26. Kapitel
23. Mai 2011
Fortaleza, Brasilien
21.30
Uhr
„Es ist ganz bestimmt ein Code“, sagte Charlize erneut. „Schau mal, so könnte man ihn vielleicht entschlüsseln.“ Sie tippte mit dem Stift auf ein Blatt des Notizblockes, auf dem sie ein nummeriertes Alphabet geschrieben hatte.
„1 gleich A und 2 gleich B?“, fragte Ondragon skeptisch. „Ich glaube, ein Wissenschaftler vom Schlage Dr. Schuchs hatte bestimmt mehr auf dem Kasten!“ Er musste gähnen und hielt sich eine Hand vor den Mund. Die erste Aufregung über den Inhalt des Flugbuches war verebbt und er spürte nur noch Müdigkeit. Heute würden sie dem Rätsel nicht weiter auf den Leib rücken.
„Nichts für ungut, Charlize, aber ich muss mich dringend aufs Ohr hauen. Du kannst ja noch ein wenig weiter daran herumdoktern, wenn es dir Spaß macht. Auch an diesem komischen Kreuz-Tattoo. Holst du mich um acht Uhr ab?“
„Hai. Oyasumi nasai, Chef.“
„Gleichfalls, schlaf gut.“ Ein erneutes Gähnen zwängte seine Kiefer auseinander und er schaffte es gerade noch rechtzeitig, Charlize zu verabschieden und die Tür hinter ihr zu verriegeln, bevor es lauthals hervorbrach. Mit der Pistole griffbereit unter dem Kopfkissen schlief er wenig später ein.
Eine Melodie durchdrang seinen Traum. Ein Traum, in dem seine Mutter mit ungerührter Miene in der Bibliothek stand und immer wieder sagte: „Das ist unsere Chance, Siegfried. Das ist unsere Chance!“ Aber was für eine verdammte Chance meinte sie? Und woher zum Teufel kam diese Musik? Zäh regte sich ein Erkennen in seinem Unterbewusstsein.
Kurz darauf war Ondragon hellwach und griff nach seinem Handy, aus dem es laut tönte: „I know there‘s something going on!“ Sein altbewährter Klingelton von der Band Frida. Müde blinzelte er auf die Nummer, es war eine Hamburger Vorwahl. Rasch ging er dran.
„Hallo, Paul!“, sagte Günther Ludewig. „Was ist los? Du klingst ja, als ob du noch schläfst! Ach, verflixt!“ Ondragon hörte, wie der Professor sich vor den Kopf schlug. „Mein Fehler! Ich habe vergessen, dass es bei dir da drüben noch Nacht ist. Entschuldige. Soll ich dich später anrufen?“
„Schon gut, Günther, jetzt bin ich wach. Was gibt es?“ Ondragon setzte sich auf. Das Laken war völlig durchgeschwitzt. Mehr denn je sehnte er sich nach einer kalten Dusche. Er streckte seinen Arm aus, um den altersschwachen Ventilator an der Decke anzuschalten. Als der laue Luftstrom seine Haut kühlte, seufzte er leise auf.
Ludewig räusperte sich. „Es geht um deine Frage. Ich habe da jemanden gefunden, der sie dir womöglich beantworten kann. Einen Wissenschaftshistoriker. Er beschäftigt sich zwar hauptsächlich mit den Naturwissenschaften zur Zeit der Renaissance, aber sein Hobby sind auch Wissenschaftsmythen. Demnach weiß er einiges über die Forschungen, die in der Nazizeit betrieben wurden. Ich gebe dir seine Nummer und Mailadresse. Er ist Pole und hat einen Lehrstuhl an der Technischen Universität von Krakau, spricht aber ausgezeichnet Deutsch. Sein Name ist Professor Szymon Krupa.“
Ondragon notierte sich die Kontaktdaten. „Hervorragend. Ich werde ihn anrufen, sobald ich ausgeschlafen habe.“
„Mach das. Und entschuldige noch mal die Störung.“
„Kein Problem, man kann mich schließlich jederzeit anrufen, auch wenn es mich manchmal im Off-Modus erwischt. If you got problems big or tall, anytime you better call Paul! So lautet zumindest mein inoffizieller Geschäftsslogan.“ Ondragon gluckste vergnügt. „Vielen Dank für deine Mühen, Günther. Ich werde mich dafür revanchieren.“
„Ach was, da nicht für. Dann schlaf mal schön weiter!“
Lächelnd legte Ondragon auf. Es fühlte sich gut an, solche Freunde wie Ludewig zu haben. Er musste gut auf sie aufpassen. Ohne sie wäre er ein ziemlich zahnloser Drache. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es kurz vor fünf war. Zwei Stunden Schlaf blieben ihm noch. Er ließ den Ventilator laufen und legte sich auf das Kissen.
