27. Kapitel

19. August 1899
Colorado Springs
früh morgens

Über zwei Wochen waren vergangen, seitdem Philemon mit dem verrückten Foley gesprochen hatte. Zwei Wochen, in denen er nicht eine Minute Zeit gefunden hatte, den Hinweisen des alten Spinners nachzugehen, so sehr nahm ihn die Arbeit im Labor in Beschlag. Er hatte weder die Sache mit dem Koffer noch die seltsame Berechnung auf dem Zettel enträtseln können und erst recht nicht, was es mit diesen angeblichen Pinkerton-Detektiven auf sich hatte. Gemeinsam mit Löwenstein und Czito schuftete er von früh bis spät und fiel jede Nacht todmüde in sein Bett, nicht fähig, auch nur einen Wimperschlag zu tun. Stets war er froh, den Heimweg noch mit offenen Augen zu schaffen und sich kurz vorm Zubettgehen ein kleines Abendessen zu genehmigen, ohne dabei zur Empörung der anderen Gäste auf dem Tisch im Speisesalon einzunicken – falls zu dieser späten Zeit überhaupt noch jemand anwesend war, denn meistens kehrte Philemon erst weit nach Sonnenuntergang zum Hotel zurück.

Dr. Tesla schien gar nicht mehr ins Alta Vista kommen. Er verbrachte jetzt beinahe jede Nacht in seiner kleinen Kammer im Labor. Ob er jemals schlief?

Je länger Philemon mit dem exzentrischen Erfinder zusammenarbeitete, desto übernatürlicher erschien er ihm. Tesla vollbrachte gigantische Anstrengungen und erzielte unvorstellbare Leistungen mit seinem Gehirn, das von beispielloser Einzigartigkeit war. Das Unheimliche daran war, dass man ihm die Entbehrungen in keinster Weise ansehen konnte. Zu jeder Tageszeit brütete Dr. Tesla entweder mit dem Federhalter in der Hand über seinen Notizbüchern oder mit dem Schraubenschlüssel über der komplizierten Konstruktion einer Apparatur. Und wenn er nicht still in sich ruhte, in seinem Ozean aus Gedanken, so wirbelte er in ekstatischer Eleganz durch das Laboratorium und versprühte einen Tatendrang, der schlichtweg ansteckend war. Aber nur Dr. Tesla allein vermochte seinem eigenen Takt zu folgen, der so rasend schnell schlug wie das Herzpochen eines kleinen Vogels, den man in den Händen hielt. Es war, als speise er seinen Geist mit den Millionen von Volt, die er tagtäglich durch die Spulen jagte und die sich in knallenden Blitzen entluden, während sein unvergleichlich zäher Körper im bläuchlichen Flackern des Lichtes zuckende Schatten an die Wände warf.

Philemon gähnte hinter vorgehaltener Hand, während er im Morgengrauen zum Labor stapfte. Es war herrlich still in den Straßen, und auch draußen in der Prärie herrschte ein wundervoller Frieden. Noch. Denn bald würde das nächste Experiment beginnen und sämtliche Geschöpfe in unmittelbarer Umgebung des Gebäudes aufschrecken und vertreiben.

Philemon wandte im Gehen seinen Kopf und blickte in die Ferne zum Pikes Peak, dessen graue Masse ebenso still und reglos dalag wie die vertrocknete Grasfläche der Prärie. In den letzten Tagen hatten sie dort oben eine Antenne mit einem Terminal errichtet. Eine höllische Plackerei! Trotz des glücklichen Umstands, dass sie das Material bis zum Gipfel bequem mit der Manitou-und-Pikes-Peak-Zahnradbahn hatten transportieren können. Eine wunderbare Errungenschaft des technischen Fortschrittes, die ihnen einen qualvollen Ritt auf einem Muli erspart hatte, die aber zu Teslas Leidwesen noch immer rückständig mit Dampflokomotiven betrieben wurde. Der Doktor hasste den Qualm, der einem bei der Fahrt ständig um die Nase wehte und obendrein noch die Aussicht trübte. Seiner Ansicht nach wäre es ein Leichtes, auf der Strecke eine elektrische Bergbahn einzurichten. Er sei sogar geneigt, dem Stadtvater William J. Palmer einen Vorschlag zu unterbreiten, sozusagen als Gegenleistung für dessen wohlwollende Gastfreundschaft. Ob das von Seiten des Doktors allerdings ironisch gemeint gewesen war, hatte Philemon nicht feststellen können. Nichtsdestotrotz waren die Kletterei auf den brüchigen Kalksteinfelsen und der Aufbau der Antenne mitsamt dem turmartigen Terminal gefährlich gewesen. Aber die Mühen hatten sich gelohnt und als sie nach drei Tagen Arbeit in sauerstoffarmer Höhe wieder unten in Manitou Springs eingetroffen waren, hatten sie die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und auf das Gelingen ihres Experimentes angestoßen, selbstverständlich in einem Saloon, der eine Lizenz zum Alkoholausschank besaß. Sie hatten kräftig zugelangt und auf die trockenen Zapfhähne in Colorado Springs geschimpft. Sogar Dr. Tesla hatte mehrere Gläser Whiskey geleert und dazu in beschwingter Laune bekannt, dass Alkohol ein unverzichtbares Anregungsmittel für Körper, Geist und Seele sei. Kaugummikauen oder Teetrinken sei weitaus gefährlicher, als ab und an einen guten Whiskey zu konsumieren!

