36. Kapitel

25. Mai 2011
Fortaleza, Brasilien
10.12 Uhr

Ondragon erwachte in einem fremden Zimmer. Schnell setzte er sich auf und sah sich um. Die Räumlichkeiten waren erstaunlich sauber, selbst das Bad schien benutzbar zu sein. In einer Ecke sah er Charlizes Reisetasche stehen und schloss daraus, dass er sich in dem Quartier befand, das Sem ihr in der Pyramide zur Verfügung gestellt hatte.

Plötzlich klopfte es an der Tür. Alarmiert griff Ondragon nach seiner Waffe. „Wer ist da?“

„Diego vom Comando Azul! Sem schickt mich!“

Ondragon ließ den Kerl ein. Es war einer von Sems Gorilla-Rappern, nur dass er heute keine nagelneue AK bei sich trug, sondern seine Tasche. Der ungebetene Gast grinste, als er ihn ansah. „Hey Mann, Sie sahen auch schon mal besser aus“

„Sehr witzig!“, entgegnete Ondragon. „Was willst du?“

„Hier sind Ihre Sachen.“ Der Gorilla streckte den Arm aus und ließ die Tasche vor seine Füße fallen. „Außerdem erwartet Sie Sem. Er will wissen, was los ist.“

„Wie spät ist es?“

„Schon nach zehn!“

„Gut, aber vorher gehe ich unter die Dusche. Und falls du unnötig drängeln willst, vergiss es! Ich nehme diese Dusche, und wenn draußen die Welt untergeht!“ Ondragon holte sein Handy hervor und rief im Krankenhaus an, schließlich wollte er Sem den aktuellsten Stand übermitteln. Nach Angaben des diensthabenden Arztes hatte sich Charlizes Zustand gebessert und sie war sogar bei Bewusstsein. Erleichtert beendete Ondragon das Gespräch und begann sich auszuziehen, dabei starrte ihn der Gorilla weiterhin an. „Darf ich um ein wenig Diskretion bitten? Du musst hier nicht das Kindermädchen spielen. Ich bin schon groß und werde den Weg zu Sem schon selber finden. Geh und richte deinem Chef aus, dass ich gleich bei ihm bin.“

Mit einem unwilligen Grunzen machte der Kerl kehrt und verschwand durch die Tür.

Keine zwanzig Minuten später stand Ondragon frisch geduscht und in einigermaßen sauberen Klamotten vor dem kleinwüchsigen Drogenboss und wünschte sich nichts sehnlicher als einen starken Kaffee. Sem saß auf dem Sofa und lauschte mit besorgter Miene seinem Bericht über die Ereignisse der vergangenen Nacht. Er wirkte erleichtert, als Ondragon ihm erzählte, dass Charlize zwar noch im Krankenhaus war, es ihr aber den Umständen entsprechend besser ging.

Bem“, sagte er schlicht, als Ondragon geendet hatte.

Bem? Gut? Sonst nichts? Das ist doch nicht wahr, dachte Ondragon. Gib es zu, du hast eine Scheißangst gehabt! Das habe ich dir genau angesehen. Angst um die a filha do sombra!

„Wer ist Charlize Tanaka?“, fragte er unvermittelt.

Sem blickte ihn lange an. Ungewöhnlich lange. Dann begann sich ein Schmunzeln unter seiner platten Nase auszubreiten. „Sie arbeitet seit sieben Jahren für Sie und Sie wissen nicht, wer sie ist?“

Verlegen starrte Ondragon auf die fleckige Wand hinter dem Mini-Gangster. Er schluckte und konnte gerade noch verhindern, dass er rot anlief. „Scheiße noch mal, nein. Und nun rücken Sie endlich raus damit!“

„Mann, das ist vielleicht lustig!“ Amüsiert sah Sem in die Runde seiner Gorillas.

Ondragon spürte, dass er es langsam satt hatte, ständig vorgeführt zu werden. Er bückte sich und griff nach seinem Gepäck. „Oookay, wenn hier alle nur über mich lachen wollen, dann gehe ich jetzt. Danke für Ihre Hilfe, Sem. Das Geld für den Auftrag finden Sie im Kühlschrank des Zimmers, in dem ich als erstes übernachtet habe. Tchau!“ Er wollte sich umdrehen und die Tür öffnen, da sprang Sem auf und versperrte ihm mit seiner vollen Größe von 1,50 Metern den Weg. Sein Scheitel befand sich auf der Höhe von Ondragons Brustbein, und seine schwarzen Augen glänzten wie polierter Onyx.