Ein weiteres Mal betrat er das trügerische Reich der Träume und stand erneut neben seiner Mutter. Sie sah aus, als hätte sie auf ihn gewartet, und schenkte ihm ein gütiges Lächeln, das aber irgendwie falsch wirkte. Sie sagte: „Mein Junge, wir müssen Opfer bringen. Jeder von uns!“
Ondragon blickte sie mit den großen Augen eines verständnislosen Kindes an. Furchtsam ergriff er ihre Hand, so wie er es immer getan hatte, wenn ein diffuses Gefühl der Angst sich seiner bemächtige. Opfer? Wofür? Was meinte seine Mutter?
Ava Birgitta Ondragon – oder besser gesagt, die junge Siebzigerjahre-Ausgabe von ihr – beugte sich zu ihm hinab. Ihre roten Lippen waren zu einem harten Strich zusammengepresst. „Weißt du, was ein Geheimnis ist, Paul?“, fragte sie mit dunkler Stimme.
Ondragons Zunge klebte am Gaumen fest. Er wagte es nicht zu antworten, brachte lediglich ein zaghaftes Nicken zustande.
„Nun, dies ist ein Geheimnis!“ Ihr Finger stieß in Richtung des Bücherbergs, unter dem Per lag. Sein Bruder hatte ihm das Gesicht zugewandt und grinste sein blutiges Grinsen.
„Dies ist etwas, das niemals auch nur irgendjemand erfahren darf!“, mahnte seine Mutter. „Verstehst du das, Paul? Niemals! Also vergiss, was du gesehen hast. Vergiss es! Für immer!“
Ondragon nickte erneut. Er wusste, was ein Geheimnis war. Aber er wusste nicht, dass es sich so böse anfühlen konnte. Seine Augen sprangen vom Grinsen seines Bruders zum rotgeschminkten Mund seiner Mutter. Beide bewegten ihre Lippen, aber der Ton schien nicht synchron zu sein. Nur mit Verzögerung drangen ihre Worte zu ihm durch.
„Niemals darf jemand davon erfahren!“, sagten sie beide. „NIEMALS!“
Der kleine Ondragon riss die Hände hoch und presste sie auf seine Ohren. Die unheilvollen, roten Lippen bewegten sich weiter und er schloss die Augen, um sie nicht mehr sehen zu müssen. Doch die Worte schnitten weiterhin tief in sein Bewusstsein.
„I know there‘s something going on!”
Irritiert öffnete er die Augen …
… und fand sich in dem dunklen Zimmer auf dem Bett wieder. Über ihm stotterte der Ventilator und neben ihm auf dem Laken sang die empörte Stimme von Anni-Frid Lyngstad aus seinem Handy: „I know there‘s something going on!“ – Wie recht sie doch hatte!
Genervt schlug er auf das iPhone und drückte den Anruf weg. Welch wohltuende Stille!
Mit einem Stöhnen rieb er sich die Augen. Oh Mann, hatte er in dieser Nacht eine Hotline zum Thema „Insomnia“ am Laufen? Es war sechs Uhr in der Früh! Er nahm das Gerät in die Hand und blickte auf das Display. Als sein schlaftrunkenes Hirn registrierte, wer da angerufen hatte, drückte er hastig auf die Rückruftaste.
„Mr. O, gut, dass Sie zurückrufen! Ich …“ Der Junge, der sich Truthfinder nannte, verschluckte sich vor Aufregung und hustete trocken. „Puh, Verzeihung … ich wollte sagen, dass ich Ihre Mail bekommen und die Daten sicher verwahrt habe, so wie Sie es empfohlen haben. Aber … Mann, ich war neugierig und habe mir die Bilder angesehen. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll … das ist voll krass!“ Die kindliche Stimme am anderen Ende erreichte eine weitere Oktave. Das junge Physikgenie gebärdete sich wie ein Topf mit überkochender Milch. Geduldig wartete Ondragon den Wortschwall ab.
