50. Kapitel
12. September 1899
Colorado Springs
nachmittags
In den vergangenen Wochen hatten sie das Experiment jeden verdammten Tag wiederholt – außer natürlich sonntags. Immer wieder hatten sie die Terminals am Morgen auf- und am Abend abgebaut, mal bei Sonnenschein, mal bei Regen. Doch nie hatte Philemon in das Terminal steigen dürfen, es waren immer die anderen beiden, die an dem Versuch teilnahmen. Selbst der Doktor war mehrmals in die Röhre gestiegen, um, wie er gesagt hatte, das Experiment nun endlich am eigenen Leib zu erproben.
So viel also zu der vermeintlichen Einweihung, dachte Philemon verdrießlich. Im Gegenteil verhielt es sich sogar weitaus schlechter als zuvor, denn seit jenem Tag, an dem der Doktor ihm den Schrank mit den Röhren gezeigt hatte, wirkten Tesla und seine beiden Kumpane verschlossener denn je. Penibel überwachte der Doktor jeden Versuch und verschwand im Anschluss wortlos in seiner Kammer, wo er die ganze Nacht blieb. Nur noch ganz selten tauchte er im Hotel auf.
So würde es mit Sicherheit auch am heutigen Tag sein, dachte Philemon. Aber das war vielleicht auch ganz gut so, denn es passte zu dem, was er heute vorhatte. Wie so oft stand er am Hauptschalter für den großen Transformator und wartete auf das Zeichen von Löwenstein. Dr. Tesla hatte sich auf seinen Beobachtungsposten an der offenen Tür zurückgezogen und blickte mit starrer Miene nach draußen, wo der Pikes Peak wie ein grauer Riese in der Ferne lag. Philemon spürte, dass er schwitzte. Aber das lag mehr an der heißschwülen Luft, die über der Prärie hing, als an seiner Furcht, die er längst abgelegt hatte. Dies war nun schon die zwölfte oder dreizehnte Wiederholung des Experimentes und es war ihm mittlerweile zur Routine geworden. Bei jedem Durchgang schossen sie Energie in Form von Teslas speziell modulierten Skalarwellen vom Labor auf den Pikes Peak und jedes Mal zeichneten die Instrumente alles auf. Angeblich, denn leider hatte Philemon die Aufzeichnungen noch immer nicht zu Gesicht bekommen. Aus irgendeinem Grund hielten Tesla und die anderen sie vor ihm zurück.
Für das heutige Experiment war Czito persönlich auf den Berg gefahren, um es von dort oben aus zu überwachen und die Aufzeichnungen anschließend sofort mit hinunterzubringen. Philemon glaubte nicht, dass Tesla Zweifel gegen die Präzision der dortigen Instrumente hegte. Er wollte nur sicherstellen, dass die Ergebnisse auch geheimblieben. Irgendwie machte der Doktor seit Tagen einen betrübten Eindruck, so als hätte sich eine Wolke aus Kümmernis vor seinen immerwährend sprühenden Geist geschoben.
Philemon sah, dass Löwenstein auf den Chronometer blickte, den sie im Labor zur Zeitmessung benutzten, und kurz darauf hob der Deutsche die Hand. Es musste also gleich zwölf Uhr sein; die mit Czito verabredete Zeit. Ihre Blicke trafen sich, Löwenstein nickte und senkte seine Hand. Mit einem entschlossenen Ruck schloss Philemon den Schalter. Es wurde dunkel im Labor und Blitze begannen von der Spitze der Spule durch den Raum zu zucken. Doch selbst daran hatte Philemon sich längst gewöhnt. Auch das Donnern und Krachen hörte er kaum noch durch seine Wattepfropfen in den Ohren. Dafür meinte er, ganz deutlich das rhythmische Pulsieren der Skalarwellen auf der Vorderseite seines Körpers zu spüren. Es fühlte sich an, als stünde er im Meer und die Wellen schwappten gegen seine Brust. Kraftvoll und zugleich durchdringend. Die Auswirkungen von Skalarwellen dieser Frequenz seien vollkommen unbedenklich, hatte Doktor Tesla erklärt. Sie wirkten sogar förderlich auf das Wohlbefinden und er denke darüber nach, einen medizinischen Apparat für die Behandlung verschiedener körperlicher Leiden zu entwickeln. Das hatte unter den beiden anderen Assistenten kurzfristig Erheiterung ausgelöst. Löwenstein und Czito hatten wohl die wunderlichen Auswirkungen von Teslas Schlafapparat noch lebhaft im Gedächtnis.
