1. Kapitel

16. Mai 2011
New York City
12.35 Uhr

„Das hat deine Schwester prima gemacht!“, sagte Ondragon und drückte dem jungen Mann in Pagenuniform ein Bündel Scheine in die Hand. „Richte ihr aus, dass ich gerne mit ihr zusammengearbeitet habe.“

„Mache ich, Mr. O.“ Der junge Mann lächelte mokant. „Wir stehen jederzeit wieder für Sie zur Verfügung.“

Ondragon nickte, doch für ihn war klar, dass er dem Typen und seiner Schwester niemals wieder begegnen würde. Sie hatten ihren Job erledigt und waren somit „verbraucht“. Er arbeitete nie zweimal mit Externen zusammen. Reine Vorsichtsmaßnahme.

Der junge Mann steckte das Geld in die Innentasche seiner Uniform, verabschiedete sich mit einem Kopfnicken und verließ das Zimmer.

Als die Tür ins Schloss fiel, breitete sich ein Lächeln auf Ondragons Gesicht aus. Wie wunderbar reibungslos dieser Auftrag doch verlaufen war. Seine Klienten würden zufrieden sein und das Opfer ruiniert.

Ach, wie er seinen Job liebte!

Er wandte sich um und blickte in das Hotelzimmer. Ein Queensize-Bett, eine Minibar, ein Tisch, ein Stuhl und ein laufender Fernseher, der auf stumm geschaltet war. News-Channel. Man musste schließlich immer informiert sein. Auf dem Bildschirm moderierte eine dunkelhäutige Sprecherin in einem auberginefarbenen Kostüm gerade die neuesten Nachrichten der Stunde. Noch während Ondragon die exzellente Kleiderauswahl bewunderte, wurde das Bild eines älteren Herrn über ihrer rechten Schulter eingeblendet. Darunter der Name.

Es war sein Opfer, das gerade in Handschellen abgeführt wurde.

Das Grinsen auf Ondragons Gesicht wurde breiter. Das Schöne an diesem Auftrag war, dass er live verfolgen konnte, wie erfolgreich er war. Die Affäre war eingeschlagen wie eine Bombe! „Europäischer Spitzenpolitiker versucht, Zimmermädchen in New Yorker Hotel zu vergewaltigen!“ Traumhafte Schlagzeilen und ein traumhaftes Ergebnis seiner Arbeit. Er hatte den Kerl nach allen Regeln der Kunst diskreditiert, und das kurz vor den Wahlen in dessen Land. Zack, und weg war er von der politischen Bühne! Hätte der Typ seine Freunde und Feinde besser im Blick gehabt, wäre ihm das nicht passiert. Aber diese Art von Hybris hatte erfolgreiche Menschen schon immer in den Abgrund gerissen. Es war einigermaßen seltsam, dass jene, die sich in den obersten Wasserschichten des Haifischbeckens tummelten, irgendwann vergaßen, dass dort auch noch andere Raubtiere schwammen. Und wenn man es darauf anlegte, fand man immer etwas, das die anderen Haie dazu brachte, Witterung aufzunehmen. Eine winzig kleine Wunde genügte, und man wurde von ihnen zerfleischt! Zu dumm, dass unser grauhaariger Anwärter auf den Berlusconi-Award einen Hang zu ausschweifenden Sexparties gehabt hatte – nicht gerade ein Vorzeige-Hobby. Seine Partei dürfte mächtig sauer auf ihn sein. Aber wenn Ondragon ehrlich war, so war dieser Job auch nur zweitklassig gewesen. Eher ein Standard-Problem als die Magnum-Kategorie. Aber egal, seine wenigen Mitarbeiter waren momentan in andere Projekte eingebunden, so dass er den Fall hatte übernehmen müssen, als kleine Fingerübung sozusagen.

Auf dem Fernsehbildschirm wurde die Nachrichtensprecherin ausgeblendet und ein Beitrag über Fukushima folgte. Ondragon sah die Aufnahmen des havarierten Atommeilers und sein Lächeln verschwand. Der Text unter dem Bild lautete „melt-down“. Verdammte Sauerei, dachte er und ein Funken Sorge loderte in ihm auf. Er hatte Bekannte in Tokio. Was würde aus ihnen werden? Was würde aus der verseuchten Zone werden? Das wusste niemand so genau, auch jetzt, zwei Monate nach der Atom-Katastrophe nicht.

Er wollte den Fernseher abschalten, doch der nächste Beitrag erregte seine Aufmerksamkeit. Schnell stellte er die Lautstärke an.

„… wurde der Flugschreiber geborgen, der zweifelsfrei zu der vor zwei Jahren abgestürzten Air-France-Maschine gehört. Die BEA teilte heute mit, dass die Daten der Black Box erfolgreich ausgelesen werden konnten und sich Experten der Untersuchungsbehörde für Flugunfälle mit der Auswertung befassen. Noch immer ist die Ursache des Absturzes vom Airbus 330 vor der brasilianischen Küste unklar, bei dem 228 Passagiere ums Leben kamen …“

Ondragon starrte auf das Bild im Fernseher. Etwas daran passte nicht zum Gesamteindruck, das sagte ihm sein unfehlbares Gespür für solche Dinge. Es war einer seiner Ticks, ständig nach Fehlern im Muster zu suchen.

