7. Kapitel

21. Mai 2011
Fortaleza, Brasilien
6.00 Uhr

Am nächsten Morgen frühstückte Ondragon auf dem Zimmer. Da man ihm allein schon wegen seiner Körpergröße von über 1,90 sofort ansehen konnte, dass er ein Gringo war, ließ er sich seinen Dreitagebart stehen und zog sich möglichst ungepflegt an, um wenigstens von den fliegenden Händlern in Ruhe gelassen zu werden. Eine schlabbrige, schwarze Trainingshose mit Löchern am Knie, ein fleckiges Shirt ohne Ärmel und eine dunkle Ghettowollmütze mussten es tun, um ihn in einen Strandpenner zu verwandeln, der mittellos in Fortaleza hängengeblieben war. In dieser Verkleidung konnte er sich zur Not auch durch die Favelas schlagen, ohne dass bei den Gangs gleich die Alarmglocken ansprangen; bei einem ausländischen Alki ohne Geld gab es eh nichts zu holen. Die Pistole steckte er sich vorn in den Hosenbund, das Ersatzmagazin in die Tasche und das Messer klebte er sich mit Tape an die linke Wade. Er stellte sich vor den Spiegel, prüfte sein Aussehen und tat so, als hätte er in paar Flaschen Zuckerrohrschnaps intus. Ja, so war es gut. Mit hängenden Schultern und mit leicht vornübergebeugtem Oberkörper wirkte der Grad des Deliriums überzeugend genug, um unbehelligt zu bleiben, und außerdem war auf diese Weise die Pistole nicht zu erkennen.

Ondragon stopfte das Netbook, das Satellitentelefon und einige andere Dinge in den Rucksack, schlüpfte in ein sauberes Hemd und zog sich die Mütze vom Kopf. Die wollte er sich erst wieder aufsetzten, wenn er draußen war. Um diese frühe Uhrzeit lag die übliche Klientel des Hotels zwar noch verkatert in ihren Betten, aber er musste trotzdem sicherstellen, dass er das Gebäude verlassen und später wieder betreten konnte, ohne für einen Obdachlosen gehalten zu werden, denn den würde man mit Sicherheit in einem großen Bogen hinauskatapultieren.

Unbehelligt erreichte er die Tiefgarage und fand in einer dunklen Ecke den Corolla. Er warf den Rucksack auf den Beifahrersitz und setzte sich hinters Steuer. Der Wagen sprang ohne Probleme an und Ondragon fuhr los. Draußen herrschte das pastellfarbene Zwielicht eines bewölkten Morgens. Es war kaum Verkehr auf den Straßen und so erreichte Ondragon Charlizes Appartementhotel in wenigen Minuten. Er wendete und parkte den Wagen einen halben Kilometer entfernt am Randstein. Danach sah er sich noch einmal um – eine gute Orientierung war die halbe Miete. Anschließend holte er den Rucksack aus dem Auto und machte sich zu Fuß auf den Weg zu Charlize. Sie erwartete ihn aufbruchsbereit im Foyer. Ondragon staunte nicht schlecht, als er sie sah und schämte sich, weil er vorgehabt hatte, sie zu kontrollieren. Aber ihr Outfit beruhigte ihn und brachte ihm einmal mehr in Erinnerung, dass auch Charlize ein Profi war.

Lächelnd trat er ihr entgegen.