Löwensteins Hand hob sich und Philemon öffnete den Schalter. Das Licht ging an und der Krach verebbte. Dr. Teslas Gesichtsausdruck blieb unverändert. Er blinzelte nicht mal. Wahrscheinlich ging er bereits im Kopf durch, was er sich später in seinem Studierzimmer notieren würde.
„Mein Herren, ich gehe jetzt ins Terminal. Löwenstein, führen Sie alles so durch, wie ich es Ihnen erklärt habe!“
„Jawohl, Doktor!“, rief der Deutsche.
Philemon beobachtete, wie Tesla nach draußen marschierte und in das Terminal kroch. Als die kleine Tür sich hinter ihm schloss, schaute er zu Löwenstein hinüber. Die Hand des deutschen Ingenieurs senkte sich, und gelassen schloss Philemon den Stromkreis. Es war ja nicht das erste Mal, dass der Doktor persönlich an dem Experiment teilnahm, und schließlich war noch nie etwas passiert. Zumindest nicht, seit er dabei war.
Routiniert wartete Philemon ab, während die Blitze durch das Labor zuckten und die Skalarwellen durch seinen Körper wummerten. Da hob sich Löwensteins Hand wieder und er unterbrach die Stromzufuhr. Sofort huschte sein Blick hinüber zum Terminal, und sein Herzschlag beschleunigte sich, als sich nichts rührte. Doch dann öffnete sich die Tür und Dr. Tesla kam heraus. Beruhigt sah Philemon, wie er seine langen Gliedmaßen streckte und zu ihnen herübergeschlendert kam. Er schien viel besserer Laune zu sein als vorher und zwinkerte Philemon vergnügt zu, als er an ihm vorbei in das Labor ging
„Genug für heute!“, rief er und Philemon pulte sich die Pfropfen aus den Ohren. „Wir brechen hier ab. Sie können die Apparaturen abbauen.“ Dann verschwand er in seiner Kammer.
Philemon half Löwenstein bei der Demontage des Terminals. Immer wieder warf er dabei dem Deutschen einen verstohlenen Blick zu. Sollte er ihn jetzt danach fragen? Er war unsicher. Vor zwei Tagen hatte er eine Antwort auf sein Telegramm erhalten, und konnte es kaum erwarten, Löwenstein damit zu konfrontieren. Was sein Freund in New York nach einigem Suchen über das Röhnfeldt-Experiment herausgefunden hatte, war äußerst beunruhigend, und er musste unbedingt mit jemandem darüber sprechen.
Sie schleppten die große Kupferröhre ins Labor und deckten sie mit dem Wachstuch ab. Auch Löwenstein wirkte, als stehe er unter großer Anspannung. Er war wenig gesprächig, was ungewöhnlich war. Philemon fragte sich, ob etwas vorgefallen war, von dem er nichts wusste. Hatte sich das Problem mit Myers verschärft? Oder hatte es vielleicht mit den Aufzeichnungen der Messinstrumente auf dem Berg zu tun, die man ihm vorenthielt? Philemon unterdrückte einen Seufzer und ging Löwenstein bei der Deaktivierung der Kondensatoren zur Hand. Er würde es niemals herausfinden, wenn er sich nicht überwand und den Deutschen danach fragte. Sie zogen die Drahtklemmen von den Kontakten ab und legten sie sorgfältig zur Seite. An den Kondensatoren und Batterien durfte kein Fließstrom entstehen. Bestenfalls waren dann am nächsten Tag die Batterien leer, schlimmstenfalls aber gab es einen Funkenschlag und das Labor brannte ab.
Als sie die Aufräumarbeiten abgeschlossen hatten, zogen sie sich die Gummihandschuhe von den Fingern und wuschen sich in der Regentonne vor dem Gebäude. Danach kehrten sie zurück in das Labor, wo sie sich an einen Tisch setzten und Coca-Cola tranken. Die Flaschen hatten sie zum Kühlen in der Regentonne versenkt. Löwenstein grinste und stieß mit Philemon an. Sie gaben einen zufriedenen Laut von sich, als sie die Flaschen wieder absetzten.