„Dieses Flugbuch, ist es echt? Wenn ja, dann – heilige Scheiße, Alter – dann stimmt die Theorie mit den Nazi-Spionen, die Tesla bestohlen und ermordet haben, wirklich. Auch wenn mir die andere Version mit dem FBI lieber gewesen wäre, ehrlich. Auch die Flucht von General Kammler in der Junkers 390 ist der Oberhammer! Ich meine, dass die tatsächlich stattgefunden hat … Wow! Ich glaub, da muss ich mich bei einigen Besuchern meines Forums ernsthaft entschuldigen. Mr. O, ich bin immer noch ganz irre davon. Das ist wie Speed, nur besser! Auch dieser Bericht von dem Wissenschaftler, diesem Dr. Schuch. Der ist echt abgefahren!“ Truthfinder stieß laut Luft aus und atmete einmal tief durch.
Das war Ondragons Einsatz. „Schön, dass Sie den Bericht gelesen haben, Truthfinder“, sagte er freundlich.
„Das sollte ich nicht, ups, scheiße, ich weiß. Tut mir echt leid. Was machen Sie jetzt mit mir?“ Die letzte Frage klang beinahe ängstlich.
„Keine Sorge, ich bin Ihnen nicht böse. Wenn ich ehrlich bin, habe ich nichts anderes von Ihnen erwartet. Aber wieso haben Sie den Text so schnell verstanden? Sprechen Sie Deutsch?“
„Bitte, sagen Sie ‚du‘, ja? Nein, ich kann kein Deutsch, aber ich habe eine hochwertige Übersetzungs-Software. Die paar Unstimmigkeiten, die sich dabei ergeben haben, konnte ich beheben. Zusammen mit den Fotos von den Wrackteilen der Junkers und dem Inhalt der Kiste gibt es keinen Zweifel mehr an der Korrektheit der Nazi-Theorie.“ Truthfinder klang jetzt wieder mehr wie der junge Ausnahmewissenschaftler und nicht wie ein ausgeflippter Teenager. Aber es war schön zu hören, dass das jugendliche Gemüt noch nicht komplett unter dem Gebirge aus angehäuftem Fachwissen begraben lag.
Ondragon lächelte still. Der Junge war schwer in Ordnung. Er würde sich bei Strangelove für diesen Kontakt bedanken müssen.
„Der Bericht von diesem Dr. Schuch“, fuhr Truthfinder fort, „ist eine Offenbarung! Wir wissen jetzt, dass dort in der Sahara etwas versteckt liegt, das kostbar genug gewesen sein muss, um es mit auf diese halsbrecherische Flucht zu nehmen. Also ein richtiger, echter Schatz! Der Heilige Gral! So nennt es Schuch zumindest. Nur, was mag es gewesen sein? Darüber verliert er kein einziges Wort.“
„Das stimmt. Aber es muss wirklich etwas Außergewöhnliches gewesen sein. Vielleicht verraten uns ja die Zahlenquadrate mehr darüber, wenn wir sie entschlüsseln“
„Hey yo, Mr. O! Die habe ich mir mal genauer angesehen. Das ist bestimmt ein Code. Dummerweise habe ich ihn noch nicht geknackt. Ich lasse die Zahlen gerade durch ein Programm laufen, obwohl ich denke, dass wir mit der modernen Technik hier nicht viel ausrichten können. Dr. Schuch hat sich in einer Ausnahmesituation befunden. Da hatte er gewiss keine Rechenmaschine dabei und musste auf ein händisches Verfahren zurückgreifen. Dafür kommen allerdings etliche bekannte Chiffren in Frage. Zum Beispiel die Cesar-Chiffre, die ROT13-Vereschlüsselung oder das Polybus-Quadrat. Das Schlüsselwort könnte aus Buchstaben und Zahlen bestehen. Schuch, Xaver, Tesla, Glocke, Junkers, Sahara, und Vaterland habe ich schon ausprobiert, kombiniert mit den Datierungen aus dem Logbuch … aber nichts! Haben Sie irgendwelche Ideen? Denn es weiter auf gut Glück auszuprobieren, würde ewig dauern. Es gibt eine Gazillion von Möglichkeiten!“
Ondragon überlegte. Truthfinder hatte bereits alle Worte genannt, die auch ihm sofort eingefallen wären. „Sicher, dass es ein Code ist?“, hakte er noch einmal nach.