„Ihre Assistentin, Mr. O, ist die Tochter eines sehr einflussreichen Mannes hier in Brasilien“, sagte er mit eindringlicher Stimme. „Wir nennen ihn den ‚Schatten‘. Aber nicht nur weil er im Verborgenen bleiben will, sondern weil er ein leibhaftiger Schatten ist! Ein Mann ohne Gesicht, aber mit tausend Augen und Ohren!“

„Ah, und deshalb zittert ihr so vor ihm?“

Sems Lächeln verschwand, als hätte er es ausgeknipst. „O sombra ist anders als wir. Wir sind nur kleine Fische. Auch die Anführer der anderen Comandos.“

„Aber wie kann ein einziger Mann sämtliche Comandos dieses Landes in Angst versetzen? Und dazu noch ein Japaner, ein Einwanderer!“

„Weil er ein Mann ohne Grenzen ist“, zischte Sem leise, als habe er Furcht, von O sombra gehört zu werden. „Er kann sein, wo er will, und gehen, wohin er will. Er ist überall! Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter, Mr. O. Er weiß längst, was hier passiert ist und er wird sehr ungehalten darüber sein. Nehmen Sie sich in Acht! Sollten Sie bei O sombra in Ungnade fallen, wird auch seine Tochter Ihnen nicht mehr helfen können.“

Ondragon ließ sich nicht anmerken, dass ihn das beunruhigte. Sogar sehr beunruhigte. Nicht nur weil er ins Visier eines der mächtigsten Männer Brasiliens geraten war, sondern auch weil Charlize es nicht für nötig gehalten hatte, ihn davor zu warnen. Sie hatte ihm immer nur erzählt, ihr Vater sei als Kind nach Brasilien gekommen und habe dort eine stinknormale Laufbahn als Angestellter einer großen Firma eingeschlagen. Dass diese Firma Yakuza oder Mafia hieß, konnte er doch nicht ahnen! Und dass Charlizes Vater der Ich-trete-dir-die-Scheiße-aus-dem-Hintern-Oberboss der Unterwelt von Brasilien war, erst recht nicht! Fuck! Ondragon wurde heiß vor Unbehagen. Er hasste es, hinters Licht geführt zu werden. Und dann noch von Menschen, denen er vertraute. Ihm war von Anfang an klar gewesen, dass Charlize ein Geheimnis umgab, und er hatte ihr versprochen, nicht daran zu rühren. Aber dass es so gewaltig sein würde, überraschte und kränkte ihn auf gleiche Weise. Mit einem Mal fühlte er sich von Charlize ausgenutzt. Er hatte das Gefühl, als triebe sie hinter seinem Rücken ein doppeltes Spiel. Warum tat sie so, als sei sie seine fleißige Mitarbeiterin, wenn sie die zukünftige Königin eines Unterwelt-Imperiums war? Warum war sie bei ihm in Amerika? Spionierte sie ihn aus? Sieben verdammte Jahre lang? Er musste das klären, bevor er ihr wieder vertrauen konnte. Er musste wissen, auf welcher Seite sie stand. Angeschossen hin oder her, er würde sie zur Rede stellen!

Ohne ein weiteres Wort verließ er das Hauptquartier des Comando Azul und stapfte wütend durch die Gassen der Favela zur Hauptstraße. Dort hielt er ein Taxi an und ließ sich zum Krankenhaus bringen.

