60. Kapitel
03. Juni 2011
im Turm
nachts
„Salut, ça va? Mr. Ondragon“, sagte die säuselnde Stimme hinter ihm auf Französisch. „Wie sagt man doch so schön? Man begegnet sich immer zweimal im Leben.“
Am liebsten hätte Ondragon sich umgedreht und dem Mistkerl seine Faust ins Gesicht gerammt. Doch er wagte es nicht, sich zu rühren, und mahlte stattdessen vor Wut mit den Kiefern.
„Sie sind wirklich hartnäckig, das muss man Ihnen lassen, Mr. O. Aber damit ist jetzt Schluss. Sie haben mich wirklich in Schwierigkeiten gebracht und ich kann nicht zulassen, dass Sie unser Geheimnis in Gefahr bringen.“
Ondragon stieß ein abfälliges Lachen aus. „Ich bringe das Geheimnis in Gefahr? Und was machen Sie? Sie verschachern es meistbietend an den nächsten Energiekonzern! Monsieur Noire – ich darf Sie doch so nennen, oder?“
Der Unbekannte räusperte sich leise, während Ondragon überlegte, wie er sich aus der misslichen Lage befreien konnte. Wie war der Kerl bloß hier in den Turm gekommen? Durch die Tür? War das ein Ausweg?
„Sie sind ein helles Köpfchen. Mein Name lautet tatsächlich Noire, Clandestin LeNoire, um genau zu sein.“
„Clandestin? Sie heißen wirklich Schwarzarbeiter? Schwarzarbeiter Schwarz? Nicht im Ernst?“
„Meine Eltern hatten eben einen gewissen schwarzen Humor.“ Der Unbekannte, der jetzt nicht mehr unbekannt war, lachte auf.
„Sehr lustig!“, blaffte Ondragon zurück und spähte auf die Tür. Was war dahinter? Und könnte er durch sie womöglich entkommen?
„Ich weiß, was Sie vorhaben, Mr. O. Aber es ist zwecklos. Es gibt nicht die geringste Chance für Sie, zu entkommen, also versuchen Sie es gar nicht erst. Die Tür führt nicht in die Freiheit. Seien Sie also bitte vernünftig und verschränken Sie die Arme hinter dem Kopf. Und die hier … brauchen Sie sicher auch nicht mehr.“
Ondragon merkte, wie LeNoire ihm seine Waffe aus dem Gürtel zog.
„Bestens, und jetzt bringe ich Sie zu meinem Anführer. Er wird entscheiden, was mit Ihnen geschehen wird.“
Anführer? Hatte Ondragon das richtig verstanden, oder hatte LeNoire Auftraggeber gesagt? Auf Französisch hörte sich beides fast gleich an. Nachdenklich hob er die Arme und legte die Hände auf den Kopf. War jemand etwa von der Groupe Hexagone hier und wollte ihm persönlich den Garaus machen? Nun, das würde er zwangsläufig herausfinden, wenn er tat, was LeNoire von ihm verlangte.
„Ich nehme jetzt meine Waffe von Ihrem Hals“, sagte dieser. „Und Sie gehen hübsch durch die Tür. Aber keine falschen Bewegungen, ich folge dicht hinter Ihnen. Sie werden sehen, es gibt nur diese eine Möglichkeit.“
Ondragon fühlte, wie der Druck auf seinen Nacken nachließ, und machte einen ersten Schritt auf die Tür zu. Wenn er schnell genug wäre, könnte er sich umdrehen und LeNoire den Kopf in den Bauch rammen. Oder er könnte sich einfach nach hinten fallen lassen und ihm die Füße unters Kinn schmettern. Der Kerl war jedoch kein Anfänger, das wusste Ondragon, bestimmt würde er es vorausahnen und ihn schlicht abknallen.
Er streckte langsam die Hand aus und zog die Tür auf. Dahinter kam ein dunkler Gang zum Vorschein. Er schien endlos lang zu sein. Lang und eng. So eng, dass keine zwei Leute nebeneinander hergehen konnten. LeNoire würde ihn wohl kaum verfehlen, wenn er hinter ihm eine Kugel abgefeuerte, dachte Ondragon zähneknirschend. Der elende Mistkerl hatte recht, es gab nur diesen einen Weg. Er hörte, wie das Funkgerät in seiner Brusttasche knackte, aber keine Durchsage kam. War Achille noch dort oben auf der Düne? Würde er ihm folgen? Hoffentlich! Denn der Franzose war seine einzige Möglichkeit, hier lebend herauszukommen.
„Was ist? Gehen Sie!“, drängte LeNoire. „Wir haben nicht ewig Zeit.“
Ondragon zögerte, sah dann aber ein, dass es keinen Sinn hatte, sich gegen das Unvermeidliche aufzulehnen, und trat in den Gang. Er hörte, wie LeNoire ihm folgte, obwohl der Boden des Ganges mit Sand bedeckt war und ihre Schritte dämpfte. Aber die Präsenz des Mannes war ein unverkennbar heißes Pulsieren, das ihn immer weiter in den Gang drängte. Im Licht seiner Stirnlampe erkannte Ondragon, dass die Wände mit groben Planken verschalt waren und alle zwanzig Schritte dicke Holzbalken die Decke abstützten. Mit Sicherheit war es nicht leicht gewesen, einen solchen Tunnel unter dem Sand zu graben und über so lange Zeit aufrecht zu erhalten. Eine weitere Meisterleistung der damaligen Erbauer dieser Anlage! Wo er wohl endete? Befand sich dort womöglich die Ladung der Junkers? Oder die Männer von der Groupe Hexagone?
