65. Kapitel

08. Juni 2011
Berlin
13.20 Uhr

Einige Stunden später saß Ondragon im Café Einstein in der Kurfürstenstraße und grübelte bei einem dreifachen Espresso über die unerfreuliche Begegnung mit seinem Vater nach. Er hätte gut darauf verzichten können, den alten Bastard wiederzusehen. Sehr gut! Aber auf der anderen Seite hatte es ihm auch etwas gebracht, und das konnte er sich erst jetzt so richtig eingestehen. Endlich wusste er es: Es war kein Gerücht mehr, sondern die nackte Wahrheit!

Sämtliche Anspielungen jenes schmierigen schwedischen Firmenerben damals in der Cedar Creek Lodge waren tatsächlich wahr gewesen! Natürlich hatten der Typ und sein blonder Kumpan ihn damals bloß provozieren wollen – und sie hatten es auch geschafft – aber Ondragon hatte immer angenommen, es sei eine gut platzierte Lüge gewesen, die sie ihm da aufgetischt hatten. Jetzt fragte er sich jedoch, woher die beiden Männer diese Information hatten, und es beunruhigte ihn sehr, dass sie damals mehr darüber gewusst hatten als er.

Aber es stimmte.

Seine Familie arbeitete für den Geheimdienst. Sein Vater … und seine Mutter!

Ava Birgitta Ondragon hatte ihn belogen.

Und das tat mehr weh als alles andere.

Aber hatte er sich bloß in ihr getäuscht, oder hatte er sich täuschen lassen?

Niedergeschlagen stützte Ondragon den Kopf in beide Hände und starrte auf die leere Kaffeetasse vor ihm. Er brauchte dringend Urlaub, um darüber nachzudenken. Er wusste, dass es schwer werden würde, seinen Eltern jemals verzeihen zu können. Wenn nicht gar unmöglich.

Er dachte an das Gespräch mit seinem Vater. Der hatte so gut wie nichts über seine Tätigkeit beim BND preisgegeben. Das war typisch für den alten Sack. Immer machte er bloß Andeutungen und hüllte sich dann in hämisches Schweigen, nur um seine Macht zu demonstrieren. Eine armselige, kleine Macht aus „Ich weiß was, was du nicht weißt!“ und unerschütterlicher Arroganz. Jene tief verwurzelte Verachtung des Gebildeten gegenüber dem Dummen. Eine Weile hatte Ondragon dem selbstgerechten Grinsen standgehalten, in der Hoffnung, sein Vater möge sich erbarmen und ihm wenigstens einen kleinen Brocken der Wahrheit hinwerfen. Doch Siegfried Ondragon war stumm geblieben. Stumm wie ein Drache, der seine unausgesprochenen Geheimnisse wie einen Schatz hütete.

Ondragon seufzte. Er würde seinen alten Herrn nie dazu bringen, seine Geheimnisse zu offenbaren. Damit würde er wohl leben müssen. Das Einzige, was er tun konnte, war wohl, den größtmöglichen Abstand zwischen sich und ihm zu bringen. Und das am bestem heute noch.

Er blickte auf und holte sein Handy hervor. Über die Hotline der Lufthansa buchte er für den nächsten Morgen einen Flug von Berlin nach Los Angeles und winkte dann die Kellnerin herbei, bei der er sich einen weiteren Espresso und einen Teller Bandnudeln in Sahnesauce bestellte. Er hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und spürte, wie allmählich sein Appetit zurückkehrte.

Nachdem Ondragon den Teller leergegessen hatte, tupfte er sich den Mund mit der Serviette ab und sah sich in dem holzgetäfelten Raum um. Im Café herrschte eine ruhige aber gediegene Atmosphäre und die Tische in seiner Nähe waren leer. Er konnte also ungestört mit Charlize telefonieren. Rasch wählte er die Nummer seines Büros in L.A. Dort war es gerade acht Uhr in der Früh.

„Guten Morgen, Chef! Und wie ist es in Berlin?“

„Scheiße!“

„Oh.“ Charlize schwieg, weil sie offensichtlich nicht wusste, was sie darauf erwidern sollte.

„Schon gut“, entgegnete Ondragon, „sagen wir einfach, es ist mies gelaufen. Die ganze Sache mit der Akte war ein Fake. Ich erzähl dir alles, wenn ich wieder zurück bin. Mein Flieger landet morgen Mittag auf dem LAX. Ich komme dann direkt ins Büro.“

„Okay.“ Wieder Schweigen.

Aber Ondragon wollte jetzt kein Schweigen. Davon hatte er die Schnauze voll! „Was macht das Loch in deinem Bauch?“, erkundigte er sich höflich.

„Ist so gut wie verheilt. Ich merke kaum noch was davon. Der Mistkerl hat wirklich gut gezielt!“

„Tut mir leid, dass ich ihm dafür nicht in den Arsch treten konnte. Aber der BND ist mir zuvorgekommen.“

