35. Kapitel
21. August 1899
Colorado Springs
morgens
Als Philemon aufwachte, war ihm schwindelig und er brauchte eine ganze Weile, bis er sich in der Lage fühlte aufzustehen. Siedend heiß fiel ihm ein, dass Czito heute mit ihm auf den Pikes Peak fahren wollte, um dort die Aufzeichnungen des gestrigen Experimentes sicherzustellen. Er sah auf die Taschenuhr und erschrak. Es war bereits nach neun! Verflixt, viel zu spät! Czito hatte acht Uhr gesagt. Hastig sammelte Philemon seine Kleidung zusammen und zog sich an.
Nach der Morgentoilette eilte er zu Czitos Zimmer und klopfte. Drinnen war es totenstill. War der Serbe etwa ohne ihn losgefahren? Aber warum hatte er ihn denn nicht geweckt? Philemon ärgerte sich. Zu gerne wäre er bei der Auswertung der Aufzeichnungen dabeigewesen. Er wandte sich von der Zimmertür ab und machte sich, ohne zu frühstücken, auf den Weg zum Labor.
Im morgendlichen Treiben auf der unvermeidlichen Pikes Peak Avenue begegnete er Joe Herkimer. Schnell sah Philemon zu Boden, doch der schwatzhafte Telegraphist bemerkte ihn und kam auf ihn zu.
„Guten Morgen, Mr. Ailey! Wie geht es Ihnen?“
Philemon murmelte eine Antwort und wollte weitergehen, doch Herkimer reihte sich neben ihm ein und bot ihm eine Zigarre an. Dankend lehnte Philemon ab, während sich Herkimer im Gehen eine anzündete. Er warf das Streichholz fort und sog ein paar Mal genüsslich an dem Glimmstängel, bis er richtig brannte. Süßlich herber Tabakqualm umwehte Philemon und er rückte eine halbe Armeslänge von dem aufdringlichen Telegraphisten ab.
„Ich habe Sie eine ganze Weile nicht gesehen, Phil. Sie sind ganz schön fleißig dort draußen.“ Herkimer grinste ihn an.
„Wir sind ja auch nicht zum Vergnügen hier!“, entgegnete Philemon. „Wissenschaftliche Experimente sind harte Arbeit.“
„Was genau sind das denn für Experimente? Das würde mich mal interessieren.“
„Darüber darf ich nicht sprechen.“
„Geheim?“
„Nicht direkt, der Doktor will nur nicht noch mehr Misstrauen sähen. Und selbst wenn ich es Ihnen erklären würde, so würden Sie es ja doch nicht verstehen. Das ist angewandte Physik.“ Philemon hoffte, Herkimer mit seinem abfälligen Ton zu vergraulen, doch der Blonde blieb hartnäckig an seiner Seite.
Schweigend überquerten sie die El Paso Street und näherten sich dem Stadtrand, wo der goldbraune Streifen der Prärie in der morgendlichen Sonne schimmerte.
„Ich habe Ihnen was mitzuteilen“, sagte Herkimer, als sie die letzten Häuser passiert hatten und die ausgedörrte Ebene erreichten. „Es betrifft eine gewisse Detektei.“
„Die Pinkertons?“, fragte Philemon verwundert und blieb stehen.
„Genau.“ Herkimer betrachtete versonnen die glimmende Spitze seiner arg geschrumpften Zigarre. Dann warf er den Stumpen auf den Boden und trat ihn aus. Staub legte sich auf seine Schuhspitze. „Falls Sie interessiert, was ich zu erzählen habe“, sagte er beinahe verschwörerisch, „dann kommen Sie heute Abend um neun zum Hintereingang von China Jims Laden in der East Pikes Peak Avenue. Sie gehen jeden Morgen daran vorbei.“
„Etwa der Laden mit dem chinesischen Tand, aus dem immer so ein parfümierter Duft weht?“
„Ganz genau der. Sagen Sie dem Mann am Eingang folgende Losung: ‚Der träumende Buddha schaut durch das Tor der Ewigkeit‘. Dann wird man Sie einlassen.“
„Was befindet sich dort?“
„Das werden Sie schon sehen. Also dann, auf bald“, Herkimer zwinkerte ihm zu und ging gemütlich in Richtung Stadt zurück. Ratlos sah Philemon ihm nach. Was für ein komischer Kauz.
