37. Kapitel

21. August 1899
Colorado Springs
abends

Gegen viertel vor neun verließ Philemon das Hotel und marschierte in der herannahenden Abenddämmerung zur Pikes Peak Avenue. Nur noch vereinzelt flanierten Kurgäste durch die Straße, eine Kutsche rollte vorbei in Richtung Bahndepot. Hinter dem langgestreckten Gebäude quoll die schwarze Wolke einer wartenden Lok hervor und verdüsterte den Himmel noch mehr. Um neun Uhr fuhr der letzte Zug aus Colorado Springs ab, und als das pfeifende Signal sich in die kühle Abendluft erhob, wusste Philemon, dass er den Laden mit den Waren aus Fernost rechtzeitig erreicht hatte.

Unauffällig sah er an der Fassade hinauf. Über dem Eingang zum Laden schlängelte sich auf einem Schild ein roter Drache. Er schwebte über einer Reihe chinesischer Schriftzeichen und den Worten James Bo Fun Da – Chinagoods. Das Schaufenster war knallbunt dekoriert und an der Tür hing ein Schild, auf dem ‚geschlossen‘ stand. Darunter prangte ein auf Englisch übersetzter Spruch. „Hüte dich vor Männern, deren Bauch beim Lachen nicht wackelt!“

Amüsiert verzog Philemon das Gesicht. Was wollte ihm diese chinesische Weisheit sagen? Dass ein ehrlicher Mann mit dem ganzen Körper lachte und nicht nur mit den Lippen? Er sah sich um. Niemand schien ihn zu beachten und er nutzte die Gelegenheit, durch die Toreinfahrt auf den dunklen Hof zu schlüpfen. Das einzige Licht dort stammte von einer funzeligen roten Laterne, die über dem Hintereingang zum Laden hing. Philemon ging zur Tür und klopfte. Ein Chinese öffnete. War das China Jim?

„Der träumende Buddha schaut durch das Tor der Ewigkeit“, sagte Philemon den Spruch auf und der Chinese ließ ihn wortlos eintreten. Er wurde von ihm durch einen ebenso schummrigen Gang zu einer Treppe gebracht, die in den Keller führte. Ein durchdringend süßlicher Geruch lag in der Luft. Neugierig geworden stieg Philemon die Stufen hinab, strich am Ende der Treppe einen schweren, roten Vorhang zur Seite und staunte, als er in den großen Raum dahinter blickte. Überall standen niedrige Liegen verborgen hinter Vorhängen und Paravents, darauf lagen Menschen zumeist auf der Seite und mit geschlossenen Augen. Lange filigrane Pfeifen steckten in ihren Mündern oder erschlafften Händen. Eine Handvoll Chinesen ging von Liege zu Liege und kontrollierte die Schlafenden. Dünne Rauchfäden stiegen von den Pfeifen auf und vereinten sich zwischen den purpurnen Lampions unter der Decke zu einem rötlichen Nebel.

Philemon wusste, was das hier war, fühlte sich aber, als habe er eine Zwischenwelt betreten.

„Hier kann man sich angenehme Träume erkaufen“, raunte eine Stimme neben seinem Ohr. „Wollen Sie auch einen?“

Philemon wandte den Kopf. Neben ihm stand Joe Herkimer und grinste ihn mit glasigem Blick an. Er trug nur noch Hemd und Hose und wirkte leicht derangiert. Ob er seinen Traum für heute schon gehabt hatte?

„Nein, danke“, lehnte er ab.

„Na ja, vielleicht später.“ Herkimer zuckte mit den Schultern. „Wissen Sie, das hier ist das einzige Vergnügen, das man in Colorado Springs noch hat. Alkohol und Huren hat der alte Bastard Palmer ja bereits verbannt.“

„Dann wird es nicht mehr lange dauern und er macht dieses Etablissement auch dicht“, sagte Philemon. Er folgte dem Telegraphisten durch den schummrigen Raum zu einem flachen Tisch, wo sie sich auf großen Kissen niederließen.

