19. Kapitel
30. Juli 1899
Colorado Springs
morgens im
Labor
„Ich habe gehört, Sie machen sich Sorgen, Mr. Ailey.“ Dr. Tesla bedeutete ihm, in die kleine Kammer zu kommen, und bot ihm einem zweiten Stuhl an, der an seinem Arbeitstisch stand. Philemon setzte sich und legte seine Hände in den Schoß.
„Nun?“, fragte der Doktor fordernd. „Was haben Sie auf dem Herzen?“
Der junge Assistent senkte scheu den Blick. „Es ist so, Dr. Tesla, ich mache mir in der Tat gewisse … Gedanken.“
„Über Mr. Myers und seinen Verbleib?“
Schlagartig fiel Philemon das Gespräch mit Joe Herkimer wieder ein und der angebliche Koffer von Myers in der Abstellkammer des Hotels. Noch hatte er es nicht geschafft, Herkimers Behauptung zu überprüfen, zu müde war er nach den langen Arbeitstagen gewesen. Aber woher wusste Dr. Tesla, dass ihn das beschäftigte?
„Frederick Myers ist ein sehr begabter junger Ingenieur“, sagte Tesla, als habe er seine Gedanken gelesen, „Yale-Absolvent, so wie Sie. Er war mit meiner Arbeit sehr vertraut und uns in den wenigen Wochen, die er hier für uns gearbeitet hat, eine große Hilfe. Leider hat eine schwere Krankheit seiner Mutter ihn zurück nach Boston gerufen, so dass ich ihn aus meinen Diensten entlassen und mich nach einem Ersatz für ihn umsehen musste. Das brachte Sie hierher, Mr. Ailey, nachdem man Sie mir wärmstens empfohlen hatte. Gibt es an dieser Prozedur etwas zu argwöhnen?“ Tesla sah ihn ruhig an, doch Philemon entdeckte in seinem Blick trotzdem einen verhaltenen Vorwurf.
„Ich bitte um Verzeihung“, entschuldigte er sich, „ich wollte Sie nicht verärgern! Nichts liegt mir ferner!“
Tesla lächelte nachsichtig und sein Tonfall wurde wieder milder. „Ich erzähle Ihnen jetzt etwas, Mr. Ailey. Nennen Sie es eine Anekdote oder einen gutgemeinten Rat. Ich bin ein Mann, der viel erreicht hat, der von den Industriemagnaten dieser Welt umworben und geschmeichelt wurde und der unwillentlich zu Ruhm und Ehre gelangt ist, obwohl er nichts anderes getan hat, als seinem angeborenen Instinkt zu folgen. Ich habe immer nur um des Forschens willen geforscht, nie des Geldes wegen. Und ich erlaube mir, viele Menschen an meiner Seite Freunde und Gönner zu nennen. In meinem Umfeld befinden sich jedoch leider auch gewisse Leute, die mir meine Erfindungen neiden oder sogar Angst vor ihnen haben. Das Schlimmste aber sind jene Individuen, die meine Theorien für ausgemachten Blödsinn halten und mich deshalb verachten.“
„Aber, Dr. Tesla, wie könnte man Sie und ihre großartige Arbeit angreifen?“, warf Philemon ein.
Der Doktor hob eine seiner behandschuhten Hände. „Das ist nicht so schwer zu verstehen. Unter meinen Feinden befinden sich schließlich auch Konkurrenten, namhafte Wissenschaftler, die es eigentlich besser wissen müssten, die sich aber in ihrem wissenschaftlichen Geist verwirren ließen. Merken Sie sich eines, Mr. Ailey: Das größte Hindernis für neue und bahnbrechende Erfindungen sind Neid und Vorurteile! Vorurteile, die durch eine bewusst handelnde Opposition in die Köpfe der Experten gepflanzt werden. Ich bekomme diese bornierte Ablehnung sehr oft zu spüren. Vor einigen Jahren habe ich durch sie einen schmerzlichen Verlust erlitten, der mich sehr erschüttert hat, aber keineswegs von meiner Arbeit abbringen wird!“
Philemon wusste, das der Doktor auf den Brand seines Labors anspielte. Er sah, wie der hagere Mann die Augen schloss und mit den Fingerspitzen seine Nasenwurzel knetete. Ein verhaltener Seufzer entstieg seiner schmalen Brust, so als trauere er um die Zeit, die nicht nur ihm, sondern der gesamten Menschheit verloren gegangen war. Nach einer Weile fuhr Tesla mit seiner Rede über das grundlegende Misstrauen gegenüber dem Unbekannten fort.