Er setzte sich auf das Bett und fixierte den Bildschirm. Darauf wurde das geborstene Rumpfteil eines Flugzeuges mit den Buchstaben ANCE gezeigt, es hing an einem Schiffskran. Dahinter ragten einige verrostete olivgrüne Trümmerteile auf, die sich ebenfalls auf dem Deck des Bergungsschiffes befanden. Aber war da nicht ein Kleckser Schwarz auf der olivgrünen Fläche? Ondragon runzelte die Stirn. Und warum rostiges Olivgrün, wenn die Wrackteile der Air-France-Maschine weiß lackiert waren?

Da hatte er den Fehler im Muster! Die olivgrünen Teile passten nicht zu den Airbus-Trümmern. Aber was hatten sie auf dem Schiff verloren?

Als Ondragon sich näher zum Fernseher beugte, verschwand das Bild und die hübsche Nachrichtensprecherin erschien wieder.

„Und nun zum Wetter“, sagte sie mit einem professionellen Lächeln.

„So ein Mist.“ Ondragon schaltete das Gerät ab. Er holte sein iPhone aus der Hosentasche und wollte die Nummer seiner Assistentin wählen, doch das Telefon kam ihm zuvor und begann zu klingeln. Es war eine unterdrückte Nummer, was ihn nicht sonderlich wunderte, denn er hatte oft mit Leuten zu tun, die ihren Kontakt geheimhielten. Er selbst tat das schließlich auch.

Mit einem forschen „Ja?“ nahm er den Anruf entgegen.

„Guten Tag, spreche ich mit Mr. Ondragon?“ Die Stimme am anderen Ende klang dünn und irgendwie weit entfernt. Und sie sprach Deutsch mit einem schwachen süddeutschen Akzent. Ondragon presste das Telefon fester ans Ohr. „Ja, und wer sind Sie?“, fragte er auf Deutsch zurück.

„Oh, Verzeihung. Ich heiße Alexander Kubicki und ich arbeite für den Bundesnachrichtendienst. Ich rufe Sie an, weil es in gewissen Kreisen heißt, dass Sie ganz spezielle Aufträge entgegennehmen.“

„Das stimmt, aber woher haben Sie meine Nummer?“

„Nun, es ist so, dass wir eine Akte über Sie führen, und darin stehen Ihre Kontaktdaten.“

„Eine Akte? Über mich?“, fragte Ondragon verstimmt. Hektisch sprang seine Zentrifuge an. Warum hatte der BND eine verdammte Akte über ihn?!

„Genau, über Sie! Sie sind doch Paul Eckbert Ondragon, oder nicht? Sohn von Siegfried Ondragon, Botschafter a. D.?“

„Was wollen Sie?“

Schweigen folgte, und Ondragon hätte beinahe aufgelegt, da sprach der Mann weiter.

„Wir wollen Sie engagieren.“

„Der deutsche Geheimdienst?“ Ondragon stieß ein belustigtes Lachen aus. „Um was geht es denn?“

„Das können wir Ihnen nur verraten, wenn Sie sich zur absoluten Verschwiegenheit verpflichten.“

„Verschwiegenheit gehört zu meinem Berufsethos, das müsste eigentlich auch in Ihrer Akte stehen!“

Der Mann am anderen Ende schien unbeeindruckt von seinem Sarkasmus‘. „Ich schicke Ihnen gleich eine Internetadresse zu“, sagte er im sachlichen Tonfall. „Dort registrieren Sie sich mit dem Decknamen ‚Schäferhund17‘ und loggen sich unter einem selbstgewählten Passwort ein. Sie werden umgehend freigeschaltet. Sie können unbesorgt sein, die Seite ist absolut sicher.“

Nicht vor Rudee, dachte Ondragon spöttisch und lauschte weiter den Anweisungen des BND-Mannes.

„Auf der Seite finden Sie ein Bulletin Board mit der Beschreibung Ihres Auftrages. Lesen Sie es sich gut durch und schicken Sie in den nächsten vierundzwanzig Stunden eine SMS mit J oder N an die Nummer, die auf der Seite unter dem Menüpunkt ‚Kontakt‘ zu finden ist. Haben Sie das so weit verstanden?“

„Aber selbstverständlich!“, antwortete Ondragon in gespreiztem Hochdeutsch. „Und was passiert, wenn ich mit N antworte?“ Er wusste schon jetzt, dass er das vermutlich nicht tun würde. Allein schon wegen der verdammten Akte!