„Aber hundertpro! Es kann gar nichts anderes sein. Dieser Schuch wollte der Welt etwas hinterlassen, einen Hinweis. Aber er wollte es nicht offen tun. Anscheinend hatte er zu große Angst davor, dass der Schatz in die falschen Finger gerät.“ Truthfinder lachte kurz auf. „Klingt irgendwie ironisch, dass ausgerechnet das aus der Feder eines Nazi-Wissenschaftlers stammt.“
Nazi. Bei diesem Wort klingelte es bei Ondragon. „War Dr. Schuch überhaupt ein Nazi? Ich habe mal gehört, dass im Dritten Reich Wissenschaftler dazu gezwungen worden sind, für Hitler zu forschen. Gerade zu Ende des Krieges.“
„Ja, das stimmt. Es gibt eine Reihe von brillanten Wissenschaftlern, die für Hitlers Kriegsmaschinerie zwangsverpflichtet wurden. Viktor Schauberger zum Beispiel, er hat auch auf dem Gebiet der Wirbeltechnik geforscht und seine Repulsine, also ein Apparat, der die Schwerkraft angeblich durch freies Schweben überwunden haben soll, gilt bei einigen Fachleuten heute als einer der ersten Konverter für Freie Energie. Aber die Funktionsweise der Repulsine gilt als umstritten, ähnlich wie Teslas Forschungen zu diesem Thema. Aber das nur am Rande. In Dr. Schuchs Fall könnte es schon sein, dass er zu den Zwangsverpflichteten gehörte, aber ich habe weder von ihm oder von den drei anderen im Flugbuch genannten Männern jemals etwas gehört. Schuch erwähnt in seinem Bericht, dass er 1943 mit Kammler gemeinsam an Teslas Notizbuch gearbeitet hat. Das muss gleich nach Teslas Tod und dem Raub des Buches gewesen sein. Ob Schuch nun aber freiwillig an der Untersuchung beteiligt war, oder dazu gepresst wurde, werden wir nur schwer herausfinden können, auch wenn ihm am Ende seines Berichtes das Wohl des DeutschenVolkes sehr am Herzen liegt.“
„Ich habe vielleicht jemanden, der uns dabei helfen kann“, verriet Ondragon. „Ich werde Ihnen … ähm, dir Rückmeldung geben, sobald ich was habe.“
„Gut. Dann bleibt uns nur noch, nach dem Schlüsselwort für die Zahlenquadrate zu suchen. Dass Dr. Schuch die Form des Quadrats gewählt hat, könnte auch ein Hinweis sein. Ich versuche es am besten gleich mal mit dem Polybus-Quadrat. Dazu brauche ich nur ein Codewort. Hmmm …“
„Vielleicht befindet sich das Passwort doch in Schuchs Bericht verborgen“, sagte Ondragon. „Darin gibt es immerhin einige merkwürdige Stellen. Versuch es doch mal mit denen: Teslas Traum, Heiliger Gral und Sämann.“
„Was bedeutet Sämann?“
„Das ist ein Mann, der die Saat auf einem Feld ausbringt. Dr. Schuch schreibt doch: ‚Aber das Rad des Sämanns lässt sich nur schwerlich zurückdrehen‘. Das klingt sehr ungewöhnlich. Solch eine Formulierung habe ich noch nie gehört. Mir fällt da spontan nur das Rad der Zeit oder das des Schicksals ein.“
„Okay, ich versuch’s.“
„Ach ja, und ich hab da noch was, aus dem ich nicht schlau werde. Ein Bild von einem Kreuz. Es ist ein Tattoo und könnte etwas bedeuten. Ich schicke es dir zu. Vielleicht findest du ja was darüber heraus.“
„Klaro, Mr. O.“
Ondragon überlegte kurz, ob er Truthfinder über die Nullpunktenergie und die mögliche Existenz eines Perpetuum mobiles ausfragen sollte, ließ es dann aber bleiben. Es war zu früh am Morgen, um eine Lehrstunde in Physik zu nehmen. Er verschob das auf später, so wie er auch damals in der Schule stets seine Physikhausaufgaben auf einen ferneren Zeitpunkt verschoben hatte. Jenen berühmten Zeitpunkt namens ‚Niemals‘.