„Auch in dieser Stadt gibt es Personen, denen meine Forschung ein Dorn in ihrem verblendeten und kleinbürgerlichen Auge ist, und sie würden es nur allzu gerne sehen, wenn ich noch heute meine Sachen packte und hier verschwände. Auch wenn diese Persönlichkeiten es niemals zugeben würden, tun sie doch alles, um mich und meine Arbeit in Misskredit zu bringen. Die Leute von Colorado Springs reden viel und gerne, wie Sie bereits erfahren haben dürften, und nicht immer ist das, was sie so geflissentlich und brühwarm weitertragen, wahr. Diesem Umstand haben wir es zu verdanken, dass Sie, Mr. Löwenstein, Mr. Czito und ich hier nicht wohlgelitten sind. Aber ich habe nicht vor, mich von solch unbedeutenden Kleinigkeiten in meiner Arbeit beeinflussen zu lassen. Ich werde meine Experimente so lange fortsetzen, bis ich ruhigen Gewissens sagen kann, dass ich erfolgreich war. Schenken Sie dem Gerede auf den Straßen und in den Lokalen keine Aufmerksamkeit, Mr. Ailey. Und falls Sie doch etwaige Zweifel plagen sollten, wenden Sie sich vertrauensvoll an Mr. Löwenstein.“
Philemon nickte. „Das werde ich. Haben Sie vielen Dank für Ihren Ratschlag, Doktor.“
Teslas Blick wurde wieder lebendig. „Famos, dann können wir uns ja jetzt Ihrer eigentlichen Frage zuwenden.“ Er richtete sich beinahe erwartungsvoll in seinem Stuhl auf.
Philemon sah ihn verdutzt an. Er hatte doch gar keine Frage gestellt.
Der Doktor lächelte geheimnisvoll. „Sie wollen doch wissen, woran wir hier forschen, oder nicht?“
„Ja, sicher.“
„Schön. Es verhält sich nämlich so, mein junger Freund, dass unser Planet angefüllt ist mit elektrischen Schwingungen, er ist sozusagen ein Reservoir an elektrischer Energie. Ich bin nach Colorado Springs gekommen, um zu beweisen, dass die Erde auch als ein gigantischer Leiter fungieren kann. Wenn dem so ist, wie ich es vermute, werden wir in Zukunft unsere Nachrichten einfach durch die Erdkugel schicken können – Telegraphieren ohne Kabel sozusagen.“
„Durch die Erde?“, fragte Philemon verwirrt. „Aber sagten Sie nicht anfangs, Sie würden Energie mit Hilfe der großen Antenne draußen auf dem Dach an entfernte Orte übertagen?“
„Das stimmt, aber zu der Antenne kommen wir später. Es gibt verschiedene Wege, Energie zu übertragen. Zunächst wollen wir uns dem Potenzial der Erdkugel widmen. Sie ist lebendig, in ihr pulsieren gewaltige Mengen an Energie! Das ist eine Tatsache, die ich unlängst bewiesen habe. Während andere noch an dieser Tatsache zweifeln, arbeite ich bereits daran, eine praktikable Methode für mein Weltensystem zu liefern! Und ich bin sicher, dass mir dies gelingen wird!“
„Und wie kommen Sie darauf, dass die Erde ein Leiter ist?“, fragte Philemon.
Tesla hob beide Hände wie ein Zauberer, der kurz davor war, seinen Trick zu enthüllen. „Es war ein denkwürdiger Tag, und ich werde ihn nie vergessen. Am 3. Juli, also vor beinahe vier Wochen, habe ich ein Phänomen beobachtet – und ich denke, dass ich der Einzige bin, der dieses Phänomen je beobachtet hat. Es geschah während eines heftigen Gewitters, da zeigte ein neuartiges Aufzeichnungsgerät, das ich eigens für diesen Zweck konstruiert habe, bei jeder Blitzentladung leichte Spannungsschwankungen in der Erde an. Aber als das Gewitter weiterzog, wurden sie nicht etwa schwächer, wie man angenommen hätte, sondern stärker und kehrten in regelmäßigen Abständen zurück, selbst als das Gewitter bereits über 300 Kilometer weit entfernt war.“
Philemon hob die Brauen. „Und wie erklären Sie das?“
„So unmöglich es Ihnen auch erscheinen mag und so ungeheuerlich sich die Bedeutung dieser Beobachtung auf die Menschheit auswirken wird, aber es ist wahr: Wir haben an jenem denkwürdigen Tag stationäre terrestrische Wellen beobachtet!“
„Sie meinen, stehende Wellen … in der Erde?“
„Ganz recht, mein junger Freund. Bei den Blitzentladungen wurden starke, elektrische Impulse durch die Erde gesandt bis hin zu den Antipoden. Dort auf der anderen Seite wurden sie erstaunlicherweise ähnlich wie Schallwellen reflektiert und kamen mit unverminderter Stärke zurück. Die Erde hat also mit einem Echo in Form einer stationären Welle geantwortet! Ist das nicht phänomenal?“
Philemon nickte. Diesmal zurückhaltender.