„Und?“, fragte sie ein wenig bissig. „Ist alles genehm?“

„Frau Doktor sieht perfekt aus!“ Das tat sie wirklich. Charlize war die Verkörperung einer Kriminaltechnikerin schlechthin. Die Haare zu einer schrecklich normalen Frisur zurückgesteckt, eine schwarze Hornbrille auf der Nase, dezentes Makeup und zur Abmilderung des Klischees (und genau das war die hohe Kunst bei der Erschaffung einer glaubwürdigen Verkleidung) nicht etwa einen strengen Hosenanzug, sondern einen grauen Sweater und eine Jeans. Dazu noch eine Handytasche am Gürtel und einen nerdigen Freisprechclip, den sich sonst nur Idioten ans Ohr klemmten. Aber er verbarg das Earpiece, mit dem Charlize am Operations-Funk teilnehmen würde. Das Sahnehäubchen ihres Outfits war der von den Schlechtigkeiten dieser Welt abgehärtete Blick. Voilà, fertig war der Typ Mensch, der sich nur in seinem Labor zwischen den Pröbchen und Stapeln von Auswertungsdiagrammen wirklich wohlfühlte. Selten eitel, aber dennoch äußerst penibel veranlagt und besonders vernarrt in technische Gimmicks.

Apropos.

„Und wo ist die Kamera?“, wollte Ondragon wissen.

Charlize zeigte auf die Brille. „Das Mikro dazu befindet sich in einer meiner Haarspangen. Sehr geschickt, wenn man bedenkt, dass ich vor Ort höchstwahrscheinlich einen Kittel tragen werde. Da hätte eine Kamera im Knopfloch oder in der Gürtelschnalle nichts gebracht.“

Ondragon nickte anerkennend. Das musste er dem BND lassen, sie hatten tatsächlich nicht nur Akten geführt, sondern auch nachgedacht. „Okay“, sagte er, „du lässt dich jetzt mit dem Taxi zum Haupttor am Hafen fahren, aber bevor du reingehst, steckst du dir noch eine Zigarette an und siehst dich ein wenig um. Du wirst den Van von Ritter und Steiner dann schon sehen. Nach dem Mikro- und Kameratest gehst du rein und lässt dich dort als neue Labor-Mitarbeiterin registrieren. Ich komme zu Fuß nach. Während du drin bist, beziehe ich Posten in dem eingestürzten Haus. Falls es erforderlich sein sollte, werde ich eine Runde um den Block drehen, bei der ich so tun werde, als lungere ich herum. Alles klar?“

Charlize hob eine Faust. „Ganbare masu – ich gebe mein Bestes!“

Ondragon hob ebenfalls eine Faust und stieß damit gegen die seiner Assistentin. „Ganbare!

Danach wartete er, bis Charlize aus der Tür war, und kleidete sich draußen neben dem Gebäude hinter einer Mülltonne um. Wenige Minuten später torkelte er als Strandpenner in Richtung Hafen. Als er in die Avenida Vicente de Castro einbog, konnte er aus der Ferne Charlize vor dem Haupttor stehen und rauchen sehen. Beinahe im selben Augenblick meldete sich Agentin Ritter über den kleinen Knopf in seinem Ohr.

„Test! Test! Position 3, können Sie mich verstehen?“, fragte sie auf Englisch.

„Klar und deutlich!“, antwortete Ondragon und fragte: „Position 2, kannst du mich hören?“

„Jepp!“, hörte er Charlize und grinste. Er wusste, dass sie nicht viel von Funkdisziplin hielt und dachte, dass Ritter und Steiner mit der Ausdrucksweise seiner Assistentin noch so ihr Vergnügen haben würden. Aber da die meiste Kommunikation zwischen Charlize und dem brasilianischen Untersuchungsteam auf Portugiesisch ablaufen würde, gab es eh nicht viel mitzuhören, denn er glaubte nicht, dass die beiden BND-Agenten in dieser Sprache besonders gut bewandert waren. Er selbst verstand sinngemäß, was gesprochen wurde, und hatte mit Charlize einige Codewörter vereinbart. „Mann, ist das heiß hier“, war eines davon und stand für „Brauche Hilfe! Sofort!“

„Ich geh jetzt rein!“, sagte Charlize in seinem Ohr. Er sah, wie sie die Zigarette wegwarf und auf den Haupteingang zuging.

„Position 2, Zutritt“, wiederholte Ritter.