Ohne in die Überwachungskameras zu blicken, betrat er wenig später das Hospital und fuhr mit dem Fahrstuhl in die Etage, auf der sich die Intensivstation befand. Am Eingangstresen meldete er sich als Besucher an und nahm auf den Stühlen im Wartebereich Platz. Als man ihn aufrief, erhob er sich und bekam von einer Schwester Schutzkleidung ausgehändigt. Er zog alles an und wollte sich gerade den Mundschutz vor das Gesicht streifen, da öffneten sich die automatischen Schwingtüren zur Intensivstation und ein Mann in Begleitung zweier weiterer kam strammen Schrittes herausmarschiert. Sie trugen alle Mundschutz und Kittel über ihrer Straßenkleidung. Offensichtlich waren es ebenfalls Besucher. Ondragon schenkte ihnen keine weitere Beachtung, spürte dann aber, dass der Mann in der Mitte ihn anstarrte. Er schaute zurück, doch der Typ hatte sich wieder umgedreht und ging flankiert von den beiden anderen davon. Nachdenklich sah Ondragon ihnen nach. Etwas an ihnen war merkwürdig. Er beobachtete, wie die drei Männer, den Rücken zu ihm gewandt, ihre Kittel und Hauben ablegten und in einen Wäschecontainer warfen. Ohne sich noch einmal umzublicken, verließen sie die Station. Als die Flügeltür sich hinter ihnen schloss, band Ondragon sich schnell den Mundschutz um und folgte der Schwester, die ihn durch die Station führte. Ein mulmiges Gefühl begleitete ihn, denn auch wenn er die drei Männer nur von hinten gesehen hatte, waren es doch eindeutig Japaner gewesen!

Mit den schlimmsten Erwartungen betrat er Charlizes Zimmer. Es war spartanisch eingerichtet. Ein Schrank, ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett, sonst nichts. Rund um das Bett war eine Armada aus medizinischen Apparaten aufgebaut worden, die aussahen wie Teile der Brücke von Raumschiff Enterprise. Die Vorhänge am Fenster waren zugezogen und die Lichter an den Apparaten blinkten in allen Farben. Auf einem kleinen Monitor lief eine gleichmäßige Sinuskurve durch. Charlizes Herzschlag.

Seine Assistentin lag auf dem Rücken, und im Licht der Neonlampe über ihrem Kopf wirkte ihr Gesicht beinahe grünlich. Sie hatte das Laken bis zum Kinn hochgezogen und hielt ihre Augen geschlossen. Ondragon konnte sehen, dass ihre langen schwarzen Wimpern leicht zitterten.

„Aber nur kurz“, mahnte die Schwester und ließ ihn dann mit seiner Assistentin alleine.

Ob die drei Japaner zuvor hier gewesen waren? Oder hatten sie jemand anderen besucht? Natürlich waren sie hier gewesen, dachte Ondragon mit einiger Gewissheit, wo sonst!? Er zog einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. Mit gemischten Emotionen blickte er auf Charlize. Dann streckte er eine Hand aus und strich ihr sanft über den Handrücken, aus dem ein Infusionsschlauch ragte.

Augenblicklich flogen Charlizes Lider in die Höhe. Sie fuhr vom Bett hoch und funkelte ihn erschrocken an. Ihre Reflexe funktionierten also noch. Doch dann schien der Schmerz sie zu übermannen und sie sackte zurück auf das Kissen.

„Ach, du bist es“, seufzte sie leise und hob eine Hand an ihre Stirn. Ein dünner Schweißfilm glänzte darauf.

Wer sollte es denn sonst sein?, dachte Ondragon. O sombra? Er legte seine Hand in den Schoß und fragte: „Wie fühlst du dich?“

Charlize stöhnte. „Wie man sich mit einem Loch im Bauch so fühlt: Irgendwie undicht.“ Sie grinste. „Tut scheißweh, aber ich will lieber so wenig Schmerzmittel nehmen wie möglich. Ich brauche einen klaren Kopf. Der Arzt sagt jedenfalls, dass ich wieder in Ordnung komme. Vermutlich ohne bleibende Schäden. Ich hatte Glück. Die Kugel ging glatt über dem Hüftknochen durch und hat keine Organe getroffen. Das ist doch komisch, oder? Als hätte der Mistkerl genau gewusst, wohin er schießen muss. By the way, habt ihr ihn erwischt?“

„Nein, er ist mit Pandora auf das Schiff entkommen. Es fährt nach Marokko.“

„Marokko?“, wiederholte Charlize fragend. „Was will er denn dort?“

„Weiß ich noch nicht.“ Das war nur die halbe Wahrheit. Ondragon rang mit sich. Sollte er Charlize hier und jetzt darauf ansprechen? Auf ihren Vater? Was, wenn sie ausflippte? Oder sogar kündigte?