Teslas Augen glänzten, als er weitersprach. „Diese Entdeckung machte mich zunächst fassungslos, aber dann habe ich weitere Versuche und Berechnungen unternommen, und damit meine zuvor postulierte Annahme unwiderlegbar bewiesen. Es ist möglich, Energie ohne nennenswerten Verlust durch den Erdball zu übertragen! Stellen Sie sich vor, die stationäre Welle eröffnet uns gewaltige Möglichkeiten.“ Tesla machte eine allumfassende Geste. „Wir könnten überall auf der Welt Wasserkraftwerke wie die bei den Niagara Fällen errichten, vollkommen ungeachtet der Infrastruktur. Wir könnten sogar die Viktoriafälle in Afrika bändigen und den Strom kabellos nach Europa schicken. Damit wären wir unabhängig von Brennstoffen wie Erdöl oder Kohle, deren Vorkommen endlich sind und die wir zum Wohle nachfolgender Generationen schonen sollten. Außerdem bräuchten wir keine Übertragungskabel und somit auch kein Kupfer mehr. Ich sage Ihnen, mit meinem Weltensystem wird es in wenigen Jahren machbar sein, über jede beliebige Entfernung Nachrichten und Energie zu übertragen. Der Export von sauberer Energie wird zu einer Haupteinnahmequelle von vielen Ländern werden und der Mensch könnte sich an jedem beliebigen Ort niederlassen. Selbst in der Wüste. Alles, was wir dafür benötigen, um dies zu verwirklichen, sind meine Verstärkungs-Transmitter. Ich denke da an eine spezielle Art von Türmen, in die ich meine modifizierten Spulen in leistungsfähiger Größe einbaue. Wir errichten sie in bestimmten Abständen rund um den Globus und verteilen kleine, handliche Geräte, die es jedem Einzelnen ermöglichen, individualisierte Signale zu empfangen! Schnell, billig und sicher! Entfernungen werden bedeutungslos, jeder kann mit jedem kommunizieren, ohne Zeitverlust und ganz gleich, wo er sich aufhält. Die Völker dieser Erde werden zusammenrücken und durch meine Erfindung zu einem besseren Verständnis untereinander gelangen. Kriege werden sinnlos sein und der Vergangenheit angehören! Der Mensch wird eine neue Bewusstseinsebene erklimmen.“
„Das klingt fantastisch, Dr. Tesla!“, sagte Philemon begeistert.
„Nicht wahr, mein junger Freund? Wir tun also nichts Unlauteres hier. Wir erschaffen nur etwas Neues. Mein Labor steht jedem offen, der an meiner Arbeit interessiert ist, nicht aber dem, der nach Verleumdung oder gar Gewalt trachtet.“ Der Doktor lehnte sich zurück und verschränkte die behandschuhten Finger ineinander.
Philemon war noch immer ganz hingerissen von der Vision, die Tesla ihm aufgezeigt hatte. Sie war revolutionär und versprach eine strahlende Zukunft, in der die Menschen in Frieden leben und jederzeit Zugriff auf unbegrenzte Energie hatten. Was könnte der Mensch damit alles an Taten vollbringen? Philemon spürte, wie der Geist Teslas ihn berührte und mit Energie erfüllte. Sein Blick schweifte vom blassen Gesicht des Doktors auf das Regal an der Wand, auf dem eine lange Reihe von schwarzen Notizbüchern stand. Darin hatte Dr. Tesla seine bemerkenswerten Gedanken verewigt. Eine ganze Welt voller Gedanken, in die er soeben einen winzigen Einblick erhalte hatte.