Als er kurz darauf beim Labor ankam, herrschte dort rege Geschäftigkeit. Löwenstein und Tesla waren damit beschäftigt, die Kontakte an den Batterien zu erneuern und hatten die Hemdsärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt, wobei Tesla noch immer seine Handschuhe trug. Czito war nirgendwo zu sehen, und Philemon vermutete nicht ohne gewisse Enttäuschung, dass der Serbe in diesem Augenblick gerade auf dem Pikes Peak herumkletterte.
„Ah, da sind Sie ja, Mr. Ailey!“, rief Tesla, als er ihn bemerkte. „Ich hoffe, Sie haben wohl geruht.“
Philemon, der das für einen versteckten Tadel hielt, kratzte sich verlegen am Kopf und trat zu den beiden schwitzenden Männern. Dass er jetzt nicht bei Czito sein konnte, war schon Strafe genug, und er hoffte, Dr. Tesla würde nicht noch einen oben draufsetzen. „Entschuldigen Sie meine Verspätung, Doktor“, sagte er etwas kleinlaut. „Ich verspreche Ihnen, dass das nicht wieder vorkommen wird. Sagen Sie mir, wo ich Ihnen zur Hand gehen kann, und ich mache mich sogleich an die Arbeit!“
„Was soll nicht wieder vorkommen?“, fragte Tesla beiläufig, während er einen korrodierten Draht aus der Batterie zog und ihn begutachtete.
Irritiert blickte Philemon ihn an. „Na, dass ich zu spät komme.“
Tesla hob den Kopf und schaute ihn an. „Ach, das meinen Sie. Das ist schon in Ordnung. Sie hatten gestern schließlich einen anstrengenden Tag. Deshalb hatte ich Czito auch angewiesen, Sie schlafen zu lassen. Sie haben sich eine kleine Ruhepause verdient.“
„Aber ich wäre gerne mit auf den Pikes Peak gefahren.“
Tesla stieß ein belustigtes Lachen aus. „Dafür hätten Sie in der Tat früher aufstehen müssen.“
Philemon verstand noch immer nicht ganz. Er wollte etwas darauf erwidern, doch in diesem Augenblick kam Czito zur Tür hereinspaziert. Verblüfft sah Philemon den Serben an. Wie konnte er so schnell wieder zurück sein?
„Sind Sie zum Pikes Peak hinaufgeflogen?“, fragte er scherzhaft und eilte dem fröhlich pfeifenden Czito entgegen. „Was sagen die Aufzeichnungen? Darf ich sie sehen?“
Verwundert blickte Czito von ihm zu Tesla. „Die Aufzeichnungen haben wir doch schon gestern ausgewertet.“
Das erwartungsfrohe Lächeln fiel Philemon buchstäblich aus dem Gesicht. Fassungslos starrte er Czito an. „Gestern?“, hörte er sich sagen. „Aber wie kann das sein? Gestern haben wir doch das Experiment durchgeführt.“
Die Miene des Serben blieb reglos. An seiner Stelle antwortete Löwenstein: „Gestern haben Sie den ganzen Tag geschlafen, Mr. Ailey!“ Der deutsche Ingenieur trat neben ihn und wischte sich seine ölverschmierten Hände an einem Lappen ab. Auch Dr. Tesla hatte aufgehört, sich mit der Batterie zu beschäftigen, und blickte zu ihnen herüber.
„Den ganzen Tag geschlafen?“, wiederholte Philemon.
„Ja doch“, bestätigte Löwenstein. „Mr. Czito hat versucht, Sie zu wecken, aber es war vergebens. Sie müssen von dem Experiment so erschöpft gewesen sein, dass Ihr Körper sich einen ganzen Tag lang freigenommen hat.“ Er verzog den Mund zu einem aufmunternden Lächeln. „Keine Sorge, das ist mir auch schon passiert. Das sind die Folgen von zu hohen Stromfrequenzen auf den menschlichen Organismus.“
Philemon starrte noch immer begriffsstutzig in die Runde. „Und welchen Tag haben wir dann heute, wenn ich fragen darf?“
„Den einundzwanzigsten August“, sagte Löwenstein.
„Ah, so.“ Philemon fragte sich, was seine Taschenuhr wohl gerade anzeigen mochte. Leider lag sie wie vorgeschrieben im Hotelzimmer. „Einen ganzen Tag verschlafen“, murmelte er gedankenvoll, „unglaublich.“
„Ich denke, dieses Phänomen ist leicht zu erklären“, entgegnete Tesla und gesellte sich zu ihnen. „Meine Herren, erinnern Sie sich noch an meinen Schlafapparat?“
„Oh, ja“, brummte Czito leidvoll.