„Ich hoffe, der Scheißtyp schmort in der Hölle!“

„Ja, das hoffe ich auch, Honey.“ Ondragon verzog den Mund. Er hatte ihr nicht erzählt, dass Clandestin LeNoire als Einziger die Katastrophe im Berg überlebt hatte. Deshalb plagte ihn auch ein schlechtes Gewissen, schließlich hatte er es ihr versprochen, Rache zu üben. Aber er befürchtete, dass Charlize alle Hebel in Bewegung setzen würde, um Clandestin den Garaus zu machen, wenn sie wüsste, dass es ihn noch gäbe, und das wollte Ondragon verhindern. Aus einem unerfindlichen Grund war er froh, dass Monsieur Noire noch irgendwo dort draußen war und ein neues Leben anfing. Vielleicht beruhigte ihn auch bloß die Gewissheit, dass er das Geheimnis von Teslas Wundermaschine nicht alleine tragen musste, dass da draußen noch jemand war, der es mit ihm teilte. Das war in der Tat ein tröstlicher Gedanke. Ondragon fühlte nach dem kleinen Messingkästchen in seiner Hosentasche, dem wundersamen Adapter, den Yaqub ihm für sein Handy gegeben hatte. Natürlich funktionierte er nicht mehr, da das Weltensystem ja zerstört worden war, aber es war dennoch die Verbindung zu jenen Ereignissen in dem Berg. Und vielleicht bekäme es eines Tages ja eine neue Bedeutung. Bis dahin jedoch würde Ondragon es gut in seinem Safe daheim verwahren.

„Ach, Charlie“, sagte er seufzend. „Irgendwie war die ganze Sache für die Katz.“

„Hat der BND etwa seine Rechnung nicht bezahlt?“

„Doch, doch, das Geld ist angekommen, aber es bleibt ein schaler Nachgeschmack.“

„Weil Pandora verloren ist?“

„Ja.“

„Das kann ich gut verstehen. Immerhin habe auch ich mein Blut dafür geopfert.“ Sie lachte.

Apropos Blut, dachte Ondragon. Die Sache mit ihrem Vater hatte er nicht mehr angesprochen, seit er in Fortaleza ihr Krankenhauszimmer verlassen hatte. Sollte er es jetzt tun? Nein, lieber nicht. Auch das war etwas, das man besser persönlich besprach. Er spürte, wie seine alte Neugier sich regte und lächelte in sich hinein. Plötzlich fühlte er sich besser. Es gab noch genug Geheimnisse in der Welt, die er aufdecken würde, genug Probleme, die es zu lösen galt. Das seiner Familie konnte er getrost lassen, wo es war. Zumindest eine ganze Zeit lang. Und auch den Schmerz würde er schnell vergessen. Von Zeit zu Zeit musste ein Gefrierfach schließlich mal abgetaut und von alten Eiskrusten befreit werden, damit es hinterher wieder schön sauber und funktionstüchtig war. Doch vorher musste er noch etwas loswerden.

„Wir haben unser Bestes gegeben“, sagte er. „Ich danke dir für deine Hilfe, Charlize. Ohne dich …“

„Stopp! Nicht weiterreden, Chef! Sonst fühle ich mich noch gerührt. Und das wollen wir doch nicht, oder?“

„Nein, du hast recht. Das wollen wir auf keinen Fall. Wir sehen uns morgen in L.A.“

„Okay, bis morgen. Guten Flug.“

„Danke.“ Ondragon legte auf. Er war froh, dass Charlize die professionelle Distanz wieder hergestellt hatte, und freute sich auf seine Rückkehr in die ‚Normalität‘. Ja, er freute sich tatsächlich darauf, nach Hause zu kommen. Das war wirklich ungewöhnlich, denn ein wirkliches Zuhause gab es für ihn eigentlich nicht. Ohne es heraufbeschworen zu haben, tauchte plötzlich Malins Gesicht vor seinem geistigen Auge auf. Ihr stets misstrauischer Ausdruck und ihr forschender Blick, der tiefer geschaut hatte als alle anderen zuvor. Zumindest glaubte er das. Vielleicht bildete er es sich aber auch nur ein. Vermutlich hatte es gar keine engere Verbindung zwischen ihnen gegeben. Er schob diesen absurden Gedanken beiseite, schließlich hatte er soeben beschlossen, sein Gefrierfach aufzuräumen.

Ondragon sah auf seine Finger, die mit dem Handy spielten. Er könnte ihre Nummer wählen. Es wäre ganz einfach. Dann könnte er herausfinden, wie es ihr ging und was sie über ihn dachte. Sein Zeigefinger strich über das Display, rief die Liste mit den Kontakten auf und scrollte zum Buchstaben M. Er hatte sie unter ihrem Vornamen gespeichert.

Es wäre so einfach.

Sein Zeigefinger verharrte unschlüssig über der Anruftaste.

Du hast doch bloß Angst, sie könnte dich erneut beschimpfen. Alles andere ist bloß faule Ausrede!

Ondragon biss sich auf die Lippe. War er tatsächlich so feige?

Nein, das war er nicht! Sein Finger senkte sich auf das Symbol mit dem grünen Hörer. Im selben Moment gab das Handy ein Piepen von sich. Er hatte ein SMS bekommen. Überrascht stellte er fest, dass sie von Malin war! Er ballte eine Faust. Wieder war sie ihm zuvorgekommen, seine Jägerin. Mit beinahe zitternden Händen las er die Zeilen.

Hej hej, Paul. Bin gerade in Casablanca. Haben das weiße Dromedar gefangen und zu seinem neuen Besitzer gebracht. Bin im selben Hotel wie vorher und muss an dich denken, obwohl ich mir geschworen hatte, das nicht zu tun! Du bist ein verdammter Scheißkerl, weißt du das? Aber ein Teil von mir – wahrscheinlich der unzurechnungsfähige – möchte dich gern wiedersehen. Lust auf eine gemeinsame Jagd? LG Malin.

Als Ondragon die Antwort verfasste, fühlte er sein Herz schneller schlagen, als ihm lieb war. Er zögerte ein wenig, bevor er die SMS abschickte, tat es aber schließlich doch und steckte das Handy rasch weg. Dann bezahlte er seine Rechnung und verließ das Café.