Nun, das Risiko musste er eingehen. Er konnte jedenfalls nicht mehr länger mit ihr zusammenarbeiten, wenn das Vertrauen Schaden genommen hatte.

Ganz der Fuchs, der Charlize selbst in diesem Zustand war, hatte sie seine nachdenkliche Miene bemerkt. Sie hob den Kopf und stützte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einen Ellenbogen. „Was ist los, Chef? Ich seh doch, dass dir was auf der Seele brennt!“

Ondragon senkte den Kopf und spielte an seinem ausgeschalteten Handy herum. „Ich habe da was erfahren, von Sem. Und es macht mich, wie soll ich sagen, … befangen.“

Charlize legte den Kopf schief, sagte aber nichts.

„Es geht um dich und deinen Vater. O sombra!

Einen Moment lang sah Charlize ihn an und gefährlich steile Falten bildeten sich an ihrer Nasenwurzel, doch dann erhellte sich ihr hübsches Antlitz und sie stieß ein helles Kichern aus, das jedoch gleich in ein Stöhnen überging. „Verfickte Schmerzen! Nicht mal lachen kann man!“, fluchte sie und wischte sich die Tränen aus den Augen. Wieder sah sie ihn an. „Das hat aber ganz schön lange gedauert!“, sagte sie schließlich amüsiert.

Irritiert hob Ondragon die Brauen.

„Na, du hast ganze sieben Jahre gebraucht, um mich danach zu fragen, Chef!“

„Ich sollte dich doch nicht fragen!“, protestierte er. „Das war schließlich deine Bedingung!“

„Und daran hast du dich tatsächlich gehalten? Das ist irgendwie süß. Muss dich aber ganz schön gequält haben, dass ausgerechnet du dieses Geheimnis nicht lüften durftest.“ Sie kicherte und stöhnte erneut. Mit einer Hand auf den Bauch gepresst sprach sie weiter. „Aber es zeigt mir, wie viel dir an mir liegt. Und das freut mich.“ Sie streckte ihre Hand aus und legte sie auf die seine.

Wütend zog er sie weg. Jetzt fühlte er sich erst recht von ihr gekränkt.

„Was ist? So wie du mich die ersten Monate getestet hast, als ich bei dir angefangen habe, wollte ich das auch mit dir tun. Das ist doch völlig legitim. Außerdem kann ich nichts dafür, dass du so lange gebraucht hast.“

„Ich halte mich eben an Absprachen!“, brummelte er.

„Das tue ich auch!“

Ondragon schob missmutig das Kinn vor. Das stimmte. Charlize hatte immer ihr Wort gehalten. „Aber verdammt noch mal, warum hast du mir nichts davon gesagt, bevor wir nach Brasilien gekommen sind? Das wäre sehr hilfreich gewesen.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich dachte, du wüsstest es längst, und hatte angenommen, du nimmst mich aus diesem Grund überhaupt nur mit.“

Ondragon seufzte. „Bis vor zwei Stunden wusste ich davon einen Scheiß.“

„Das tut mir leid. Aber ist das jetzt ein so großes Problem für dich? Ich meine, es ist doch egal, wer mein Vater ist. Ich mache meine Arbeit gut und möchte das auch weiterhin für dich tun … wenn ich darf.“ Sie blickte ihn um Zustimmung heischend an.

Er sah ihr direkt in die Augen. Er hatte jetzt zwei Möglichkeiten. Die erste war, sie zu feuern und ihr den Rücken zu kehren, und die zweite war, ihr eine Chance zu geben, das Vertrauen wiederherzustellen. Aber dafür musste er wissen, warum sie unbedingt für ihn arbeiten wollte. „Weshalb bleibst du nicht einfach hier in Brasilien? Hier wirst du behandelt wie eine Prinzessin. Du könntest alles haben. Reichtum, Macht, ein Leben im Luxus! Warum willst du ausgerechnet für mich die Drecksarbeit erledigen und dich unnötig in Gefahr bringen? Du siehst doch, was dabei rauskommt.“ Er zeigte auf ihren Bauch.