Der Traum von seiner Mutter drängte sich unangenehm in seine Erinnerung. „NIEMALS!“, hatte sie mit unheimlicher Nachdrücklichkeit gesagt, und Ondragon überlegte, ob das etwas zu bedeuten hatte, oder ob es nur der allnächtliche Unsinn war, den sein Hirn sich da zusammenfaselte.
Weißt du, was ein Geheimnis ist, Paul?
„Hey Mr. O, ist alles in Ordnung?“, fragte Truthfinders Stimme am anderen Ende des Telefons.
„Äh, ja.“ Ondragon verscheuchte das Bild von den roten Lippen seiner Mutter und fragte mit unbekümmertem Ton zurück: „Wieso?“
„Sie haben gerade etwas vor sich hingemurmelt. Es hörte sich an wie Blutopfer. Ich kann ja kein Deutsch, aber es klang zumindest so. Was heißt das?“
„Ach, nichts“, Ondragon musste sich Mühe geben, sein Erstaunen zu verbergen. „Ich habe nur laut gedacht. Nichts Besonderes. Okay, du meldest dich, wenn du was Neues zu dem Code herausgefunden hast?“
„Yo!“
„Prima, wir hören uns.“ Schnell legte Ondragon auf und starrte in das fahle Licht der Morgendämmerung, das durch die fadenscheinigen Gardinen sickerte. Die roten Lippen bewegten sich noch immer. „Blutopfer!“, flüsterten sie.
Um acht Uhr stand Charlize wie verabredet vor der Tür. Ondragon hatte sich notdürftig mit dem abgestandenen Wasser aus dem Eimer gewaschen und ein weniger gebrauchtes Hemd aus seiner Tasche angezogen. Er hatte das Gefühl, als jucke sein ganzer Körper. Vom Geruch ganz zu schweigen. Den konnte auch das stärkste Deo nicht mehr übertünchen. Wenn er nicht bald eine Dusche bekäme, würde er von dem Gejucke noch wahnsinnig werden. Hinzu kam ein mörderischer Hunger, der in seiner Magenkuhle wühlte. Die Churrascos vom Vorabend waren längst verdaut und die versammelte Gewerkschaft seiner für Nahrung zuständigen Organe schrie nach mehr.
„Und? Hast du was über den Code oder das Kreuz herausgefunden?“, fragte er ohne große Hoffnung.
„Leider nein, Chef. Kommst du?“
Ondragon unterdrückte den Impuls, sich unter der Achsel zu kratzen, und folgte Charlize in gebührendem Abstand durch die verwahrlosten Gänge. Die Luft war stickig und hatte sich über Nacht kaum abgekühlt. Schnell legte sich eine frische Schweißschicht auf seine Haut. Ondragon ließ sich noch weiter zurückfallen.
Charlize erreichte die Tür mit dem großen CA-Zeichen und drehte sich um. „Was ist denn? Warum so langsam heute?“
„Zu heiß. Zu ungeduscht. Zu hungrig. Such dir was aus.“
Sie sah ihn mitleidig an. Dann trat dieser andere, härtere Ausdruck in ihre Augen. Der Samurai-Blick. Nein, der hier war eher der Mafiabraut-Drogengangster-Blick! Sie wandte sich wieder der Tür zu und klopfte energisch.
Als sie wenig später auf dem Sofa neben Sem saßen und Sfirra, eine Art Minipizzen mit Hackfleisch, zum Frühstück aßen, ging es ihm schon viel besser. Zumindest war das werwolfmäßige Magenknurren verschwunden, das ihn am Denken gehindert hatte. Die Dusche würde sich im Laufe des Tages bestimmt auch noch organisieren lassen, und wenn er in Charlizes Quartier einbrach!