Ondragon rollte mit den Augen. Er hatte wenig Lust, sich das ganze Gequatsche über Funk anzuhören. Auf die Bilder der Kamera war er dafür umso mehr gespannt. Also machte er sich schnell auf zu seinem Versteck in der Hausruine. Er fand einen hübschen Platz im ersten Stock an einem eingeworfenen Fenster, von dem aus er sogar einen Abschnitt der Halle sehen konnte, in der die Wrackteile der Flugzeuge untergebracht waren.

„Position 2, ich kann auf das Gelände blicken. Wenn du Raucherpause machst, geh hinter Halle 1, dort ist ein E an der Wand, da kann ich dich sehen.“

Até mais tarde!“, flüsterte Charlize. Bis später.

„Hier Position 1! Geben Sie immer ihren Positionsnamen an, wenn Sie sprechen, Position 3!“, beschwerte sich Ritter. Mussten die Deutschen denn immer so oberkorrekt sein?

„Ich denke, bei diesem überschaubaren Kreis an Operationsteilnehmern erkennen wir uns alle an der Stimme“, funkte Ondragon dazwischen. „Dieser Positionsquatsch ist überflüssig und stiehlt uns nur Zeit!“

Beleidigtes Schweigen drang aus dem Earpiece und dann: „Na schön. Weitermachen!“

Ondragon holte das Fernglas aus dem Rucksack und legte es auf die zersplitterte Fensterbank. Danach schaltete er das Netbook an und öffnete den Link zum livefeed der Kamera. Das Bild brauchte einige Sekunden, um sich aufzubauen. Es war schwarzweiß und trotz der geringen Leistungsstärke der Kamera auf diese Entfernung relativ scharf, man konnte gut erkennen, wo sich Charlize gerade befand. Sie stand in einem kleinen Büro vor einem Schreibtisch, hinter dem ein Mann in Uniform saß und in einen Telefonhörer sprach. Ondragon verstand kein Wort, da der Sicherheitsangestellte viel zu schnell redete, aber wahrscheinlich ging es gerade um Charlizes Akkreditierung.

„Habe Bildkontakt!“, sagte er in das Mikro.

„Verstanden!“, antwortete Ritter knapp.

Ondragon beobachtete, wie der Sicherheitstyp den Hörer auflegte, sich zurücklehnte und Charlize wenig interessiert anblickte. Die Tarnung schien zu funktionieren. Wenig später erschien ein Mann mit grauen Haaren und weißem Kittel. Er reichte Charlize die Hand.

„Dr. Lima“, hörte Ondragon den Mann sich vorstellen. Das war laut Memo der Historiker und Chef des Untersuchungsteams. Charlize nannte ihren Namen und reichte ihm das Empfehlungsschreiben. Dr. Lima nickte und gab ihr zu verstehen, ihm zu folgen. Draußen fuhren die beiden in einem Golfcaddy an den Containerstapeln und Silos vorbei zu Lagerhalle 2, die sie durch eine Tür an der westlichen Stirnseite betraten. Drinnen herrschte dämmeriges Licht. Ondragon konnte sehen, dass in der Halle eine regelrechte Stadt aus verschiedenen Bauelementen errichtet worden war. Ein mobiles Labor auf einem Lastwagentrailer bildete den Mittelpunkt. Im Hintergrund war eine riesige, helle Zeltplane zu erkennen, und über Charlizes Mikro drang ein untergründiges Brummen in sein Ohr. Vermutlich Generatoren, die das Labor und die Kühlaggregate für das Leichenzelt mit Strom versorgten. Ondragon hörte, wie Dr. Lima sich für den Geruch in der Halle entschuldigte, und war froh, jetzt nicht an Charlizes Stelle zu sein. Denn trotz des Zeltes und der Kühlung würde es in der Halle fürchterlich nach Verwesung stinken.

Charlize wurde durch eine Eingangsschleuse geführt, die in den Labortrakt mündete und durch ein Magnetkartenschloss gesichert war. Dr. Lima reichte ihr einen Kittel und geleitete sie ohne Umwege in den Raum, der sich in dem Lastwagentrailer befand und mit allen möglichen medizinischen Gerätschaften ausgestattet war. Es existierte sogar ein Röntgengerät.