„Ein wirklich schmackhaftes Gesöff habt ihr Amerikaner da erfunden!“, sagte Löwenstein und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. „Na, dann wollen wir mal auf den guten alten Czito warten. Ich bin gespannt, wie schnell er es mit seinen kurzen Stummelbeinchen hierherschafft.“
Philemon lachte und trank noch einen Schluck von dem süßen Getränk. Jetzt wäre der perfekte Moment, dachte er. Diese freundschaftliche Stimmung musste er ausnutzen. Er sah Löwenstein an, der sich endlich etwas zu entspannen schien, und gab sich schließlich einen Ruck. Wer niemals fragt, wird dumm sterben, hatte sein Onkel immer gesagt und der war Reporter bei der New York Times gewesen. Er stellte seine leere Flasche auf den Tisch und lehnte sich vor. „Was glauben Sie, werden die Aufzeichnungen, die Czito mitbringt, anzeigen? Ich hätte sie zu gerne einmal gesehen.“
Löwensteins Gesichtsausdruck veränderte sich leicht und sein Lächeln wirkte mit einem Mal nicht mehr ganz so offen. „Also“, sagte er und lehnte sich wieder vor, „darüber kann ich leider nichts sagen. Dr. Tesla wertet die Ergebnisse aus, ohne dass wir dabei sind.“
„Warum wiederholen wir immer wieder dieses eine Experiment?“
Löwenstein hob die Schultern und seine Finger spielten gedankenverloren mit der Flasche auf dem Tisch. Ganz offensichtlich waren ihm die Fragen unangenehm.
Philemon hielt den Deutschen mit seinem Blick gefangen. „Warum? Es ist doch erwiesen, dass Dr. Röhnfeldt geisteskrank war.“
Überrascht sah Löwenstein auf. „Woher kennen Sie Dr. Röhnfeldt?“
„Tesla hat Ihnen doch bestimmt erzählt, dass er mich in seiner Kammer mit seinen Notizen erwischt hat, oder etwa nicht?“
Auf Löwensteins Wangen legte sich ein Hauch von Röte, was Philemon verriet, dass er auf dem richtigen Weg war.
„Bevor ich hierher kam“, fuhr er fort, „habe ich noch nie etwas von einem Dr. Röhnfeldt gehört. Aber nachdem ich in Teslas Notizen auf diesen Namen gestoßen bin, habe ich begonnen, Nachforschungen anzustellen. Was ich dabei herausfand, ist äußerst interessant.“ Das war es in der Tat, wenn nicht sogar komplett verrückt! „Dr. Felix Röhnfeldt war ein angesehener Arzt aus Berlin, sein medizinisches Fachgebiet die Anatomie des Menschen. Außerdem war er ein Anhänger der Äther-Theorie und Bewunderer von Luigi Galvanis Entdeckung der ‚tierischen Energie‘. Sie wissen ja, das Experiment mit dem Froschschenkel, den er unter Strom gesetzt zu zucken begann. Dr. Röhnfeldt fragte sich, ob dies auch mit dem menschlichen Körper möglich sei und widmete sich in seinen privaten Arbeiten zunächst der Frage, welche Auswirkungen elektrische Ströme auf den Menschen haben konnten. Ähnlich wie auch Dr. Tesla, der Millionen von Volt über seinen Körper fließen ließ, um zu beweisen, dass sein Wechselstrom entgegen Edisons Behauptung ungefährlich ist. Doch Dr. Röhnfeldt kam auf eine viel verrücktere Idee. Er wollte erproben, ob man mit Hilfe von Elektrizität Materie auflösen und sie an anderer Stelle im Raum wieder solide werden lassen könne. Er nannte das ‚Transportation von äthergelöster Materie‘ oder ‚Das Röhnfeldt-Experiment‘. Angeblich ist ihm die Transportation von einigen leblosen Gegenständen gelungen, ja, sogar die eines Kanarienvogels – wenn man daran glauben mag. Denn er hat diesen Versuch niemandem gezeigt. Er wollte ganz sichergehen, dass seine Erfindung perfekt funktionierte, bevor er sie der Öffentlichkeit vorstellte. Seine Angst, ausgelacht zu werden, war zu groß, und deshalb fanden seine Versuche stets im Geheimen statt. Aber eines Tages glaubte er, sein Experiment wäre ausgereift, und er überredete seine Frau, daran teilzunehmen. Er setzte sie vor seinen Transportations-Apparat und richtete den Elektronenstrom auf sie. Und tatsächlich verschwand sie vor seinen Augen. Löste sich einfach auf.