„Überlegen Sie es sich gut. Denn das Honorar könnte äußerst interessant für Sie sein.“

„Ach, ja?“

„Ja, in der Tat“, wiederholte der Agent hochnäsig. „Noch Fragen?“

„Warum wollen Sie ausgerechnet mich für diesen Auftrag? Haben Sie keine eigenen Leute dafür?“

Wieder Schweigen am anderen Ende – oder war es ein Zögern?

„Nun, Herr Ondragon, Sie haben die Kontakte, für die wir Wochen, wenn nicht gar Monate brauchen würden, um sie aufzubauen. Diese Zeit haben wir aber nicht. Wir sind gezwungen, unverzüglich zu handeln!“

„Und das können Sie alles in meiner Akte lesen?“

„So ist es.“

Ondragon überlegte. Was die Deutschen wohl noch so alles über ihn und seine Kontakte wussten? Ihm war alles andere als wohl bei diesem Gedanken.

„Ich erwarte Ihre Antwort in vierundzwanzig Stunden, Mr. O!“

Ondragon wollte noch etwas erwidern, denn der Typ gebärdete sich reichlich arrogant, doch Kubicki hatte schon aufgelegt. Im selben Moment piepte das Handy. Es war die SMS mit der Internetadresse. Ondragon gab „www.deutsche-hunderassen.de“ in den Browser ein und eine unverfänglich aussehende Seite mit Hundebildern baute sich auf. Gegen seinen Willen musste Ondragon grinsen. Typisch deutsch! Aber wie er aus eigener Erfahrung wusste, war die beste Tarnung immer noch das Klischee.

Wie vorgeschrieben registrierte er sich für das Login im Forum. Immerhin hatten sie ihm den Namen Schäferhund zugeteilt und nicht Rauhaardackel oder Zwergpudel, dachte er und klickte auf den Anmelde-Button. Es dauerte einen Augenblick, dann erschien die inoffizielle Seite und anstelle netter Hundeschnauzen zeigte sie ein nüchtern gestaltetes Menü. Ondragon öffnete den Punkt „Bulletin Board“ und fand schnell den ihm zugeteilten Auftrag. Er überflog ihn, dachte nach und las ihn erneut. Diesmal gründlicher.

Dann sah er auf.

„Wollen die mich verarschen?“, stieß er laut aus. „Was für ein Auftrag ist das denn?“

Kopfschüttelnd starrte er auf das Handydisplay. Das war doch ein schlechter Scherz. Der BND wollte ihn damit beauftragen, ein Buch zu beschaffen? Ein gottverdammtes BUCH? Gereizt stieß Ondragon Luft aus. Ausgerechnet er! Stand denn nichts über seine Phobie in dieser beschissenen Akte? Irgendwie mutete das sonderbar an. Auch wenn Ondragon seine Phobie mit allen Mitteln vor der Welt zu verbergen versuchte, konnte er sich nicht vorstellen, dass der BND seine Dokumente derart unsauber führte. Das wäre wie die NSA ohne Internetanschluss. Eine andere Idee kam ihm. Vielleicht war das mit der Akte auch nur ein Bluff, um ihn zu ködern.

Nun gut, dachte er, gehen wir mal vom schlimmsten Fall aus, nämlich, dass es diese Akte gibt! Was könnten die mir bieten, damit ich tatsächlich anbeiße? Er klickte den Button an, auf dem „Zahlungsart“ stand. Eine Ziffer angegeben in US-Dollar erschien. Ondragon pfiff leise durch die Zähne. Das war in der Tat ein hübsches Sümmchen. Aber das Geld war es nicht, was ihn in den Bann zog. Auch nicht die voraussichtliche Anzahlung, die gewiss ihren Reiz besaß. Nein, es war der Satz, der darunter stand.

„Bei erfolgreicher und termingerechter Abwicklung der Operation wird dem Beauftragten Einblick in die Akte ‚Ondragon/Gemini‘ gewährt!“

„Die Akte ‚Ondragon/Gemini‘?“, wiederholte er nachdenklich. Gemini war Lateinisch und bedeutete Zwilling. Spielte das etwa auf seinen Zwillingsbruder Per Gustav an? Hatte der BND Informationen über ihn und seinen Tod, die er nicht besaß? Denkbar war es. Ondragons Neugier war geweckt, er spürte, wie die Zentrifuge in seinem Kopf schneller lief. Er könnte Rudee darauf ansetzen. Vielleicht fand sein thailändischer Cyber-Pirat eine Datei mit diesem Aktenzeichen im BND-Archiv. Oder er könnte den Auftrag einfach annehmen. Das mit dem Buch würde er schon hinbekommen. Schließlich hatte er vor zwei Jahren eine im wahrsten Sinne des Wortes mörderische Therapie gegen seine Phobie hinter sich gebracht.

Er schloss die Internetseite und ging in sein Telefonverzeichnis. Er würde die Sache überprüfen … und in vierundzwanzig Stunden eine Entscheidung treffen. Aber vorher musste er seinen Flug nach L.A. buchen.