„Das ist der Ort, an dem der Tresor mit Pandora steht“, funkte Ritter, und Ondragon bestätigte, dass er verstanden hatte. Er sah über Charlizes Kamera, dass bereits zwei weitere Leute in dem Containerlabor warteten. Eine kleine, dunkelhäutige Frau mittleren Alters, die sich als Marcia Morinho vorstellte, und ein glatzköpfiger Mann. Die Frau musste die Archäologin sein und der Typ der Graphologe, also der, der sich mit Handschriften auskannte. Das Team zur Untersuchung der Kiste war somit vollzählig.

Ondragon hörte Dr. Lima etwas sagen und verstand: „Wir haben mit dem Öffnen der Kiste auf Sie gewartet, Dr. Souza. Das Protokoll verlangt es so. Ihr Vorgänger hat das Artefakt vor zwei Tagen bereits vermessen und fotografiert. Auch die Proben von den Außenseiten der Kiste wurden genommen. Wir können nun also mit dem Inhalt beginnen.“

Charlize ließ ihren Kamerablick über die Mitarbeiter des Teams gleiten. Alle nickten. Aufgrund ihrer erwartungsvollen Gesichter schlussfolgerte Ondragon, dass sie das Innere der Kiste wohl noch nicht kannten. Wiederholt fragte er sich, was so brisant daran sein mochte? Gespannt blickte er auf das Bild der Kameraübertragung. Er sah, wie sich die Gruppe vor dem Tresor postierte. Charlize hielt sich etwas im Hintergrund und blickte den anderen über die Schulter. Dr. Lima zog sich ein Paar Latexhandschuhe an und begann, das Zahlenschloss am Tresor zu drehen.

3-5-9-1-7

Ondragon notierte sich die Kombination in der Hoffnung, dass sie nicht jeden Tag neu konfiguriert wurde. Die Tür des Tresors öffnete sich und zum Vorschein kam ein rechteckiger, in transparente Plastikfolie gewickelter Gegenstand.

„Die Kiste hat über sechzig Jahre in der Dauertauchzone gelegen“, hörte er Dr. Lima auf Portugiesisch dozieren. „Sie besteht aus einer Aluminium-Magnesium-Legierung und ist über die lange Zeit wasserdicht geblieben, was erstaunlich ist. Die Crew des Bergungsschiffes hat sie gewaltsam geöffnet, um zu sehen, was drin ist, dabei wurde das Schloss zerstört. Laut Angaben des Kapitäns ist aber nichts von dem Inhalt der Kiste entwendet worden.“

Schön und gut, dachte Ondragon ungeduldig. Aber jetzt mach das Ding endlich auf!

Dr. Lima hob die Kiste aus dem Tresor und trug sie zu dem Metalltisch, der in der Mitte des Labors stand und eigentlich für die Untersuchung der Leichen gedacht war. Dort stellte er die Kiste ab und begann, sie aus der Folie zu wickeln.

Sieht total unspektakulär aus, dachte Ondragon, eine verbeulte Alukiste mit zwei Henkeln zum Tragen an den Seiten. Weiter nichts. Durch das aggressive Meerwasser hatte das Leichtmetall eine mattweiße Kruste bekommen. Auf dem Deckel war die Korrosionsschicht entfernt worden. Wahrscheinlich, um die Gravur zu untersuchen, die sich darunter befand.

„Näher heran“, sagte Ondragon ins Mikro und Charlize beugte sich vor. Die Gravur war kaum noch leserlich, aber Ondragon konnte die deutschen Wörter „Luftwaffe“ und „Reich“ entziffern.

„Sind Sie bereit für den großen Moment?“, fragte Dr. Lima unterdessen.

Mann, das sind doch nicht die Kronjuwelen!, dachte Ondragon und hörte, wie auch Agentin Ritter ungeduldig Luft ausstieß. Gebannt schaute er auf den Bildschirm. Dr. Limas Hände griffen nach dem Deckel und hoben ihn langsam an. Jemand rückte die Lampe über dem Labortisch zurecht und das Innere der Kiste wurde in grelles Licht getaucht.