“ Philemon unterstrich seine Erzählung, indem er wie ein Magier die Finger tanzen ließ. Dann wurde er wieder ernst. „Doch das, was wenig später an anderer Stelle in seinem Labor wieder zum Vorschein kam, hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit seiner geliebten Ehefrau. Es schien, als habe jemand ihren Körper auseinandergenommen und falsch wieder zusammengesetzt. Ein Haufen sterbenden Fleisches. Dr. Röhnfeldt verlor darüber den Verstand und man fand ihn mit zerzaustem Haar und leerem Blick kniend neben seiner toten Frau vor. Er wurde wegen Mordes angeklagt und verurteilt. Doch er wurde nicht gehängt, sondern als Anschauungsobjekt in eine Nervenheilanstalt gesperrt. Seine Laboreinrichtung wurde verkauft, seine Aufzeichnungen vernichtet und damit auch sämtliche Beweise für das, was er getan hat. Einige Jahre darauf verstarb er in seiner Zelle. Da war die Erinnerung an ihn schon längst ausgelöscht. Nur ein Gerücht hielt sich hartnäckig. Nämlich dass ein gewisser Dr. Felix Röhnfeldt bei einem Experiment seine Frau aufgelöst haben soll. Der Röhnfeldt-Effekt!“ Philemon lehnte sich weiter über den Tisch. „So nennt es auch Dr. Tesla in seinen Notizen. Und nun sagen Sie mir, dass es da keinen Zusammenhang gibt!“
„Nein, so ist das nicht!“, wehrte Löwenstein ab. „Es ist nicht das Röhnfeldt-Experiment, das wir hier durchführen. Gott bewahre! Dr. Röhnfeldt lag mit seiner Theorie vollkommen falsch. Dr. Tesla aber weiß, was er tut. Ihm geht es um etwas ganz anderes. Er hat diese Versuchsreihe bloß so genannt, weil ihn Röhnfeldt zu seinen Experimenten inspiriert hat. Er wird ihr später einen eigenen Namen geben, bevor er sie dem Publikum vorstellt. Jedoch erst, wenn er sich sicher sein kann, dass sie erfolgreich durchführbar ist.“
Philemon stieß ein bitteres Lachen aus. „Genau wie Röhnfeldt!“
„Nein, eben nicht. Dr. Röhnfeldt hat bei seinen Experimenten etwas Entscheidendes übersehen, eine Größe, die er nicht kontrollieren konnte. Sie wissen ja, dass der Äther angefüllt ist mit ungenutzter Energie. Dr. Tesla nennt sie ‚dunkle kosmische Strahlen‘. Er hat ihren Einfluss auf das Experiment erkannt und sie mit einberechnet.“
„Aber erst nachdem Myers etwas zugestoßen ist!“
Löwenstein warf einen hilfesuchenden Blick auf die geschlossene Tür zu Teslas Studierzimmer. Doch dahinter regte sich nichts.
„Was ist mit Frederick Myers passiert?“, bedrängte Philemon den Deutschen weiter. Jetzt war es sowieso egal, was dieser dachte. „Myers ist dem Röhnfeldt-Effekt zum Opfer gefallen, nicht wahr? Dunkle kosmische Strahlen hin oder her. Sie haben die Original-Versuchsanordnung dieses deutschen Arztes nachgebaut und das Experiment durchgeführt!“
Förmlich zu Stein erstarrt hockte Löwenstein da und sah ihn an. Seine Gesichtshaut war so bleich, als hätte er niemals Sonne abbekommen.
„Ich weiß, dass Sie nach Myers suchen“, flüsterte Philemon. „Er ist bei dem Experiment vor drei Monaten verschwunden und nicht wieder aufgetaucht. Ich frage mich jedoch: ist das nun Glück oder Pech? Denn es hätte ihm ja auch ergehen können wie Röhnfeldts Frau!“
Löwensteins Backenbart begann zu zittern.
„Sie …“ Philemon stieß einen Finger in Richtung des Deutschen. „… haben es zugelassen, dass der Versuch eines verrückt gewordenen Arztes wiederholt wurde und dabei ein Mensch zu Schaden kam! Sie sind schuld an Frederick Myers Tod!“
Plötzlich ertönte eine Stimme aus den Tiefen des Labors: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“
Erschrocken sprang Philemon auf und starrte mit aufgerissenen Augen zu der großen Spule hinüber, von wo die Stimme gekommen war. Dort stand eine hochgewachsene Gestalt im Dunkeln.