„Und ob!“, sagte Löwenstein. „Gehen Sie mir bloß weg mit diesem Teufelsgerät, Doktor!“
„Aber, aber, das ist eine wahrhaft nützliche Erfindung von mir“, erklärte Tesla an Philemon gewandt. „Es ist ein kleines, sehr funktionales Gerät, das man sich für nur eine Minute an den Kopf hält. Danach fällt man in einen tiefen Schlaf, aus dem man ungefähr eine halbe Stunde später wieder erwacht und springlebendig und erfrischt zurück an die Arbeit gehen kann. Ich benutze es vorzugsweise in meinem Labor in New York, immer wenn meine Konzentration nachlässt. Meine beiden Probanden hier haben die Apparatur auch getestet, ihre Wirksamkeit aber augenscheinlich nicht für besonders erquicklich befunden.“
Czito und Löwenstein äugten mit finsteren Mienen zu Tesla, der mit auf dem Rücken verschränkten Armen dastand und unbekümmert lächelte.
„Und was ist jetzt mit den Aufzeichnungen vom Pikes Peak?“, wollte Philemon wissen.
„Oh, das!“, sagte Tesla. „Nun ja, leider hat das Messgerät nichts aufgezeichnet.“
„Nichts?“
„Ich befürchte, so ist es.“
Philemon biss sich auf die Lippen. Was hatte er erwartet? Einen fulminanten Durchbruch, mit dem sie die Leute in Colorado Springs hätten beeindrucken können? Ja, so was in der Art, dachte er enttäuscht. Er sah die anderen an. Es schien sie nicht sonderlich zu stören, dass das Experiment erfolglos verlaufen war. Dabei waren sie doch sonst immer so enthusiastisch bei der Arbeit und demensprechend niedergeschlagen, wenn ein Versuch nicht funktioniert hatte. Hatte das Experiment vielleicht doch etwas ergeben? Etwas, das er nicht wissen durfte?
„Ich glaube, wir machen uns jetzt besser wieder an die Arbeit“, sagte Löwenstein in die unangenehme Stille hinein und die anderen beiden nickten. Schweigend begaben sie sich zurück an die Wartungsarbeit.
Voller Argwohn sah Philemon ihnen nach. Was verschwiegen die drei Männer ihm? Welches Geheimnis teilten sie?
„Kommen Sie, Mr. Ailey?“ rief Löwenstein und winkte ihn zu sich herüber. „Wir brauchen ihre Hilfe!“
Am späten Nachmittag schickte Dr. Tesla alle drei Assistenten fort. Er wolle bis zum Morgen nicht gestört werden, verkündete er und verschloss die Tür des Laborgebäudes von innen.
Gemeinsam mit Löwenstein und Czito machte sich Philemon auf den Weg in die Stadt. Die beiden Älteren schienen wegen des unverhofft frühen Feierabends guter Dinge zu sein und beratschlagten, wo sie ihn am besten verbringen könnten. Die Wahl fiel auf das Kensington Gardens. Ein großes Kurhotel, in dem viele Gäste logierten und wo sich die Tesla-Assistenten unbemerkt unter die Leute mischen konnten, ohne von den Bewohnern der Stadt angefeindet zu werden.
„Was freu ich mich auf ein schönes Stück Apfelkuchen mit Schlagsahne und dazu eine heiße Schokolade! Herrlich! Andere Genussmittel bekommt man in diesem Kaff ja auch nicht, um sich in den siebten Himmel zu befördern. Was ist mit Ihnen, Phil? Begleiten Sie uns?“, fragte Löwenstein.
„Nichts für ungut“, entschuldigte Philemon sich, „aber ich gehe lieber gleich zurück ins Hotel. Ich fühle mich noch etwas schlapp“ In der Tat hatte er seinen komaartigen Vierundzwanzig-Stunden-Schlaf noch immer nicht ganz verarbeitet und wollte jetzt lieber eine Weile für sich sein.
Löwenstein nickte verständnisvoll. Auf der Pikes Peak Avenue trennten sie sich und Philemon eilte schnurstracks zum Alta Vista. Auf seinem Zimmer legte er Hut und Jackett ab und ging zum Nachttisch, wo seine Taschenuhr lag. Sie zeigte den zwanzigsten August an. Stirnrunzelnd nahm Philemon sie zur Hand. Wenn er sie vorletzten Abend auf den Neuzehnten zurückgestellt und einen ganzen Tag schlafend übersprungen hatte, dann müsste sie doch jetzt den Einundzwanzigsten anzeigen. Seltsam.