Unvermittelt schnürte sich Ondragons Kehle zu und sein Herzschlag begann zu rasen. Er hörte das ehrfurchtsvolle Raunen der Wissenschaftler und biss sich schmerzhaft auf die Zunge. Obwohl er sich mental auf den gefürchteten Gegenstand vorbereitet hatte, bekam er seine Reaktion nicht unter Kontrolle. Er merkte, dass er laut keuchte, und versuchte, wenigstens das zu unterbinden. Ritter und Steiner mussten ja nicht mitbekommen, wie der Rest seiner Körperfunktionen ausflippte.

Zwei Gegenstände lagen in der Kiste. Eine Holzschatulle mit abgestoßenen Ecken und darunter ein schwarzer, beinahe fettig wirkender Ledereinband. Ein Buch; so groß und flach wie ein Fotoalbum. Das weiße Halogenlicht hob alle Einzelheiten hervor. Mit brennenden Augen starrte Ondragon auf das verhasste Objekt und spürte, wie der wohlbekannte Ekel sich in seinem Magen manifestierte. Er schluckte angestrengt, um ihn dort unten festzuhalten.

Jemand machte Fotos mit Blitzlicht. Eine behandschuhte Hand holte die Holzschatulle heraus und legte sie auf den Tisch, desgleichen verfuhr sie mit dem Buch. Immer wieder verursachte das Zucken des Blitzlichtes unerwünschte Weißblenden in der Kameraübertragung. Doch dank ihnen gelang es Ondragon, sich aus seiner Starre zu lösen. Er rieb sich über die Kehle und schob die Übelkeit zurück in tiefere Gefilde. Das Einzige, was an sein Ohr drang, während er mit seiner Phobie kämpfte, war ouro und diário de bordo – die Worte „Gold“ und „Logbuch“. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er auf den Computerbildschirm. Charlize schien seine Qual instinktiv zu spüren, denn sie hielt ihren Blick hauptsächlich auf die Schatulle gerichtet. Eine Hand kam ins Bild und öffnete sie. Auf dem zerschlissenen Samtbett im Innern lag eine etwa handtellergroße Medaille aus Metall.

Ondragon atmete tief durch und versuchte, sich auf die Medaille zu konzentrieren. Er machte einen Screenshot von der Übertragung und vergrößerte das Bild. Die Medaille zeigte einen bartlosen Mann im Profil über zwei gekreuzten Eichenlaubzweigen. Überrascht las er die Inschrift, die über dem Kopf stand: „Thomas Alva Edison MDCCCCV.“

Der Text links und rechts neben dem Portrait, das offensichtlich Thomas Edison darstellte, lautete: „Awarded by the American Institute of Electrical Engineers for meritorious Achievements in Electricity.” Und darunter stand: „To Nikola Tesla 1917.”

„Das ist die Edison-Medaille, die Nikola Tesla von der AIEE verliehen wurde. Sie wiegt sechs Unzen und ist aus vierundzwanzigkarätigem Gold”, erklärte Ritter über Funk. Sie klang ganz aufgeregt.

„Hübsche Wertanalage. Aber wer ist Nikola Tesla?“, fragte Ondragon.

„Ein bedeutender Erfinder zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts.“

„Ein Deutscher?“

Ritter lachte. „Nein, Tesla war Serbe und ist 1884 nach Amerika ausgewandert, wo er 1943 starb.“

„Und was macht seine Medaille in einem Flugzeug der Wehrmacht? Was ist das überhaupt für eine Maschine und warum ist sie auf dem Weg nach Südamerika gewesen?“, wollte Ondragon wissen, aber Ritter überging seine Fragen einfach und referierte weiter über diesen Nikola Tesla.