Charlize zögerte. „Wenn ich es dir sage, dann lachst du mich bloß aus.“

„Nein, ich verspreche dir, dass ich nicht lachen werde.“

„Also gut. Ich bin bei dir, weil …“, sie seufzte, „weil Daddys kleines Mädchen es satt hatte, Daddys kleines Mädchen zu sein. Ich wollte auf eigenen Füßen stehen. Ein eigenes Leben führen. Verstehst du das?“ Charlize rollte mit den Augen. „Natürlich tust du das. Ich kenne schließlich die Geschichte von dir und deinem Vater! Außerdem liebe ich den Nervenkitzel. Was ich brauche, ist die Gefahr und keinen überbehütenden Vater, der ständig seine Hand über mich hält. Dieser ganze Mafia-Prinzessinnen-Scheiß kotzt mich an! Echt!“

Entgegen seines Versprechens brach Ondragon nun doch in heiteres Gelächter aus. Schnell presste er sich eine Hand vor den Mund. „Verzeihung“, entschuldigte er sich.

Charlizes Augen sandten gleißende Todesstrahlen aus. „Wenn ich nicht an dieses beschissene Bett gefesselt wäre, würde ich dir jetzt in den Arsch treten, Chef!“

„Schon gut. Das kannst du gerne später nachholen.“ Er biss sich auf die Lippen, erleichtert, dass er seine alte Charlize wiederhatte. „Ich bin sehr froh, dass es dir gut geht, Honey. Wirklich.“

„Ich mag dich auch, Chef, wirklich!“

Ihre Blicke trafen sich. Hitze schoss Ondragon durch die Adern und er wurde rot. Mann, sie schaffte es doch immer wieder, ihn verlegen zu machen!

„Wirst du nach Marokko fliegen?“, wollte Charlize nach einer Weile wissen. Sie hatte sich wieder zurück auf ihr Kopfkissen gelegt und atmete jetzt flacher. Vermutlich wegen der Schmerzen.

„Ja, ich werde Achille Bescheid geben“, entgegnete Ondragon.

„Wie schade, dass ich nicht mitkommen kann.“

„Ich werde dich auf dem Laufenden halten.“ Er zeigte auf ihr Telefon, das auf dem Nachttisch lag. „Ich würde ja hier bei dir bleiben, aber die Sache ist noch lange nicht vorbei.“

„Ich weiß.“

„Deine Tasche habe ich vorne an der Anmeldung abgegeben. Wenn du wieder auf den Beinen bist, fliegst du zurück nach L.A. und hältst dort die Stellung. Ich benachrichtige Lupita Lopez, sie kann sich um dich kümmern.“ Ondragon stellte seine mexikanische Hausangestellte nicht jedem zur Verfügung, aber in diesem Fall machte er eine Ausnahme.

Seine Assistentin nickte. „Tust du mir einen Gefallen, Chef?“

„Natürlich!“

„Reiß diesem verdammten Bastard den Arsch auf! Da bin ich ganz alttestamentarisch. Auge um Auge, Kugel um Kugel! Ich will, dass du ihm als Vergeltung mindestens ein Loch in den Bauch stanzt! Wenn nicht gleich mehrere! Ich würde es auch selber tun, aber du siehst ja …“ Sie hob beide Hände und ließ sie wieder fallen.

Ondragon lächelte. Er stand vom Stuhl auf und strich ihr väterlich über die Wange. „Halt die Ohren steif.“

Hai“, Sie zwinkerte ihm zu. „Und lass du dir von diesen BND-Typen nicht zu sehr auf der Nase rumtanzen.“

„Na, klar.“ Er winkte ihr noch einmal zu und verschwand dann aus dem Zimmer. Vor der Tür sah er sich um. Auf der Station war niemand zu sehen. Mit wehendem Kittel lief er den Gang entlang und las die Namensschildchen. Als er gefunden hatte, wonach er suchte, schlüpfte er in das abgedunkelte Zimmer.

Sie lag auf dem Bett. Die Raumschiffkonsolen um sie herum blinkten und piepten wie bei Charlize. Die Frau auf den Laken wirkte jedoch noch durchscheinender als seine Assistentin, die schon wieder vor Leben strotzte. Die Sommersprossen sahen aus wie dunkle Fliegenschwärme, die sich auf ihrer blassen Haut niedergelassen hatten, auch ihr Kinn wirkte spitzer als sonst. Ein dicker Verband verdeckte ihr blondes Haar und ein Auge. Das linke Bein hing fest einbandagiert in einer Schlaufe über dem Bett. Agentin Ritter bot einen erschreckenden Anblick. Sie schien zu schlafen, und Ondragon näherte sich ihr leise. Er wollte sie nicht wecken.

