54. Kapitel

12. September 1899
Colorado Springs
nachmittags

Gerührt brach Philemon in Tränen aus und ließ es zu, dass sie über sein Gesicht strömten. Wie ein Sturzbach überfluteten ihn die verschiedensten Emotionen. Tränen benetzten sein Hemd, seine Hände und die Tischplatte vor ihm. Bebend sah er Tesla an. Er war wie elektrisiert von dem, was der Doktor ihm soeben eröffnet hatte. Vergessen war der negative Effekt des Röhnfeldt-Experiments, denn etwas viel Größeres war an dessen Stelle getreten. Tesla hatte etwas entdeckt, das Röhnfeldt übersehen hatte. Eine verborgene Energiequelle, die schon immer dagewesen war. Die aber noch nie jemand zuvor wahrgenommen hatte. Es war die größte Entdeckung aller Zeiten!

„Doktor“, sagte Philemon mit tränenverschleiertem Blick, „warum haben Sie das nicht längst der ganzen Welt offenbart? Ihre Entdeckung würde alles verändern!“

„Weil ich befürchte, dass die Menschen die Größe meiner Erfindung nicht erkennen und sie womöglich für böse Zwecke missbrauchen werden. Deshalb ist sie bislang ein so gut gehütetes Geheimnis geblieben. Und ich möchte vorerst auch, dass das so bleibt. Mr. Ailey. Versprechen Sie mir das?“

„Ja, Doktor, natürlich! Ich verspreche es bei meiner Seele!“

„Gut.“ Der große Erfinder schlug den Blick nieder. Mit einem Mal wirkte er müde und ausgelaugt. „Auch ich habe Fehler gemacht“, sagte er leise. „Und der mit Mr. Myers zählt unweigerlich dazu. Aber es sind die Fehler, aus denen wir lernen, mein junger Freund, nicht die Erfolge. Nur wer sich seinen Fehlern stellt, kann vollbringen, woran andere verzagen.“ Andächtig erhob Tesla sich, und die Magie des Augenblicks war gebrochen. Ohne ein weiteres Wort ging der Doktor zu seiner Kammer und schloss hinter sich die Tür.

Einen Moment schaute Philemon nachdenklich auf die Tür und sah dann Löwenstein an. Der Deutsche nickte ihm wissend zu, und von diesem Augenblick an wusste Philemon, dass er endgültig zu ihnen gehörte.

Auf dem Nachhauseweg beeilte sich Philemon, zurück ins Hotel zu kommen, denn dort warteten seine geheimen Notizen auf ihn. Der heutige Tag war ereignisreich gewesen und er hatte viel aufzuschreiben. Außerdem musste er dringend etwas überprüfen!

Er passierte gerade den Laden von China Jim, da erkannte er, dass jemand in der dunklen Toreinfahrt stand. Es war Joe Herkimer. Der Telegraphist machte beinahe den Eindruck, als habe er auf ihn gewartet.

„N‘abend, Phil“, sagte er gutgelaunt, „wie geht es Ihnen? Habe lange nichts von Ihnen gehört. Alles in Ordnung da draußen im Labor? Sie sehen so mitgenommen aus.“ Herkimer hatte die Daumen in die Taschen seiner Weste gehakt und wippte auf den Schuhsohlen vor und zurück.

„Ja, es alles ist in Ordnung. Wir haben viel Arbeit“, antwortete Philemon kurz angebunden und wollte weiter, doch Herkimer trat aus der Einfahrt und versperrte ihm den Weg.

„Schon gehört? Die Pinkertons sind heute abgereist.“

„Wirklich?“, entgegnete Philemon und musste insgeheim zugeben, dass er von dieser Nachricht überrascht war. „Dann scheinen die Kerle ja jetzt endlich zu haben, was sie wollten. Was immer es auch gewesen sein mochte.“

Herkimer lächelte. „Ich habe ein Telegramm empfangen und weitergeleitet. Es kam aus Chicago und war eine Anweisung an den Anführer der Pinkerton-Abteilung hier in Colorado Springs. Darin hieß es, dass sämtliche Detektive unverzüglich ins Hauptquartier zurückehren sollen. Wollen Sie auch wissen, warum?“

„Ja, natürlich“, wandte Philemon seufzend ein.

„Aber vorher verraten Sie mir, ob Sie was Neues über Myers herausgefunden haben?“

Philemon schüttelte den Kopf. „Leider nein. Ich war in Manitou Springs und habe überall herumgefragt, aber dort will keiner etwas von einem Geist gesehen haben, auch auf dem Pikes Peak nicht.“ Das war eine schwache Ausrede, aber er konnte Herkimer ja schlecht die Wahrheit erzählen, nachdem er Dr. Tesla kurz zuvor sein Ehrenwort gegeben hatte. Ihm war seit dem heutigen Tage klar, dass Herkimers Geschichte stimmte. Myers war tatsächlich auf dem Gipfel gesehen worden, und Philemon wusste auch, warum. Doch darüber würde er schweigen wie ein Grab. Er würde niemals wieder mit einem Fremden über die Arbeit des Doktors sprechen. Niemals! Und wenn man ihn foltern würde!