Herkimer schüttelte den Kopf. „Das glaube ich kaum, denn der gute Master Palmer hat ein kleines Laster, das er vor der Methodisten-Schnepfe, die sich seine Ehefrau schimpft, geheimhält.“

„Buddhas Träume?“

Herkimer schlug sich lachend auf den Oberschenkel. „Ganz genau, Sie sind ja ein Poet, mein lieber Phil! Buddhas Träume! Einmal in der Woche, wenn Madame Palmer im St. Georges-Ladies-Club weilt, kommt Mr. Palmer hierher und raucht seine Pfeife.“

Philemon war nicht besonders überrascht darüber. Überall auf der Welt herrschte Scheinheiligkeit. Warum also nicht auch hier?

„Und was wollen Sie jetzt so Wichtiges mit mir besprechen?“, fragte er ohne Umschweife. Er hatte nicht vor, länger als nötig in dieser Räucherhöhle zu bleiben. Seine Augen begannen schon, von den wabernden Opium-Schwaden zu brennen.

„Aber, aber, nicht so hastig. Erst wollen wir gemütlich miteinander trinken und auf unsere Freundschaft anstoßen!“ Herkimer zauberte einen Flachmann hervor und goss eine klare Flüssigkeit in zwei kleine Gläser. „Wodka! Das reinste Teufelszeug! In Manitou Springs gibt es zwei Polen, die brennen den Schnaps in ihrem Hinterhof. Ist aus Kartoffeln, sagen sie, schmeckt aber mindestens genauso gut wie Bourbon.“ Herkimer hob sein Glas. „Na los, was ist? Oder sind Sie auch so einer von diesen verknöcherten Typen von der Anti-Alkohol-Liga?“

Philemon schüttelte den Kopf, überwand sich und stieß mit Herkimer an. Er kippte sein Glas in einem Zug herunter und keuchte unvermittelt auf. Das Zeug brannte höllisch in der Kehle, stand einem anständigen Whiskey aber tatsächlich in nichts nach. Philemon schüttelte sich und spürte wie die Flüssigkeit sich warm ihren Weg in seinen Magen bahnte. Ah, wie gut das tat, nach all den Wochen der Enthaltsamkeit! Insgeheim hoffte er, Herkimer würde noch einen Drink springen lassen. Und als der Telegraphist gleich darauf nachfüllte, legte sich ein entspanntes Lächeln auf seine Lippen.

Ein Chinese kam und bot Herkimer eine Pfeife an. Der winkte ab und zog stattdessen ein Zigarrenetui aus seinem Jackett, das hinter ihm an einem Haken an der Wand hing. Er bot Philemon eine Zigarre an und diesmal griff dieser zu. Genüsslich rauchend lehnten sie sich kurz darauf in die Kissen zurück, und schon recht bald begann Philemon, die gedämpfte Atmosphäre in diesem mit Tüchern verhangenen Kellerraum zu mögen. Herrjeh, wie er New York vermisste! Er warf einen heimlichen Seitenblick auf Herkimer. Vielleicht war der Kerl ja doch gar nicht so übel. Mal sehen, was er zu erzählen hatte.

Nachdem sie die Zigarren ausgedrückt und sich noch einen Wodka genehmigt hatten, kam der blonde Telegraphist zur Sprache.

„Bestimmt wissen Sie ja bereits, dass die Pinkertons in der Stadt sind.“

„In der Tat, ich hab’s vom alten Ben erfahren.“

„Oh, Sie waren bei ihm?“ Herkimer grinste. „Und Sie haben kein Loch im Bauch? Das ist erstaunlich, denn der Alte ist schießwütig wie eine Rothaut auf dem Kriegspfad und meistens hat er sie nicht alle beisammen.“ Er ließ seinen Zeigefinger neben seiner Schläfe kreisen.

„Und trotzdem glauben Sie ihm seine Geschichte von der Nacht am Labor und dem Blitzschlag?“

Herkimer zuckte unbekümmert mit den Schultern.