„Ist das nicht etwas selbstgerecht, so hart zu urteilen“, sagte sie, „wenn man von Ihnen durchaus dasselbe behaupten könnte, Mr. Ailey?“
Er sah, wie das blasse Gesicht des Doktors sich langsam aus den Schatten löste. Mit einem geisterhaften Glänzen in den Augen blickte er zu ihnen herüber.
„Doktor … warum sind Sie nicht in Ihrem Studierzimmer? Ich habe Sie doch vorhin reingehen sehen!“ Die Frage war reichlich dumm, aber Philemon fiel in diesem Moment nichts Besseres ein.
Auch Löwenstein hatte sich mittlerweile erhoben und sah ihn an.
„Ich …“ Philemons Stimme versagte und nun schoss die Röte der Scham in sein Gesicht. Sie brannte wie Feuer auf seiner Haut.
Dr. Tesla kam aus den Schatten der Spule hervor und trat neben seinen deutschen Assistenten. Beinahe feierlich faltete er seine behandschuhten Hände vor dem Körper. Philemon erzitterte am ganzen Leib und plötzlich war sie wieder da, die Angst! Die Angst, hier in etwas hineingeraten zu sein, aus dem er nicht wieder lebend hauskommen würde. Diese Männer hatten schon einmal einen Assistenten ins Unglück getrieben, und sie würden es wieder tun, wenn er sich ihnen in den Weg stellte!
Der Doktor runzelte leicht die Stirn und legte den Kopf schief. „Was ist mit Ihnen?“, fragte er, so als hätte er keine Ahnung, wie bedrohlich seine Erscheinung wirkte. „Geht es Ihnen nicht gut?“
Philemon hätte am liebsten über die Absurdität dieses Augenblicks gelacht, aber seine Furcht vor diesen beiden Männern war zu groß, als dass er auch nur einen Laut hätte von sich geben können. Er wich vor ihnen zurück und versuchte, mehr Abstand zwischen sich und dem Doktor zu bringen.
„Ihr Fehler war damals übrigens gewesen, zu wenig Abstand gelassen zu haben“, sagte Tesla plötzlich aus dem Zusammenhang gerissen. „Deshalb ist es missglückt, Ihr Experiment.“
Philemon blinzelte verwirrt.
„Na, das Experiment im Labor der Universität von Yale. Dem nicht genehmigten Experiment, wohlgemerkt. Wenn Sie berücksichtigt hätten, dass Luft ein Leiter ist, dann wäre es Ihnen gelungen und …“
„… und mein Kommilitone würde noch leben. Es ist ein unverzeihlicher Fehler gewesen“, fuhr Philemon niedergeschlagen fort. Jetzt wusste er, wovon der Doktor sprach. Betroffen senkte er den Kopf und im selben Moment überrollte ihn die Vergangenheit, die er so sorgsam versucht hatte zu verdrängen. Wie bei einer Laterna magica erschienen vor seinem inneren Auge die Bilder jener verhängnisvollen Nacht in New Haven. Zu dritt waren sie in das Labor der Universität eingedrungen. Elias, Robert und er; Studenten der Elektrotechnik, voller Flausen im Kopf und ausgestattet mit der Überheblichkeit der Jungend, obendrein noch stolze Mitglieder der Studentenvereinigung Chi Psi. Robert war es, der den Mut aufbrachte und sich auf die Metallplatte stellte, die Philemon konstruiert und mit der großen Spule verkabelt hatte. Und auf Roberts Signal hin legte er den Schalter um. Mehrere tausend Volt flossen über Roberts Körper und Funken schossen aus seinen Händen, genau wie in der legendären Vorführung des berühmten Nikola Tesla, dem sie damals alle hatten nacheifern wollen. Noch hatte Robert, umgeben von einer blauen Korona aus kleinen Blitzen, gelächelt, noch hatten sie alle gelächelt. Doch dann ertönte ein lauter Knall und mit ihm löste sich eine Funkenentladung aus der Spule. Warum sie die Spule direkt neben die Metallplatte gestellt hatten, wusste Philemon nicht mehr. Es war jedenfalls ein großer Fehler gewesen. Der Blitz, der so plötzlich entstanden war, traf Robert im Gesicht. Mit einem Schrei fiel er von der Platte und wälzte sich auf der Erde. Der Geruch von verbranntem Fleisch stieg ihnen in die Nase … und plötzlich fühlten sie sich nicht mehr wie Götter. Mit Schrecken schauten sie auf den schreienden Robert herab, auf dessen qualmende Haare und das Blut an seinen Händen, die er vor das Gesicht geschlagen hatte. Ihr Glück im Unglück war es, dass der Pedell der Fakultät die Schreie hörte und sofort Hilfe holte. Deshalb kam Robert mit dem Leben davon. Sein Gesicht hingegen war auf ewig eine grauenerregende Maske aus geronnenem Gewebe und erblindeten Augen. Ein Monster, bei dem alle unwillkürlich die Luft anhielten, wenn es den Raum betrat.