Eine schiere Ewigkeit stapften sie durch den Tunnel und weil Ondragon das nervtötende Schweigen bald satt hatte, begann er einfach, LeNoire Fragen zu stellen. Vielleicht bekam er ja eine Antwort.
„Was zahlt Hexagone Ihnen eigentlich für Ihre Dienste? Können Sie sich damit anschließend zur Ruhe setzen, oder werden Sie weitere Aufträge annehmen?“
Ondragon konnte hinter sich den Atem seines Widersachers hören. Er ging schnell und regelmäßig. Eine Antwort blieb jedoch aus. Aber Ondragon ließ nicht locker.
„Wie ist es Ihnen gelungen, uns in Dakhla zu entkommen? Waren Sie überhaupt in dem Gebäude? Ich denke, eher nein. Sie haben die Rollen schon vorher in der Halle am Hafen getauscht. Nicht wahr? Schlau eingefädelt. Wirklich. Bin glatt darauf reingefallen.“
LeNoire entgegnete noch immer nichts.
„Und dann dieser Achmed. Hat geplappert wie ein Papagei: Mein Name ist Achmed und ich diene allein dem Schöpfer. Was für ein Blödsinn. So was –“
„Halten Sie Ihr gottverdammtes Maul!“, platzte es unvermittelt aus LeNoire heraus.
Aha, konnte man den Kerl also doch provozieren. Ondragon setzte gleich noch einen drauf. „Dieser Achmed, war das Ihr Freund? Falls ja, dann tut es mir aufrichtig leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass er jetzt nicht mehr unter uns weilt. Je suis très désolé!“
Ondragon erhielt einen Tritt in den Rücken und geriet ins Straucheln. Er musste sich Mühe geben, keinen Laut des Erstaunens von sich zu geben. „Nanu, warum sind wir denn auf einmal so grob?“, sagte er und lachte gespielt fröhlich. Doch LeNoire schien seine Ironie nicht zu mögen, denn er verpasste ihm einen zweiten Tritt und zischte: „Wenn Sie nicht endlich still sind, dann tue ich Ihnen das an, was Sie mit Achmed gemacht haben!“
„Oh, da krieg ich aber Angst …“ Bevor Ondragon den Kerl noch weiter aus der Reserve locken konnte, gelangten sie unversehens an eine Tür.
„Ups, na sieh mal einer an. Schon da. Soll ich sie öffnen?“, fragte er und deutete mit einem erhobenen Ellenbogen auf den verschlossenen Durchgang. Sie hatten im Tunnel an die 600 Meter zurückgelegt. Ondragon hatte heimlich seine Schritte gezählt.
„Machen Sie die Tür schon auf!“, befahl ihm LeNoire und die Energie seines Hasses brandete heiß gegen Ondragons Rücken. Mit beiden Händen stemmte er die Tür auf, ging hindurch und blieb auf der anderen Seite vor Überraschung stehen. Vor ihm öffnete sich eine große Halle. Eine Höhle an deren hoher Decke etliche Reihen von Glühbirnen hingen und sie in grelles Licht tauchten. Die Höhle war leer bis auf ein Gewirr aus Kabeln, mannshohen Metallkästen … und einem Dutzend Männer, die ihn mit verschränkten Armen feindselig anstarrten.
„Donnerwetter! Das nenn ich mal einen Empfang!“, sagte Ondragon und blickte angriffslustig zurück. Welcher von denen war wohl der Mann von Hexagone? Ein wenig merkwürdig erschien es ihm schon, dass die Kerle allesamt in traditionelle Derra’as gekleidet waren und Turbane trugen. Sie sahen aus wie die Bewohner der Oase. Langsam drehte Ondragon sich im Kreis und sah jedem der dunkelhäutigen Männer ins Gesicht, aber keiner erweckte den Eindruck, als käme er aus dem Büro eines Energiekonzerns in Paris. Dennoch spürte er, dass etwas Besonderes an den Herren war. Er vollendete seine Drehung und wagte es schließlich, seinem Widersacher ins Auge zu blicken.
Clandestin LeNoire wirkte ganz anders als bei ihrer ersten Begegnung. Nicht ganz so bedrohlich und viel kleiner. Wie die anderen trug er ein hellblaues Gewand mit weißem Turban, der sein schmales Gesicht noch dunkler erscheinen ließ. An seinem linken Handgelenk prangte der Armreif, den Ondragon damals schon seltsam gefunden hatte, und in seinen kohlschwarzen Augen glitzerte unverhohlen der Abscheu.
„Machen Sie sich bereit, vor den Schöpfer zu treten!“, sagte Clandestin und zeigte seine strahlend weißen Zähne. Doch es war kein Lächeln. Ondragon bemerkte, dass Clandestins Blick auf etwas in seinem Rücken gerichtet war. Rasch drehte er sich um und sah hinter sich einen der Kerle stehen. Er hielt ein pistolenartiges Gerät in der Hand. Doch bevor Ondragon zurückweichen konnte, setzte der Mann ihm das Gerät wortlos auf die Brust und drückte ab. Ein kurzer Schmerz durchzuckte Ondragon und danach umfing ihn Schwärze.