32. Kapitel

24. Mai 2011
Fortaleza, Brasilien
23.20 Uhr

Das Telefon klingelte, als Ondragon schon gar nicht mehr damit gerechnet hatte. Und es wäre ihm beinahe aus der Hand gefallen, so sehr ließ der plötzliche Adrenalinschub seine Finger zittern. Er sprang auf und nahm den Anruf an. „Ja?“

„So, Mr. O!“, sagte der Kerl am anderen Ende. Leider schien er ein Faible für die Dichtkunst zu haben. „Ich werde das Hotel jetzt verlassen, zusammen mit Ihrer reizenden Assistentin. Sie ist übrigens wieder aufgewacht und möchte Ihnen etwas sagen.“ Ondragon hörte, wie das Telefon weitergereicht wurde, und kurz darauf erklang Charlizes erregte Stimme. Kurzfristig überspülte Erleichterung die beißende Schärfe seiner Sorgen.

„Chef? Hörst du mich? Mach das Arschloch bloß kalt. Nimm keine Rücksicht auf mich, ja? Wenn er aus dem Hotel kommt, dann knall das Schwein ab! Ich …“

Offensichtlich war es nicht das, was der Kerl hören wollte, er entriss Charlize das Telefon und sprach an ihrer Stelle weiter: „Sie sehen also, sie ist gesund und munter. Wenn sie das weiterhin bleiben soll, dann halten Sie die Füße still. Verstanden?“

In Ondragon rumorte der Hass. Wie gern würde er tun, wozu Charlize ihn aufgefordert hatte! Aber er konnte es nicht. Er spürte die ganze Last dieses beschissenen Falls auf seinen Schultern. Er wäre schuld, wenn ihr etwas zustieße, er ganz allein. Das würde er sich nie verzeihen. Zum ersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit beschloss er, etwas für jemand anderen zu tun.

Er senkte seine Stimme und antwortete: „In Ordnung, ich lasse Sie ziehen.“

„Und pfeifen Sie auch Ihre Wachhunde zurück. Wenn sich mir auch nur einer von ihnen auf hundert Schritt nähert, dann stirbt Ihre Assistentin! Haben Sie das verstanden?“

„Klar und deutlich, Monsieur Noire!

„Hören Sie verdammt noch mal auf, mich so zu nennen!“

„Aber das ist doch Ihr Name, oder nicht?“

„Nein, da liegen Sie falsch!“

Das glaube ich kaum, dachte Ondragon. Das ist dein Name, Freundchen, sonst würdest du dich nicht so aufregen. Ich werde herausfinden, wer du bist und für wen du arbeitest, und dich bis ans Ende der Welt verfolgen. Paul Eckbert Ondragon erpresst man nicht! Das war ein Fehler. Ein sehr großer Fehler!

„Ich bin jetzt gleich draußen“, hörte er den Unbekannten sagen. „Ihre Assistentin begleitet mich. Versuchen Sie also keine Dummheiten!“ Das Gespräch wurde beendet.

Ondragon wandte den Kopf und entdeckte den Kerl am Hoteleingang. Er trug eine Baseballmütze tief ins Gesicht gezogen und hielt Charlize vor sich fest. Sie taumelte und wirkte, als sei sie betrunken. Die Kiste konnte Ondragon nirgends entdecken. Der Typ hatte sie wohl im Zimmer zurückgelassen und nur das Buch und die Medaille eingesteckt. Vermutlich trug er beides am Körper, denn er hatte auch keine Tasche bei sich.

Mit seinem iPhone machte Ondragon ein Foto von dem Kerl, bevor dieser mit Charlize in einem Taxi verschwand. Wenig später fuhr es los. Ondragon lief zur Straße und wollte sich auch ein Taxi herbeiwinken, da hielt plötzlich vor ihm ein schwarzer Wagen. Agent Steiner öffnete die Tür und sagte: „Schnell, kommen Sie!“

Der schon wieder!, dachte Ondragon missmutig, tat dann aber, wie ihm geheißen, und sprang auf den Beifahrersitz. In gebührendem Abstand nahm Steiner die Verfolgung auf.

„Passen Sie auf, dass er uns nicht entdeckt!“, warnte Ondragon ihn und starrte besorgt auf die Straße. „Wo will er bloß hin? Zum Flughafen?“

„Könnte schon sein, der Flughafen liegt im Süden.“ Steiner gab Gas, als das Taxi an einer Kreuzung nach Süden abbog und aus ihrem Sichtfeld verschwand. Doch kurz darauf sahen sie das weiße Auto vor ihnen auf der weitegehend leeren Avenida Desembargador Moreira fahren. Der fehlende Verkehr machte die Verfolgung zwar leicht, aber dafür konnte der Mistkerl sie auch schneller entdecken. Sie mussten zusehen, dass sie ein paar Autos zwischen sich und ihm brachten. Steiner schien denselben Gedanken gehabt zu haben und scherte hinter einem roten VW ein. Das Taxi blieb auf der Avenida, die direkt zum Flughafen führte. Also wollte der Kerl den Inhalt der Kiste doch nicht hier in Fortaleza übergeben und sich stattdessen mit dem Flugzeug absetzen.

Steiner nahm ein Funkgerät zur Hand und informierte irgendeinen Kollegen darüber, dass die Zielperson zum Flughafen unterwegs war.