Sem hatte Neuigkeiten für sie. Er hatte nicht aufgegeben und weiterhin die Augen der Favela befragt. Und tatsächlich hatte jemand ihren Unbekannten dabei beobachtet, wie er aus seinem Versteck in der verfallenen Fabrik geflohen war. Einen kleinen, schlanken Mann mit einer Kiste auf der Schulter. Er hatte die Favela gestern Morgen kurz nach Sonnenaufgang verlassen und war in Richtung Praia Meireles gegangen. Eine Schar Kinder war ihm zum Spaß gefolgt. Sie hatten beobachtet, wie er mehrfach mit einem Handy telefoniert und sich an einer Strandhütte umgezogen hatte. Danach hätte er ausgesehen wie ein feiner Herr. Die Wechselkleidung hatte er in der Kiste versteckt, die er anschließend mit in ein Hotel genommen hatte.
„Und welches Hotel war das?“, fragte Ondragon.
„Das Grand Marquise“, entgegnete Sem.
Verblüfft hob Ondragon die Brauen. „Ist er noch dort?“
Sem hob die Schultern. „Keine Ahnung. Die Kinder haben ihn nicht länger beobachtet, nachdem er im Hotel verschwunden war.“
Ondragon bemerkte, dass Charlize aufgehörte hatte, an ihrem Kaffee zu nippen. „Das check ich nicht!“, sagte sie laut. „Warum läuft der Typ mit einer so auffälligen Kiste herum und wagt es, entdeckt zu werden? Und warum steigt er in einem Hotel ab, wenn er doch vorher unter einer Plane gehaust hat? Und dann ausgerechnet in dem Hotel, in dem du warst, Chef?“
„Vielleicht glaubt er, dass wir ihn dort am wenigsten suchen“, sagte Ondragon. „Aber ich frage mich, warum er mit seiner wertvollen Beute nicht längst die Stadt verlassen hat. Wenigstens scheint er die Kiste noch zu haben und hat sie nicht schon längst verscherbelt. Das finde ich allerdings äußerst merkwürdig. Was ist mit seinem eventuellen Auftraggeber? Will der die Kiste nicht haben?“
„Vielleicht will der Kerl bloß eine falsche Fährte legen und uns in die Irre führen“, schlug Charlize vor.
„Vielleicht findet demnächst aber auch die Übergabe der Kiste statt. In dem Hotel!“
„Könnte sein.“ Charlize stellte ihre Kaffetasse auf dem Couchtisch ab, auf dem noch die Reste diverser Joints einschlägig vor sich hinmüffelten. Ondragon wunderte sich immer wieder darüber, wie es diesen Potheads gelang, einen straff organisierten Drogenhandel aufrechtzuerhalten, wenn sie ständig selbst Exkursionen in die ‚High-Lands‘ unternahmen. Er schaute in die Runde. Die Gesichter von Sems Gorillas wirkten wie zugenagelt. Man konnte ihnen nicht das Geringste ansehen. Und Sem, der Boss? Er sah aus wie der Herrscher des Dschungels, wie er da so breitbeinig auf dem Sofa saß. Animalische Kraft und flinker Geist. Mit Sicherheit nahm er nicht einen Krümel von dem Zeug, das er unter die Leute brachte. Und eines war klar: Sollte er es jemals tun, wäre dies sein Todesurteil, denn die Hyänen warteten nur darauf, dass der Löwe Schwäche zeigte. Die Augen der Favela waren überall.
„Hmmm, aber irgendetwas stimmt da trotzdem nicht“, sagte Ondragon schließlich nachdenklich. „Bei einem so begehrten Ziel wie Pandora würde der Auftraggeber doch längst vor Ort sein und einer schnellstmöglichen Übergabe entgegenfiebern. Niemals würde er so viel Zeit verstreichen lassen und riskieren, dass Pandora ihm vielleicht doch wieder abhanden kommt.“
Charlize nickte und Sem lauschte mit unbekümmerter Miene. Sie führten die Unterhaltung auf Englisch und er schien ihnen folgen zu können.
„Könnte es sein, dass er alleine arbeitet und auf etwas Anderes als die Übergabe wartet?“, fragte Charlize.
Ondragon dachte darüber nach – nicht zum ersten Mal. „Ich bin mir nicht sicher, aber diese Sache mit der Zeitverzögerung würde dafür sprechen. Das wirkt auf mich ziemlich unprofessionell.“
„Vielleicht soll es ja auch nur so aussehen“, sagte Charlize. „Anscheinend hatte der Kerl Tauschklamotten dabei. Das wirkt für mich gut vorbereitet. Und selbst wenn er alleine arbeitet, muss er einen Informanten haben, der ihn über die Kiste im Labor unterrichtet hat, auch wenn er vorhat, die Kiste meistbietend zu versteigern. Das würde ich an seiner Stelle jedenfalls tun. Das würde ihm am meisten einbringen.“
„Aber warum sollte er das hier in der Stadt tun? Die Gegend ist viel zu heiß. Nicht nur wir sind hinter ihm und der Kiste her, sondern auch die Polizei“, gab Ondragon zu bedenken.