„Die Gegenwart können wir getrost jenen überlassen, die zaudern“, sagte Tesla feierlich, „die Zukunft aber, für die ich arbeite, ist meine!“ Er beugte sich vor und hob einen Finger. „In den kommenden Wochen werden wir hier zweierlei Aufgaben zu bewältigen haben, Mr. Ailey. Erstens die Konstruktion eines leistungsstarken Transmitters, der genau auf die elektrischen Eigenschaften der Erde und andere Körper abgestimmt ist und in der Lage sein wird, das gewaltige Reservoir an Energie in ihrem Innern mit Impulsen anzuregen. Zweitens – und jetzt kommen wir zu der Antenne – werden wir mehrere Experimente durchführen, in denen wir versuchen, Energie über eine Antenne durch den Äther zu versenden.“
„Durch den Äther?“
„Ja, denn ich habe herausgefunden, dass der Äther nicht flüssig, sondern gasförmig ist – ganz nebenbei jener bedeutende Fakt, den Dr. Hertz bei seinen Experimenten mit elektromagnetischen Wellen vollkommen außer Acht ließ. Deshalb erkenne ich seine Ergebnisse, mit denen er glaubt, die Theorie von Maxwell zu untermauern, auch nicht an.“
„Aber Heinrich Hertz hat doch bewiesen, dass der Äther, wie es in Maxwells Theorie postuliert wird, tatsächlich existiert. Wir wissen doch, dass Licht, Strahlungswärme und elektrische Phänomene allesamt Schwingungen in einem strukturlosen Medium sind. Ein Medium ähnlich einem Fluidum, das von unvorstellbarer Feinheit ist, gleichzeitig aber auch starr wie der härteste Stahl sein kann. Was ist an dieser Äther-Theorie falsch?“
Tesla schüttelte den Kopf. „Ich habe die Versuche von Hertz mit meinen viel leistungsstärkeren Apparaten wiederholt und bin zu einem ganz anderen Ergebnis gekommen als er, eben weil ich weiß, dass der Raum mit einer gasförmigen und nicht flüssigen Substanz gefüllt ist, in der sich Wellen durch abwechselnde Kompression und Expansion fortpflanzen. Ich nenne diese Wellen Skalarwellen. Das sind Längswellen, ähnlich wie Schallwellen. Hertz hingegen arbeitete hauptsächlich mit Transversalwellen. Die anders geartete Natur der Skalarwellen ignorierte er dabei völlig. Ich habe mich dieses Fehlers angenommen und ihn ausgeglichen. Meine Ergebnisse zeigen eindeutig, dass der Äther gasförmig ist und nicht flüssig, und dass er alles umgibt, was wir sehen können und nicht sehen können. Folglich werde ich mein Augenmerk auch weiterhin verstärkt auf die Erforschung der Skalarwellen richten.“
Philemon war skeptisch, nickte aber trotzdem. Das, was Dr. Tesla da erzählte, widersprach sämtlichen Lehren, die an den Universitäten vermittelt wurden. Es schien ganz offensichtlich eine Neigung des Doktors zu sein, anerkannte Theorien auseinanderzunehmen und auf den Kopf zu stellen. Mit einem winzigen Fingerstreich sprengte er Gesetze, die seit Jahrzehnten Gültigkeit besaßen, und stellte sie der Wissenschaft mit einem Lächeln zur Disposition. Das war selbst für den fortschrittlich denkenden Philemon eine Herausforderung und er wusste, dass auch er sich hier auf dem Prüfstand befand. Eines wurde durch dieses Gespräch deutlich: Mit Dr. Tesla zu arbeiten, bedeutete, Althergebrachtes über Bord zu werfen und das Ungewöhnliche an die Stelle des Gewöhnlichen zu setzen.
„Für diesen zweiten Versuch der Energieübertragung durch die Luft mit Hilfe der Skalarwellen“, fuhr Dr. Tesla unbeirrt fort, „werden wir die energieübertragenden Eigenschaften bestimmter Luftschichten in der Atmosphäre nutzen. Dazu müssen wir Terminals in der entsprechenden Höhe installieren, sprich eine Antenne auf dem Dach.“
„Oder auf dem Berg“, schlug Philemon vor.
„Ja, ganz recht, ich dachte sogar an den Pikes Peak selbst. In den nächsten Tagen werde ich Pläne für eine ganze Reihe von Experimenten entwerfen, um sie von Ihnen durchführen zu lassen. Ich stütze mich dabei ganz auf Ihre sowie Löwensteins und Czitos tatkräftige Hilfe. Kann ich auf Sie zählen?“ Dr. Tesla sah ihn durchdringend an.
„Natürlich! Stets zu Ihren Diensten!“, sagte Philemon voller Eifer. Trotz seiner Skepsis war er stolz darauf, an diesen vielleicht umwälzenden Ereignissen teilhaben zu dürfen.
„Bestens, mein Lieber. Haben Sie noch weitere Fragen?“
Philemon verneinte, er musste das Gehörte erst einmal verdauen, bevor sein Hirn bereit für neue Fragen war.
„Also, dann wollen wir mal zurück an unsere Arbeit gehen, jeder nach seiner Fasson.“ Tesla klopfte auf sein Notizbuch, das vor ihm lag. Es trug auf dem Einband einen goldenen Ring. Philemon verstand die Geste und verließ den kleinen Raum.
Einen gedankenvollen Moment lang verharrte er vor der geschlossenen Tür und blickte still in das Zwielicht des Labors. Dann gesellte er sich zu den beiden anderen Assistenten, die gerade damit beschäftigt waren, verschiedene Oszillatoren für einen Versuch vorzubereiten, der für heute noch anstand.