6. Kapitel

20. Mai 2011
Fortaleza, Brasilien
18.11 Uhr

Verschwitzt kam Ondragon vom Joggen zurück in sein Hotelzimmer und drückte den Knopf an seiner Armbanduhr. Zwölf Minuten für zweieinhalb Kilometer hin und zurück. Das bedeutete zehn Minuten, wenn man die Strecke in eine Richtung und in normalem Tempo ging. Allerdings war der Weg nach Sonnenuntergang mit Vorsicht zu genießen. In den Hotels wurde einhellig davor gewarnt, sich nach Einbruch der Dunkelheit in den Straßen herumzutreiben. Rivalisierende Gangs aus den angrenzenden Armutsvierteln, den Favelas, machten die Nächte unsicher und einen Spaziergang lebensgefährlich wie fast überall in Brasilien.

Als Ondragon aus der Dusche kam, klopfte es an der Tür. Er blickte durch den Spion und sah einen Kurier von FedEx draußen auf dem Flur stehen. Der Mann hielt ein Paket im Arm und sah sich gelangweilt um. Ondragon steckte das Messer hinten ins Handtuch, das er sich um die Hüften gewunden hatte, und öffnete die Tür.

Der Kurier ignorierte seinen Aufzug und fragte: „Sind Sie Mr. Ondragon?“

Ondragon nickte.

„Würden Sie bitte hier unterschreiben, seu.“ Der Typ deutete auf ein mobiles Datenerfassungsgerät.

Ondragon unterschrieb und nahm das erstaunlich schwere Paket mit einem „Obrigado!“ entgegen. Danach schloss er die Tür, legte die Sicherheitskette vor und ging zum Bett, wo er das Paket zuerst einmal von außen untersuchte. Als er nichts Auffälliges an der Pappverpackung entdecken konnte, riss er sie auf und brachte einen Alukoffer zum Vorschein. Mit dem im Memo erwähnten Code öffnete er das Zahlenschloss und klappte vorsichtig den Deckel auf. Im Koffer befanden sich einige sehr erfreuliche Dinge.

Mit schönen Grüßen aus der Abteilung Q, dachte Ondragon und legte die Sachen nacheinander auf das Bett: eine Glock G19 mit Ersatzmagazin und einer Schachtel Munition, ein Überwachungsset bestehend aus mehreren Wanzen, einem winzigen Ansteckmikrofon plus Empfangseinheit und einer Minikamera, außerdem ein Netbook mit Surfstick, das sicherlich schon für ihn eingerichtet war, und ein Sattelitentelefon. Die Dame vom BND traute seinem abhörsicheren Handy wohl nicht – naja, nützlich war das Ding auf alle Fälle. Und last but not least fand Ondragon noch einen Autoschlüssel mit einem Fotoanhänger. Die beiden Bilder darin zeigten einen dunkelroten, verbeulten Toyota Corolla und einen blauen Ford-Van mit getönten Scheiben und der Aufschrift eines lokalen Klempnerservices auf den Seiten. Vermutlich war das der Wagen, von dem aus der BND die Aktion überwachte. Er würde irgendwo am Hafen in der Nähe der Haupteinfahrt positioniert sein, und Ondragon sollte wissen, wie er aussah. Der Schlüssel gehörte eindeutig zu dem Corolla, der für seine Zwecke mit Sicherheit schon in der Tiefgarage des Hotels bereitstand. Die Karre war in dieser heruntergekommenen Stadt eine gute Tarnung, fand Ondragon, aber hoffentlich war sie auch gut in Schuss. Er würde den Corolla auf halber Strecke zum Hafen parken, nur für den Notfall. Zu Fuß war man in diesen engen Straßen besser unterwegs. Er schaltete das Netbook an und fand seine Annahme bestätigt. Das Profil war auf ihn zugeschnitten und ließ sich mit demselben Passwort öffnen, das er für das Bulletin Board benutzte. Der Desktop enthielt nur wenige Icons. Darunter Programme für die Ton- und Kameraüberwachung und Verknüpfungen zu den Ordnern mit allen relevanten Informationen. Ondragon testete die Internetverbindung und loggte sich in das Board im Hundeforum ein.