„Sind deshalb die Pinkertons hier?“, fragte Philemon weiter. „Sollen sie das Verschwinden von Frederick Myers aufklären?“

„Ich glaube, Frederick Myers interessiert die nicht. Es ist etwas anderes.“ Herkimer wandte seinen Kopf und sah ihn an. „Mich haben sie übrigens auch schon befragt.“

„Ach, ja? Und was wollten sie von Ihnen wissen?“

„Es war nur einer von diesen Kerlen und eine rein zufällige Begegnung obendrein. Der Bursche war unscheinbar. Ein richtiger Mister ‘Einmal-gesehen-und-schon-wieder-vergessen’. Er hat mich auf der Straße nach dem Weg gefragt und mir dann im Verborgenen seine Marke gezeigt, diesen We-never-sleep-Blödsinn. Er hat gesagt, ich soll mich unauffällig verhalten und neben ihm weitergehen, dabei hat er mich ausgefragt. Er hat wissen wollen, was ich über die Experimente des verrückten Doktors weiß, wer alles zur der Forschungsgruppe gehört und ob ich etwas Merkwürdiges bemerkt hätte.“

„Und, haben Sie?“

Herkimer verfiel in lautes Gelächter. „Ha, ha, ha! Sie sind mir vielleicht ein Spaßvogel, Phil. Also ehrlich! Was für eine dämliche Frage!“

Verstimmt strich sich Philemon einen Krümel vom Ärmel.

„Das ist wirklich drollig!“ Herkimer redete einfach weiter, ohne die Regung seines Gegenübers zu bemerken. „Ich sage nur: Hallo? Merkwürdige Dinge in Colorado Springs? Zum Teufel, ja! Natürlich gehen hier merkwürdige Dinge vor. Das ist, als würde man Jesus fragen, ob er an Gott glaubt! Seit dieser verrückte Doktor unter uns weilt, ist unser einst so idyllisches Städtchen zur neuen Hauptstadt der Merkwürdigkeiten geworden! Besuchen Sie Odd-City, solange es noch steht! Tz!“ Er schüttelte erbost den Kopf. „Was für ein ausgemachter Blödsinn! Warum fragt der Pinkerton-Kerl ausgerechnet mich nach etwas Merkwürdigem? Ich bin doch nicht der Einzige hier, der mitbekommt, was hier passiert. Das Donnern, die Blitze aus den Wasserhähnen, die Glühbirnen, die nachts einfach zu leuchten anfangen, und dann noch die durchgehenden Pferde, dieser ganze Unfug findet beinahe tagtäglich statt. Die Pinks müssten es doch eigentlich selbst miterleben. Diese Blödmänner!“ Herkimer ließ seine flache Hand auf die Tischplatte niedersausen und es gab einen dumpfen Knall.

„Und was haben Sie ihm geantwortet?“

Herkimer legte einen Finger an seine Nase. „Ich habe sein kleines Vertraulichkeitsmanöver natürlich gleich durchschaut. Zuerst wollte er mit mir locker ins Gespräch kommen und dann nach den Dingen fragen, die ihn in Wirklichkeit interessierten.“

„Etwa die Telegramme, die Sie versenden?“, sagte Philemon mit wissender Miene.

„Na also, Sie sind ja ein helles Bürschchen! Das gefällt mir! Kommen Sie, darauf trinken wir noch einen.“ Er füllte nach und sie tranken. Danach knallten sie die leeren Gläser mit einem befriedigten Seufzen auf den Tisch.

„Ah, das ist gut!“ Herkimer wischte sich über den blonden Schnurrbart und sah Philemon direkt an. Sein Blick flackerte kurz, aber ob nun vom Alkohol, den Opiumdämpfen oder vor Aufregung, konnte Philemon nicht sagen.