Eine Weile sah er auf sie hinab. Dann hörte er, wie sich hinter ihm die Tür öffnete. Er drehte sich um und sah sich Steiner und Kubicki gegenüber.

„Was tun Sie hier?“, stieß Steiner barsch aus, drängte sich an ihm vorbei und postierte sich mit verschränkten Armen vor dem Bett. „Sie haben hier nichts zu suchen!“

„Ich weiß, ich wollte nur kurz sehen, wie es ihr geht“, erklärte Ondragon ruhig.

„Schlecht! So, jetzt wissen Sie es!“, blaffte Steiner zurück.

Ondragon sah den Agenten durchdringend an. War er eifersüchtig? Hegte er Besitzansprüche an die junge Agentin? Und wenn schon, es konnte ihm egal sein. „Kann ich einen Moment mit Ihnen sprechen?“, fragte er an Kubicki gewandt. „Unter vier Augen?“

Der ältere BND-Agent nickte und folgte ihm aus dem Zimmer. Draußen auf dem Gang verzogen sie sich in eine Ecke, in der sie ungestört reden konnten.

„Ich werde noch heute nach Marokko fliegen und meinen Auftrag erledigen“, begann Ondragon. „Und Sie werden Pandora bekommen. Das verspreche ich Ihnen!“

„Was haben Sie vor?“

Ondragon lächelte müde. „Das werde ich Ihnen nicht verraten.“

Kubicki nickte. „Was anderes hätte ich auch nicht von Ihnen erwartet. Wie bleiben wir in Verbindung?“

Ondragon zeigte auf sein Handy.

Der BND-Agent verzog keine Miene. „Es gibt da übrigens noch zwei Dinge, die Sie interessieren könnten. Zum einen haben wir die Kiste in dem Hotelzimmer sichergestellt. Wie erwartet ist sie leer. Doch dann haben wir noch etwas entdeckt. Ein in mikroskopisch kleine Teile zerrissenes Flugticket, das wir in einem Mülleimer in der Lobby gefunden haben. Wir haben es wieder zusammengesetzt. Air France von Paris nach Fortaleza auf den Namen Chester William Black. Genau der Name, unter dem unser Unbekannter das Zimmer angemietet hat. Sagt Ihnen das was? Unsere Datenbank gibt nämlich nichts über ihn her.“

„Leider nicht“, log Ondragon. „Paris, sagten Sie?“ Er dachte nach. Das passte zwar zu der Telefonnummer von der Groupe Hexagone, war aber nur eine mäßig heiße Fährte. Er glaubte nicht, dass der Unbekannte nach Paris unterwegs war, behielt diese Vermutung aber für sich, ebenso dass es einen neuen Mitspieler in Form eines Energiekonzerns gab. Geheimes Wissen war sein Kapital in diesem Spiel, das als Jackpot die Büchse der Pandora bereithielt.

Er nickte und hob zum Abschied zwei Finger an die Stirn. „Ich melde mich, falls ich Unterstützung aus der Luft brauche. Ach, und Ihre Funkausrüstung finden Sie unten im Schließfach mit der Nummer 44. Man sieht sich.“

„Ganz bestimmt“, sagte Kubicki trocken und sah ihm nach.

Draußen vor der Intensivstation pellte Ondragon sich aus der keimfreien Kleidung und warf sie in den Container, wie die ominösen Japaner es vor ihm getan hatten. Zumindest wusste er jetzt, dass er mit seinem Gefühl recht gehabt hatte. Einer von den drei Männern war Charlizes Vater gewesen. O sombra!

Mit dem Fahrstuhl fuhr er nach unten, wo er sich seine Tasche aus einem anderen Schließfach holte, bevor er gut gelaunt das Hospital verließ. Auf der Straße rief er sich ein Taxi herbei und ließ sich vom Fahrer zum Flughafen bringen. Es war an der Zeit, den Kontinent zu wechseln!