„Tesla war ein Genie. Wir haben ihm viele, noch heute großartige Dinge zu verdanken. Von ihm stammen zum Beispiel der Wechselstrom, das Radio oder die Fernsteuerung per Funkwellen, um nur einige seiner unzähligen bahnbrechenden Erfindungen zu nennen.“

„Das Radio? Ich dachte, das hat Marconi erfunden“, warf Ondragon ein.

„Guglielmo Marconi hat die Idee von Tesla gestohlen, aber das ist eine lange Geschichte, die können Sie ja heute Abend im Lexikon nachlesen.“

Lexikon? Hörte er da etwa ein leises Lachen? Die Frau machte ihm Spaß! Missmutig wandte er sich wieder dem Geschehen auf dem Bildschirm zu. Die Medaille war derweil umgedreht worden und enthüllte ihre Rückseite, einen nackten Mann, hinter dem ein Engel mit einem Palmenwedel stand.

„Das Genie der Elektrizität gekrönt von Ruhm”, erläuterte Ritter.

„Aha, toll”, entgegnete Ondragon. Die Besserwisserei der Agentin ging ihm auf die Nerven. „Und was bedeutet die Medaille?“

„Sie bedeutet, dass wir auf dem richtigen Weg sind!“

Diese schwammige Aussage war eindeutig ein erneutes Ausweichen auf seine Fragen. Der richtige Weg? Wohin und für wen? Und was hatte die Medaille damit zu tun? Darüber würde Ondragon schnellstmöglich mehr herausfinden müssen. Doch jetzt musste er erst einmal Charlize beistehen. Die machte ihre Sache als Kriminaltechnikerin recht gut. Fachmännisch nahm sie Proben von der Oberfläche der Medaille und schabte auch ein paar Splitter des Metalls ab für die Prüfung des Feingehalts. Zunächst galt es für die Wissenschaftler auszuschließen, dass es sich bei der Medaille um eine Fälschung handelte. Als diese Prozeduren abgeschlossen waren, schwenkte Charlizes Kamerablick auf den anderen Gegenstand. Das Buch! Ondragon schluckte. Das würde er nicht durchstehen! Er zwang sich hinzuschauen – wenigstens so lange, bis er wusste, was drinstand.

Endlich öffnete einer der Wissenschaftler den speckigen Einband, auf den ein Reichsadler mit Hakenkreuz geprägt war, und gab den Augen des Betrachters ein fleckiges Deckblatt preis. „Flugbuch“, stand darauf geschrieben und darunter ein handschriftlich eingetragener Name, „Oberst Karl Brenner“. Wahrscheinlich der Pilot, dachte Ondragon und biss sich auf die Unterlippe. In seiner Kehle stieg der neu entflammte Ekel immer höher wie Scheiße in einem verstopften Abflussrohr. Bleib dran, feuerte er sich an. Du schaffst das!

Jemand blätterte die Seite um und die ersten Vermerke erschienen in tabellarischer Form. Bevor Ondragon sie jedoch entziffern konnte, wurde die Übertragung plötzlich unterbrochen.

„He, was ist? Ich habe Bildausfall!“, meldete er an Ritter.

„Bei uns auch. Tanaka, melden Sie sich! Brauchen Sie Hilfe?“

Doch Charlize sprach unbeirrt mit den Wissenschaftlern aus dem Team weiter. Also war sie nicht in Bedrängnis.

„Es müssen Störquellen vorhanden sein, die das Signal beeinträchtigen. Vielleicht ist es das Röntgengerät im Labor. Wir setzen die Überwachung per Mikrofon fort und versuchen, den Bildkontakt wieder herzustellen. Over.“

Ondragon musste bei all seiner Neugier zugeben, dass er über den Bildausfall erleichtert war. Die Informationen über das Buch würde er spätestens heute Abend von Charlize erhalten. Womöglich kam sie auch an die Fotos von der Dokumentation heran, welche die brasilianischen Wissenschaftler schon gemacht hatten. Wesentlich entkrampfter als zuvor konnte Ondragon nun dem weiteren Verlauf der Untersuchung folgen. Leider verstand er von der portugiesischen Fachsimpelei nicht allzu viel. Er würde sich wohl gedulden müssen.