„Es war so, wie ich es vermutet hatte“, fuhr Herkimer schließlich mit deutlich schwererer Zunge fort. „Da ich für den verrückten Doktor die Telegramme versende – Mr. Palmer hatte ihm dies übrigens zu Beginn seines hiesigen Forschungsaufenthaltes zugebilligt – fragte mich der Pink kurzerhand nach dessen telegraphischer Korrespondenz. Er wollte wissen, was und mit wem der Doktor depeschierte.“

„Und, haben Sie es ihm verraten?“ Auf einmal brannte Philemon selbst darauf zu erfahren, was in den Telegrammen stand. Wenn Herkimer dies wusste, und das tat er mit Sicherheit, so konnte er ihm vielleicht ein wenig bei der Lösung des Rätsels um Frederick Myers behilflich sein.

„Natürlich nicht!“, rief Herkimer empört aus. „Was denken Sie denn? Ich habe eine Berufsehre, und die lautet Verschwiegenheit. Unter keinen Umständen darf ich über das reden, was ich in den Telegrammen übermittle.“

Nachdenklich drehte Philemon das kleine Gläschen zwischen seinen Fingern und überlegte, wie er den Telegraphisten dazu überreden könnte, ein wenig aus dem Nähkästchen zu plaudern.

„Von wem könnten die Pinkertons engagiert worden sein?“, lenkte er das Gespräch zunächst in eine andere Richtung.

„Keine Ahnung.“

„Wie viele Detektive sind denn überhaupt hier in der Stadt? Und wo steigen sie ab?“

„Es sind drei, so weit ich weiß“, sagte Herkimer. „Und Sie wohnen alle im Kensington Gardens, als Kurgäste getarnt.“

„Und woran kann ich sie erkennen?“

Herkimer stieß ein belustigtes Lachen aus. „Die Pinks erkennt man nicht. Deswegen sind sie ja Pinks!“

„Soso“, sagte Philemon ironisch. Er drückte sich aus den Kissen hoch und beugte sich vor. Er war nur noch wenige Zentimeter von Herkimers Gesicht entfernt, als er fragte: „Wissen Sie, ich verstehe das Ganze nicht. Warum erzählen Sie ausgerechnet mir das alles? Sie kennen mich doch gar nicht. Und außerdem arbeite ich für diesen verrückten Doktor, das macht mich Ihnen gegenüber nicht gerade zu einer Vertrauensperson.“

„Ich will Sie doch bloß warnen!“

„Warnen?“, fragte Philemon skeptisch und wandte mit einem Mal den Kopf, weil sich neben ihnen auf einer der Liegen ein Träumender regte. Der ältere Herr seufzte, drehte sich auf den Rücken und wurde wieder ruhiger. Opiumrauch stieg von seiner Pfeife auf wie ein Dschinn und vernebelte ihnen die Sicht. Philemon musste blinzeln, bis er wieder klar sehen konnte. Die Dämpfe des Schlafmohns setzten ihm unerwartet heftig zu. Oder war es der polnische Schnaps? Zumindest fühlte er sich plötzlich sehr, sehr müde. Dennoch konnte er jetzt nich einfach so gehen. Er musste wissen, was in den Telegrammen gestanden hatte! Gewaltsam riss er seine Augen auf und stemmte sich gegen die Müdigkeit.

„Vor wem oder was wollen Sie mich denn warnen, Joe?“, hakte er in vertraulichem Ton nach. „Etwa vor den Pinkertons, weil sie hinter den Erfindungen des Doktors her sind, oder vor Dr. Tesla selbst, weil er es höchstwahrscheinlich zu verantworten hat, dass einem seiner Assistenten etwas zugestoßen ist?“

Er sah, wie Herkimers Blick unruhig durch den Raum huschte, um schließlich wieder zu ihm zurückzukehren. Die wasserblauen Augen des Telegraphisten waren rot unterlaufen, doch etwas in dessen Glanz hatte sich verändert. Sie wirkten mit einem Mal nicht mehr benommen vom Opium, sondern klar und vollkommen nüchtern, so als blickten sie direkt in die Wahrheit.

„Ihr Doktor ist ein Lügner!“, stieß er kurz darauf aus.

„Ein Lügner?“, drängte Philemon. „Wieso?“

Herkimer bleckte die Zähne zu einem unergründlichen Grinsen. „Weil Fredrick Myers nicht fort ist und auch nicht tot … Er ist noch hier!“