Jetzt gehst du in die Falle, Freundchen, dachte Ondragon und rieb sich die Hände, spätestens an der Passkontrolle fangen wir dich ab! Doch seine Vorfreude wandelte sich in jähe Verwirrung, als das Taxi wenige Augenblicke später nach links abbog und nun in Richtung Osten weiterfuhr.

Doch nicht zum Flughafen? Oder war das nur ein Ablenkungsmanöver?

Nach neun Blocks machte das Taxi eine erneute Linkskehre und befand sich auf dem breiten Via Expressa Parangaba. Wollte der Typ zurück zum Hotel? Verflixt, was hatte er vor?

Es dämmerte Ondragon erst, als er die Gegend, durch die sie fuhren, wiederkannte, und er schlug sich mit voller Wucht vor die Stirn. Warum hatte er diese Möglichkeit nicht eher in Betracht gezogen?

„Scheiße!“, entfuhr es ihm, und Steiner fluchte ebenfalls. Offensichtlich hatte auch der BND-Agent erkannt, wo sie sich befanden. Hektisch sprach er ins Funkgerät und trat gleichzeitig aufs Gas. Der Wagen machte einen Satz nach vorn und Ondragon wurde in den Sitz gepresst. Der Motor heulte auf, fast so wie bei dem Wagen, der Agentin Ritter überfahren hatte, und kam dann mit quietschenden Reifen zum Stehen. Ondragon sprang aus dem Wagen und rannte auf das große Gittertor zu, das gerade dabei war, sich zu schließen. Den lauten Protesten des Wachmannes davor zum Trotz schlüpfte er durch die kleiner werdende Lücke, zückte seine Pistole und lief hinaus auf das nächtliche Areal. Steiner und der Wachmann waren ihm dicht auf den Fersen. Er hörte das Schnaufen des Agenten und die hektischen Rufe des Sicherheitsangestellten hinter sich.

Das grelle Flutlicht eines Krans wies ihm die Richtung. Er sah, wie das Taxi mit dem Unbekannten am Kai hielt und der Kerl mit Charlize ausstieg. Vor ihm führte eine schmale Gangway zu einer Öffnung in einem rostigen Schiffsrumpf. Der Typ betrat die Gangway, doch dann drehte er sich zu ihnen um. Er hielt Charlize umklammert und hob eine Pistole über seinen Kopf. Er feuert einmal in die Luft und drückte den Lauf danach an Charlizes Schläfe. Der Knall hallte mehrfach vom Stahl des Schiffes wieder und verebbte über der Weite des dunklen Meeres. Augenblicklich hielt Ondragon an. Hinter ihm stoppten auch Steiner und der Wachmann.

„Keiner rührt sich! Sonst ist die Mademoiselle Fischfutter!“, rief der Kerl zu ihnen herüber und ging langsam weiter rückwärts die Gangway hinauf, die Waffe unbeirrt an Charlizes Kopf. Am anderen Ende erwarteten ihn die dunkle Öffnung im Schiffsrumpf und ein ängstlich dreinblickender Matrose, der seinen Kopf herausstreckte. Er verschwand, nachdem der Unbekannte ihm etwas über die Schulter zugerufen hatte. Ondragon sah bläulichen Rauch aus dem Schornstein des Öltankers quellen, sah, dass die Leinen längst eingeholt waren. Das Schiff würde ablegen, sobald der Kerl an Bord war, und dann wären Pandora und Charlize außerhalb seiner Reichweite. Er biss sich auf die Lippen. Was konnte er tun, um Charlize zu befreien?

Der Typ erreichte die Öffnung. Plötzlich hörte Ondragon seine Assistentin aufschreien. „Schieß doch endlich, Chef! Worauf wartest du noch?!“ Sie wirkte benommen, begann sich aber gegen den Kerl zu wehren.

„Nein!“, brüllte Ondragon und riss beide Hände hoch. „Tu das nicht, Charlize!“

Doch es war zu spät. Ein zweiter Schuss ertönte, dumpfer, als der zuvor, und kurz darauf sackte Charlize auf den Brettern der Gangway zusammen. Im selben Augenblick tauchte der Kerl in die Öffnung, und die Tür schloss sich hinter ihm mit einem lauten Quietschen. Ein Schiffsignal ertönte und der Tanker legte träge wie ein Eisberg ab. Langsam verschwand der rostige Rumpf aus dem Lichtkegel und glitt in die Nacht hinaus. Nur die Positionslichter zeigten noch an, wo er sich befand.

Ondragon kümmerte sich nicht darum, er stürmte die wackelige Gangway hinauf und kniete sich neben Charlize. Blut hatte die vordere Seite ihres Kleides getränkt.

„Oh nein!“ Mit fliegenden Händen tastete er ihren Körper nach der Verwundung ab und fand ein Einschussloch über ihrer rechten Hüfte. Er presste seine Hand darauf und sah sich mit wildem Blick nach Steiner um. Der kam die Gangway hinaufgelaufen, gefolgt von dem gehetzt wirkenden Wachmann.

„Rufen Sie verdammt nochmal Hilfe! Und zwar schnell!“

Steiner hob das Funkgerät an den Mund. Doch Ondragon bekam mehr nicht mit, was er sprach, denn er hatte sich über Charlizes blasses Gesicht gebeugt und hielt sie sanft im Arm. Der Blutfleck auf ihrem Kleid wurde unaufhaltsam größer.

„Bitte nicht“, flüsterte er. „Bitte, bleib bei mir. Hörst du? Ich brauche dich doch, Charlize-Honey!“