Dort fragte Dobermann12 auf Englisch: „Paket erhalten?“

Die Antwort von Pinscher26 lautete: „Y!“

Ondragon tippe gleichfalls „Y!“.

Kurz darauf erschien eine neue Anweisung von Dobermann12: „Test des Equipments morgen um T 700 am Einsatzort C. Stelle auf Karte markiert.“

Ondragon schrieb „OK“, und auch Pinscher26 bestätigte.

Er loggte sich aus, öffnete den Ordner mit dem Titel „Karten“ und fand mehrere Satellitenaufnahmen in hoher Auflösung. Darauf waren alle neuralgischen Punkte mit roten Buchstaben markiert. Die Hallen, die Tore, der Stellplatz des Überwachungswagens und sogar ein kleines Boot standen ihm zur Verfügung. Es lag außerhalb der westlichen Mole, die das Hafenbecken vom Meer abtrennte. Ondragon schaltete den Computer aus. Er kannte seine Aufgabe. Mal sehen, ob sich das bei Charlize auch so verhielt. Er wählte ihre Nummer.

„Ja, Chef?“, meldete sie sich.

„Wollte nur mal hören, ob bei dir alles klar ist?“

Hai, alles im Griff.“

„Schaffst du das mit der Kriminaltechnikerin?“

„Na hör mal, Chef! Hab ich jemals eine Tarnung vermasselt?“

„Ich ziehe meine Frage zurück. Du schaffst das schon“, entgegnete er. Charlize hatte schließlich eine gewisse Ahnung von kriminaltechnischen Analysen. Es war Teil ihres Handwerks, das sie für Ondragon Consulting ausübte. Allerdings war sie eher darauf spezialisiert, keine Spuren zu hinterlassen, als welche aufzuspüren.

„Zum Glück haben mir die Doitsu-jin die Identität einer Laborratte gegeben. Stell dir vor, sie hätten mir einen Doktortitel in deutscher Geschichte verpasst.“ Sie kicherte. „Wäre schon peinlich, so ohne ein Wort Deutsch zu sprechen.“

„Ich glaube, ich spendier dir mal einen Sprachurlaub“, sagte Ondragon scherzhaft.

„Oh, ja. München im Herbst fänd ich schön! Ich wollte schon immer mal ein Dirndl tragen.“

Ondragon schnaubte. „Die deutsche Kultur besteht nicht nur aus Dirndl und Oktoberfest!“

„Ich weiß, aber ein wenig spießig seid ihr schon.“

„Willst du etwa sagen, ich sei spießig?“

„Nun, du hast gewisse Ansätze, Chef. Aber du bist nichts gegen das blonde Drachenfräulein. Die ist obernervig!“

„Charlize, konzentrier dich auf deinen Auftrag, ja? Über Frau Ritter kannst du dich später auslassen.“

„Frau Ritter! Wie du das sagst. Stehst wohl auf sie? Für meinen Geschmack ist Fräulein Dobermann viel zu dürr.“

Charlize war tatsächlich eifersüchtig, dachte Ondragon amüsiert. Er schaute aus dem Fenster. Draußen wich das letzte Abendrot einer weiteren schwülen Nacht. Irgendwie fühlte er sich durch ihre Reaktion geschmeichelt.

„Was ist? Du sagst ja gar nichts mehr“, hörte er Charlize durch das Telefon fragen.

„Ach, ich hatte gerade ein paar romantische Gedanken.“

„Romantisch? Doch nicht etwa mit dem dürren Besen …“

„Ach, meine liebe Charlize, du weißt doch, ich steh auf Dunkelhaarige.“

Sō desu ka – wirklich?“ Schweigen folgte, ob nun erleichtert oder nicht, das würde er vermutlich nie herausfinden.

„Okay, wir sehen uns morgen um halb sieben“, sagte er wieder ernst. „Ich hole dich auf dem Weg zum Hafen ab.“

Hai. Gute Nacht!“

„Gute Nacht, Sweetheart!“ Er legte auf.