„Aber er weiß nichts von Sem!“ Charlize sah ihn vielsagend an und Ondragon gab den Blick weiter an den kleinen Drogenboss, der gemütlich seine Arme auf der Rückenlehne des Sofas ausgebreitet hatte.
„Wenn er tatsächlich alleine arbeitet“, dachte Charlize weiter laut nach, „konnte er uns unmöglich beide auf einmal im Auge behalten. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nicht verfolgt wurde. Ich war sehr vorsichtig.“
Das hatte ich auch geglaubt, dachte Ondragon, behielt seine Unsicherheit aber für sich. Er wollte keinen Disput mit Charlize über vorsichtiges Verhalten heraufbeschwören. Außerdem hatte es wenig Sinn, darüber zu spekulieren, ob der Typ nun ein Amateur oder ein Profi war. Er hatte die Kiste und sie mussten etwas dagegen unternehmen. Die Zeit lief ihnen davon. „Wir werden uns aufteilen“, sagte er und schlug sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel. Seine Jeans klebte an ihnen wie eine zweite, viel zu enge Haut. Das Klima in dem Raum war das einer äquatorialen Sauna … mit Haschisch-Aufguss. „Ich werde mich um ein paar organisatorische Dinge kümmern und du, Charlize, wirst in eine deiner Verkleidungen schlüpfen und dem Kerl im Hotel auflauern. Mich würde er sofort erkennen.“ Und riechen, dachte er missgestimmt. Danach wandte er sich an den Mini-Snoop-Dogg mit der Boxernase. „Und du, Sem, hältst weiterhin die Augen der Favela auf. Deal?“
Sem nahm die Arme von der Couchlehne und beugte seinen Oberkörper vor. Dabei erwachten die Tattoos auf seiner dunklen Haut zum Leben. Eines davon war ein grinsender Totenkopf mit einem Loch in der Stirn. Darunter war eine Strichliste eintätowiert. Eine sehr lange Strichliste.
„Deal, Mr. O“, sagte er. Seine Stimme klang rau, und Ondragon bekam eine erste Ahnung davon, dass mit diesem Bürschchen nicht zu Spaßen war. Er war froh, ihn auf seiner Seite zu haben, zumindest im Moment. Er erhob sich und prüfte das Magazin seiner Pistole. Mehr ein Zeichen, dass er sein Handwerk beherrschte, als eine wirkliche Kontrolle. Aber er hatte das Gefühl, vor diesem Zwerg, der in Wahrheit ein Gigant war, sein Revier abstecken zu müssen. Der Typ sollte nicht denken, er könne auch nur ansatzweise einen Stich bei Charlize haben.
Seine Assistentin wühlte derweil in ihrer Reisetasche, um sich ein Tarnoutfit zusammenzustellen. Ondragon sah eine schwarze Kraushaarperücke (ihren Reisefiffi, wie sie ihn nannte), einen rosafarbenen Push-up-BH, zwei Po-Polster aus Silikon und ein Kleid in Leopardenoptik. Er verkniff sich ein Lächeln, er liebte diese Ausstattung. Obwohl Charlize unverkennbar asiatische Züge hatte, ging sie mit ihrem bronzenem Teint und dem Foxy-Brown-Kostüm als waschechte, sexy Afroamerikanerin durch. Sie konnte sogar wie eine solche reden. ‚Hey Baby, wassup?‘
Gut, dachte er, dann konnte die Show ja beginnen. Er zückte sein Handy und zeigte darauf. Sem verstand die Geste und wies auf eine der Türen im rückwärtigen Bereich seines Hauptquartiers. Ondragon verließ den Raum, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich gegen das, was einmal die Spüle einer Küche gewesen war und nun vermutlich als Meth-Labor diente. Den beißenden Geruch nach Katzenpisse ignorierend, wählte er die erste Nummer.