Er zog die Krone raus und drehte die Datumsanzeige so weit vor, bis sie stimmte. Danach legte er die Uhr zurück, ging zum Kleiderschrak und öffnete beide Türen. Mit geübten Handgriffen hängte er die wenigen Bügel mit seiner Kleidung ab und stemmte die Stange heraus. Sie war hohl und in ihr steckten einige eingerollte Notizblätter. Seit Philemon von den Pinkertons gehört hatte, wollte er Vorsorge treffen, dass niemand seine privaten Aufzeichnungen las. Er zog die Papiere aus der Stange, setzte sich aufs Bett und entrollte sie. Nach dem Fund von Myers’ Koffer in der Abstellkammer hatte er begonnen, seine Gedanken dazu aufzuschreiben. Es waren drei Seiten, auf denen er in enger Handschrift festgehalten hatte, was er bisher über Myers herausfinden konnte, samt Benjamin Foleys Bericht über dessen Verschwinden. Ganz im Inneren der Rolle befand sich aber auch jenes Stück Papier, das er in Myers Koffer entdeckt hatte. Er zog es zwischen den anderen hervor und sah sich zum wiederholten Male den rätselhaften Rechenweg und die Skizze daneben an. Sie zeigte zwei Kästen, einen quadratischen und einen länglichen. Beide waren über ein Kabel, oder was auch immer der Strich bedeuten mochte, miteinander verbunden. In dem quadratischen Kasten befand sich ein spulenförmiges Gebilde, vielleicht ein Transformator, und in dem länglichen eine Reihe nummerierter Kreise. Beide Kästen waren noch mit unzähligen kleinen Punkten gefüllt. Was sollten die darstellen? Sand? Luft? Das Kabel zwischen den Kästen war in der Mitte mit einem Kreis versehen worden. Ihn zierten Striche wie auf einem Ziffernblatt. War das eine Uhr? Oder ein Messgerät? Philemon sah genauer hin, hatte aber immer noch keinen Schimmer, was das für ein Gerät sein sollte. Auch wusste er nicht, wie groß die Kästen waren, denn es gab keine Größenangabe. Vielleicht war es der Entwurf von einem dieser tragbaren Empfangsgeräte, von denen Dr. Tesla die ganze Zeit im Zusammenhang mit seinem Weltensystem sprach.
Mit geschürzten Lippen lenkte Philemon seinen Blick auf den daneben aufgezeichneten Schaltkreis. Es waren mehrere parallel geschaltete Spulen in etwas, das wie abgeschlossene Röhren aussah, und ein Viereck mit einem diagonalen Kreuz darin. Seltsamerweise fehlte in diesem Schaltkreis komplett die Stromquelle. Die Rechnung brauchte er sich gar nicht erst vorzunehmen, ohne Größenzuordnung oder Einheiten konnte er mit den Zahlen nicht das Geringste anfangen. Das Einzige, das er aus ihnen herauslesen konnte, war, dass Myers versucht hatte, weitere Parameter in eine thermodynamische Gleichung einzubringen. Aber legten die vielen Ausrufezeichen hinter dem Ergebnis tatsächlich nahe, dass Myers davon ausging, damit Erfolg gehabt zu haben? Und könnte das dicke Pluszeichen davor einen vermeintlichen Überschuss an Energie darstellen? Philemon schüttelte den Kopf. Das wäre reichlich töricht, denn der erste Leitsatz der Thermodynamik beruhte auf dem Energieerhaltungssatz von Helmholtz, und den kannte bereits jeder Physikstudent im ersten Studienjahr. Er besagte, dass in einem geschlossenen System weder Energie vernichtet noch erzeugt werden konnte. Allenfalls konnte sie von einer Form in eine andere umgewandelt werden, zum Beispiel von flüssig zu gasförmig. Die Gesamtenergie im System jedoch blieb zu jeder Zeit konstant. Was immer Myers da auch berechnet hatte, er war auf einem gewaltigen Holzweg gewesen. Zu denken, man könne Energie aus dem Nichts erschaffen, war ebenso dumm, wie an die Existenz eines Perpetuum mobiles zu glauben!
Verächtlich stieß Philemon Luft aus, legte das Blatt zur Seite und kramte einen Bleistift aus der Schublade seines Nachttisches. Mit knappen Worten notierte er, was er vor zwei Tagen bei dem Experiment in der Kupferröhre erlebt hatte und dass er den Angaben Teslas, bei dem Versuch sei nichts herausgekommen, misstraute. Dann rollte er die Papiere wieder zusammen und versteckte sie in der Stange, die er zurück in den Kleiderschrank hängte. Anschließend machte er sich frisch und ging hinunter in den Speisesalon, wo er, tief in seine Gedanken gehüllt, zu Abend aß.