„Wie bedauerlich“, entgegnete Herkimer. „Aber Sie halten mich weiterhin auf den Laufenden, ja?“

„Natürlich“, log Philemon. „Und, verraten Sie mir jetzt, warum die Pinkertons fort sind?“

Herkimer trat dicht an ihn heran, so dass Philemon wieder diesen süßlichen Geruch an seinen Kleidern riechen konnte, den Odem der Opiumpfeifen. „Die Pinks“, flüsterte er, „sind von dem Fall abgezogen worden, weil der Auftraggeber es nicht mehr länger für nötig hält, dass sie hier herumschnüffeln. Er hat die Informationen über den Doktor, hinter denen er her war, angeblich in den letzten Tagen erhalten.“

„Und wer ist dieser ominöse Auftraggeber?“, wollte Philemon wissen. Gleichzeitig überlegte er, was für Informationen Herkimer meinen könnte und ob einer von ihnen aus dem Labor unwissentlich etwas hatte nach außen dringen lassen.

„Tja, es gibt leider keinen Auftraggeber. Nicht in diesem Sinne zumindest“, erklärte Herkimer. Er steckte beide Hände tief in die Taschen seines Mantels und zog die Schultern hoch. „Es ist vielmehr ein Unternehmen, das dahintersteckt.“

„Ein Unternehmen? Welches?“ Philemon hatte so etwas bereits vermutet. Sein Verdacht fiel sofort auf die General Electric Company von Thomas Edison, Teslas erbittertstem Gegner.

„Es war die R. E. Olds Motor Car Company!“, flüsterte der Telegraphist hingegen und sah sich nervös um. Aber auf der nächtlichen Straße war niemand zu sehen.

Philemon runzelte die Stirn. Was hatte ein Autofabrikant mit Dr. Tesla zu tun? Oder mit dessen Arbeit? Nun, das würde er zu einem anderen Zeitpunkt noch herausfinden können, jetzt aber musste er dringend zurück ins Hotel! „Haben Sie vielen Dank für Ihr Vertrauen, Joe“, sagte er freundlich und lüpfte seinen Hut. „Aber ich muss jetzt weiter. Wünsche eine geruhsame Nacht … oder genehmigen Sie sich jetzt noch einen von Buddhas Träumen?“ Er zwinkerte dem Telegraphisten zu und nickte in Richtung des Eingangs zur Opiumhöhle.

Herkimer lachte und zog entschuldigend beide Hände aus den Manteltaschen, dabei fiel eine kleine Karte heraus und segelte zu Boden. Herkimer wollte sich bücken, doch Philemon war schneller. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Karte und stutzte.

We never sleep“, las er laut vor. „Pinkerton‘s National Detective Agency.“ Mit fragender Miene sah er den Telegraphisten an.

„Ach, die muss ich noch von diesem Kerl haben. Sie wissen schon, der mich ausgefragt hat. Geben Sie mal her, eigentlich brauch ich die ja nicht mehr.“ Herkimer pflückte ihm die Karte aus der Hand, riss sie rasch in winzige Schnipsel und warf diese anschließend mit einem unbekümmerten Schulterzucken hinter sich aufs Pflaster. „Hätte ich längst machen sollen. Schnee von gestern. Gehaben Sie sich wohl, Phil, und bis zum nächsten Mal.“ Er wandte sich um und ging durch die Toreinfahrt auf den Hinterhof. Als er fort war, bückte Philemon sich und hob ein paar der Schnipsel auf. Er versuchte sie zusammenzusetzen, doch Herkimer hatte ganze Arbeit geleistet, der Name, der auf der Rückseite stand, war nicht mehr zu entziffern.

Gedankenvoll schaute Philemon eine Weile auf die Schnipsel, dann ließ er sie auf die Straße fallen und setzte seinen Weg zum Hotel fort. Als er wenig später auf seinem Zimmer im Alta Vista ankam, schloss er schnell die Tür ab und öffnete den Kleiderschrank. Endlich konnte er nachschauen, was ihn schon den ganzen Rückweg über beschäftigt hatte. Er holte den Zettel von Myers aus der Kleiderstange, strich ihn auf der Platte des kleinen Sekretärs glatt und starrte auf die Notizen. Es war, als trüge er eine magische Brille, denn plötzlich verstand er all das, was Myers dort aufgezeichnet hatte, welchen Gedanken er versucht hatte festzuhalten.

Philemon sah auf die Zahlen der Berechnung, auf das Ergebnis mit den vielen Ausrufezeichen. Es war kein in sich geschlossener Kreislauf, wie Maxwell, Helmholtz und all die anderen gewichtigen Männer der Wissenschaft es behaupteten! Ganz entgegen ihrer Proklamation gab es da noch etwas anderes. Ein offenes System. Offen für Energie aus dem Äther! Es war fantastisch! Beinahe zu fantastisch, aber Philemon wusste, dass es wahr werden konnte. Mit Dr. Teslas Erfindung! Und die Gleichung von Frederick Myers war der Beweis dafür. Jedoch nur für denjenigen, der gewillt war, sich von den allgeltenden Gesetzen der Physik zu lösen. Und wer sollte das schon sein? Wer von den großen Herren der Wissenschaft war bereit, seinen Ruf und sein Renommee zu riskieren, um etwas Neues zu erschaffen? Der Doktor war es jedenfalls. Und er, Philemon, auch!

Entschlossen faltete er den Zettel von Myers zusammen und steckte ihn in seine Hosentasche. Egal, was die anderen Leute hinter ihrem Rücken über sie reden mochten, er war bereit, der Unbelehrbarkeit die Stirn zu bieten. Gemeinsam mit Dr. Tesla, Mr. Czito und Mr. Löwenstein würde er sich ein Herz fassen und allen Widrigkeiten trotzen, die da noch auf sie zukämen!