Als es endlich Mittag war, hörte er, wie Charlize sich für eine Raucherpause entschuldigte und kurz darauf vor dem großen E an Halle 2 erschien.

„Tanaka, Bericht!“, forderte Ritter über Funk.

„Ja, ja, schon gut!“, antwortete Charlize gereizt.

Durch das Fernglas sah Ondragon, wie sie sich eine Zigarette anzündete und einen Zug nahm.

„Die Medaille scheint echt zu sein. Zumindest vom Feingehalt her. Das haben die Prüfsäuren ergeben. Dr. Morinho macht gerade einen Abgleich mit alten Fotografien der Medaille. Außerdem haben wir Anhaftungen gefunden, die noch näher untersucht werden sollen. Die Proben laufen über Nacht durch. Dann wissen wir mehr über das Alter.“

„Und das Buch?“

„Ist so ein Nazi-Ding. Ein Piloten-Logbuch in Tabellenform. Auf der ersten Seite sind die Einträge noch sauber in den vorgesehenen Kästchen notiert worden, danach folgen fünf handgeschriebene Doppelseiten quer über die Tabelle und acht Quadrate mit Zahlen. Vielleicht ein Code.“

„Wurde er entschlüsselt?“, fragte die BND-Agentin hektisch.

„Nein, bisher nicht.“

„Und die Einträge? Ist es jemandem aus der Gruppe gelungen, sie zu übersetzen?“ Ritters Fragen kamen wie Peitschenhiebe. Ondragon konnte sich vorstellen, wie angepisst Charlize von diesem Kommandoton war. Dennoch hatte er eine gewisse Achtung vor Ritters Hang zum Perfektionismus. Darin waren sie einander gar nicht so unähnlich. Und Charlize würde schon darüber hinwegkommen, dass es noch eine Frau gab, die Ahnung von ihrem Job hatte.

„Nein!“, hörte er seine Assistentin in das Mikro zischen.

„Okay, Tanaka. Aber vergessen Sie nicht: Verzögern Sie die Übersetzung des Logbuches und vernichten Sie die Fotos vor Abschluss der Operation!“

„Ja, geht klar. Bin ja nicht senil!“

Ondragon hörte Charlize leise fluchen, bevor sie auf Japanisch sagte: „Diese alte Hexe geht mir mächtig auf den Keks!“

„Beruhige dich. Ich verstehe ja, was du meinst“, entgegnete er.

„Was sprechen Sie da miteinander?“, schmetterte Ritter dazwischen.

„Charlize, besorg mir mehr Informationen über das Flugzeug, hörst du? Und über alles andere, was du finden kannst. Irgendetwas, das uns einen Vorteil vor den Doitsu-jin verschafft.“

„Verstanden, Chef!“

„Schluss jetzt! Auf diesem Kanal wird ausschließlich in Englisch kommuniziert! Wenn Sie sich nicht daran halten, Mr. Ondragon, dann klinke ich Sie aus dem Sprechfunk aus!“

„Verzeihen Sie, war reine Gewohnheit. Wird nicht wieder vorkommen. Wie sieht es mit der Kamera aus? Kriegen Sie sie wieder zum Laufen?“, fragte er Ritter, um sie abzulenken.

„Das Signal ist leider immer noch unterbrochen. Aber Steiner arbeitet daran.“

„Verraten Sie mir, was das für ein Logbuch ist und was Sie sich davon versprechen?“, wagte Ondragon probeweise einen Vorstoß. Er brannte förmlich darauf, zu erfahren, warum der BND solch einen Aufwand mit externen Dienstleistern wie ihm und Charlize betrieb.

Zuerst drang nur statisches Rauschen aus dem Earpiece, dann Ritters ruhige Stimme: „Wir vermuten, dass sich hochrangige NS-Offiziere mit dieser Maschine nach Argentinien absetzen wollten.“

„Ach was! Und Adolf Hitler war mit an Bord?“, scherzte er.

