich ihn im Krieg erlebt habe! Es stank nach Schießpulver, heißem Metall und verkohltem Fleisch!“

Eine ungewollte Erinnerung stieg in Philemon auf und er drängte sie schnell zurück in den dunklen Abgrund, in den sie gehörte. Er wollte jetzt nicht daran denken, was damals an der Universität geschehen war.

„Jawohl, verbranntes Fleisch!“, bestätigte Foley unterdessen. „Und eines ist sicher: In dieser Nacht ist dort ein Mann geröstet worden. Ob nun wegen eines Blitzschlags oder durch das, was Sie Elektrizität nennen, ist mir scheißegal! Auf jeden Fall sind diese Experimente, die dort durchgeführt werden, hundsgefährlich. Man sollte diese Höllenwerkstatt schließen und alle, die darin arbeiten, zum Teufel jagen! Und nun verlassen Sie auf der Stelle mein Grundstück! Es war ein Fehler, Ihnen das alles zu erzählen. Sie gehören ja eh zu denen.“ Foley packte seine Flinte und richtete sie auf seinen Besucher.

Philemon sprang auf. „Was meinen Sie damit: Ich gehöre zu denen?“

„Na, zu diesen Schnüfflern, die sich in der Stadt herumtreiben und die Leute ausfragen! Diese Pinkertons!“

„Pinkertons?“

Statt zu antworten, feuerte Foley ohne Vorwarnung eine Ladung aus seiner Flinte ab. Erschrocken presste Philemon beide Hände auf den Bauch und suchte nach einem Loch, während der Knall noch in seinen Ohren sauste. Doch Foley hatte bloß in die Luft geschossen; alle seine Gliedmaßen waren unversehrt.

„Sind Sie irre?!“, schrie Philemon empört.

„Wenn hier einer irre ist, dann dieser verrückte Doktor da draußen!“, knurrte Foley und hob erneut die Flinte.

„Sie sind ein verdammter Querkopf!“, schrie Philemon, machte auf dem Absatz kehrt und floh hinaus in die Prärie. Erst als er außer Sichtweite der Hütte war, verlangsamte er sein Tempo und ging keuchend zurück zur Stadt.