Aber der Vorfall hatte auch für sie harte Folgen. Von Seiten der Universität verlangte man eine Erklärung, die alle drei verweigerten, weil sie sich an den Kodex ihrer Studentenverbindung hielten. Der Kodex war der ganze Stolz von Chi Psi und schrieb vor, für immer zusammenzuhalten; wahre Gentlemen, die zu ihrem Wort standen, selbst wenn der Teufel persönlich sie in die Versuchung des süßen Verrats führen sollte. Doch Chi Psi sah das in diesem Falle anders und verstieß die drei Unruhestifter aus seinem schützenden Kreis. Auch die Universität zeigte sich unerbittlich. Sie suspendierte die jungen Männer von den Vorlesungen. Für Philemons Eltern war dieser Vorfall eine Schande, der sie vor allen anderen angesehenen Familien in ihrer Nachbarschaft bloßstellte, und sie schickten ihren missratenen Sprössling in die Schweiz mit der Ausrede, er laboriere an einem Lungenleiden. Nach einem Jahr Buße überzeugten seine Eltern den Dekan der Universität von Philemons Läuterung, und es wurde ihm gestattet, sein Studium fortzusetzen. Von den dreien, die an dem unglückseligen Experiment teilgenommen hatten, war er der Einzige, der einen Abschluss machte. Elias kehrte nie wieder an die Universität zurück. Stattdessen wurde er Angestellter bei der General Electric Company und heiratete ein hübsches Mädchen aus New York. Bis heute war er Philemons einziger echter Freund. Robert hingegen sah keinen Sinn mehr im Leben und erhängte sich ein Jahr später in seinem kleinen Appartement.
Betrübt schaute Philemon nun zu Dr. Tesla auf. Das war sie nun, seine ganze traurige Geschichte. Natürlich hatten der Doktor, Löwestein und Czito sie bereits gekannt, bevor er nach Colorado Springs gekommen war. Das war seine ‚spezifische Qualifikation‘ gewesen. Er seufzte und ließ den Kopf hängen. Schwere Schuldgefühle überkamen ihn und drückten ihn zu Boden. Nein, tiefer als das. Sie drückten ihn auf den Grund des Meeres hinab, gossen Blei über seine Füße und hielten ihn dort gefangen, wo der Druck am höchsten war. Er war tot. Lebendig begraben. Und er wünschte sich, er hätte einen Strick wie Robert.
„Aber was ist mit Ihnen?“, fragte der Doktor gutmütig. „Es gibt doch keinen Grund, zu verzweifeln, Mr. Ailey. Geben Sie sich nicht auf. Setzen Sie sich mit uns an diesen Tisch und hören Sie sich an, was ich zu sagen habe. Ich verspreche Ihnen, dass es nichts ist, womit Sie Ihr Gewissen noch weiter belasten.“ Tesla sah ihn auffordernd an und streckte langsam einen Arm in Richtung des Tisches aus.
Philemon zögerte. Er sah den schattenumwogten Blick des Doktors. Der Grat zwischen Genie und Wahnsinn war bekanntlich schmal. Auch Dr. Felix Röhnfeldt war auf ihm gestrauchelt und schließlich auf der falschen Seite ins Dunkel gefallen.
„Bitte, Mr. Ailey“, wiederholte Tesla. Sein Blick war mit einem Mal erfüllt von tiefer Traurigkeit, und Philemon spürte einen Stich unterhalb seines Herzens. Und schließlich war es jene Traurigkeit, die ihn dazu veranlasste, sich an den Tisch zu setzen.
Eine Weile sahen die drei Männer einander an, schweigend in Gedanken vertieft. Und als der Doktor schließlich mit leiser Stimme zu erzählen begann, schien es, als hielte die ganze Welt den Atem an, um den Worten dieses Mannes zu lauschen.