Ritter stieß genervt Luft aus. „Sicher ist, dass es Offiziere waren. Und wir hoffen, dass das Logbuch uns die nötigen Informationen verschafft, um wen es sich dabei gehandelt hat. Hitler war es jedenfalls nicht, das ist gewiss.“

Eigentlich schade, dachte Ondragon. Aber ihn interessierte nicht nur, wer sich in dem Flugzeug befunden haben könnte, sondern auch, was. Diese Edison-Medaille war ihm äußerst suspekt. Warum war sie in der Kiste? Sie könnte natürlich Kriegsbeute gewesen sein, die am Ankunftsort gut gegen Geld hätte eingetauscht werden können. Das ergab schon einen gewissen Sinn. Aber irgendwie auch wieder nicht. Ondragon beließ es dabei, Ritter nicht weiter auszuquetschen. Sie würde es ihm eh nicht verraten, dazu war sie zu clever. Er würde ihre Story später mit dem gegenchecken, was Charlize ihm an Informationen mitbrachte.

Er hörte seinen Magen knurren und aß einen Energieriegel. Danach nahm er ein paar Schlucke aus der Wasserflasche und suchte mit dem Fernglas die Umgebung ab. Charlize war wieder ins Labor zurückgekehrt, wo die mühselige Dokumentation der Fundstücke fortgesetzt wurde. Viel würde in den nächsten Stunden wohl nicht mehr passieren. Ondragon legte das Fernglas beiseite, schaltete die Funkübertragung etwas leiser und lehnte sich gemütlich mit dem Rücken an die Wand. Die ganz große Show würde sowieso erst in zwei Nächten stattfinden und bis dahin konnte er sich in seiner Beobachterrolle ein wenig entspannen.

Er schreckte auf, weil er ein Geräusch gehört hatte. Aber nicht über das Earpiece, es war von unten gekommen, aus dem Haus. Schnell klappte er das Netbook zu und sprach leise mit Ritter: „Hier ist was? Ich gehe es überprüfen!“ Dann stand er auf und pirschte mit gezückter Waffe zur halbeingestürzten Treppe. Dort spähte er nach unten auf die Schutthaufen. Staubkörnchen tanzten lautlos im Licht der Sonnenstrahlen, die durch die Fenster drangen, sonst war keine Bewegung auszumachen.

Wenn dort unten tatsächlich jemand umherschlich, so müsste der Schutt wie kleine Alarmanlagen unter seinen Sohlen knirschen. Es war jedoch nichts dergleichen zu hören. Ondragon wollte die Pistole in den Hosenbund stecken, da hört er es wieder. Ein verhaltenes Scharren. Es kam von der Tür zum Gebäude, die bloß noch an einer Angel in der Füllung hing.

Mit angehaltenem Atem bewegte er sich Schritt für Schritt die Treppe hinunter. Rasch sondierte er den Raum. Doch da war nichts. Langsam schlich er auf die Tür zu. Doch bei all dem Schrott, der hier unten herumlag, war es schwer, kein Geräusch von sich zu geben, und schließlich erklang ein Knirschen direkt unter seinem Fuß.

Mist!, dachte Ondragon, schnellte mit erhobener Waffe durch die Tür und zielte nach draußen. Doch seine abrupte Vorstoßtaktik schreckte keinen unerwünschten Besucher auf. Vermutlich war es nur eine streunende Katze gewesen, oder eine Möwe, von denen hier Hunderte herumflogen. Ondragon steckte die Waffe weg und kehrte nach oben zurück, wo er an Ritter meldete, dass alles in Ordnung war.

Da sich im Labor bei Charlize noch immer nichts Aufregendes ereignete, loggte er sich über das Netbook ins Internet ein und gab „Nikola Tesla“ in das Suchfenster bei Google ein. Mal sehen, was es über dieses angebliche Genie alles zu finden gab.