Philemon richtete seinen Blick wieder nach vorn auf den staubigen Weg. Es war sinnlos, die Antenne oder das Terminal in einer Höhe von 4300 Metern und auf eine Entfernung von 16 Kilometern sehen zu wollen. Dennoch stand sie nun dort oben: eine der ersten Empfangsstationen für drahtlose Übertragung von Energie, konstruiert nach den Plänen von Nikola Tesla.

Er erreichte das verschlossene Laborgebäude. Niemand schien da zu sein. Merkwürdig war nur, dass das Vorhängeschloss offen im Riegel der Tür hing. Also war doch schon jemand hier. Philemon öffnete die Tür und rief ein fröhliches „Guten Morgen“ in das stille Gebäude.

Als niemand antwortete, trat er mit gerunzelter Stirn ein. Er schloss die Tür hinter sich und tappte im Dunkeln durch das Labor, bis er die Tür zu Tesla kleinem Studierzimmer erreichte. Er klopfte an, aber nichts rührte sich.

„Hallo, Dr. Tesla? Sind Sie da?“

Immer noch keine Antwort. Seltsam, warum war das Schloss offen und niemand im Gebäude? Ein plötzlicher Gedanke durchzuckte ihn. Was, wenn jemand ins Labor eingebrochen war? Waren diese Pinkertons hier gewesen? Waren die berühmt-berüchtigten Detektive etwa deswegen nach Colorado Springs gekommen, um die Ideen des Doktors zu stehlen? Schnell legte er den Lichtschalter um, und der Raum wurde in gelbliches Licht getaucht. Nacheinander ging er die Apparaturen ab und begutachtete sie. Keine fehlte oder war zerstört. Es schien alles in Ordnung zu sein. Philemon eilte in Dr. Teslas Kammer und schaute sich um. Der kleine Raum sah aus wie immer. Auf dem Wandregal stand unverändert die Reihe von Notizbüchern und auf dem Tisch lagen in sorgsamer Ordnung Papiere und Zeichenutensilien. Auch das Notizbuch mit dem goldenen Ring auf dem Einband war noch dort. Philemon nahm es ehrfürchtig zur Hand und befühlte das glatte Leder. Schließlich öffnete er es und las einige der Zeilen, die in gestochen scharfer Handschrift verfasst waren.

„All meine Studien zur drahtlosen Übertagung von Energie haben ergeben, dass es sehr wohl machbar ist. Und noch mehr als das! Unmögliche Dinge werden möglich werden, wenn es mir gelingt, mein Weltensystem zu etablieren. Ich werde der Wegbereiter für ein neues Zeitalter sein. Ein Zeitalter ohne Grenzen. Das Geheimnis liegt allein in der Beschaffenheit des Äthers. Mit diesem Wissen wird es mir gelingen, Signale rund um den Globus zu senden und Zeit und Raum zu überwinden.“

Er blätterte weiter. Das Buch schien mehr ein persönliches Tagebuch zu sein als Aufzeichnungen über Versuche. Philemon stieß auf eine schön ausgearbeitete Zeichnung eines Bauwerks. Es war ein Turm und offensichtlich eine Weiterentwicklung der beiden Terminals, von denen sie eines auf dem Pikes Peak errichtet hatten. Doch anders als die Terminalröhren, war der Turm achteckig im Grundriss und verjüngte sich nach oben hin. Auf der Spitze saß eine mächtige, pilzförmige Kuppel, die eine Korona aus Strahlen umgab. Zwischen den Strahlen und der Kuppel schmiegte sich ein merkwürdiges Wort in die Rundung. WORLDWIRELESS.

Das war Teslas Weltensystem, dachte Philemon und las den Namen, der unter der Zeichnung stand. Stanford White, NY – Architekt. Und er kam nicht umhin, den Maßstab des Bauwerks zu bestaunen.

56 Meter Höhe und 20 Meter Breite für den Kupfertorus! Beim Heiligen Joseph, das war gewaltig! Neugierig blätterte er weiter und fand eine Stelle, an welcher der verschollene Assistent Erwähnung fand.

„25. Juni 1899 – Röhnfeldt-Experiment, Versuchsphase I. Frederick Myers ist ein wagemutiger Mann. Er hatte nicht nur eine brillante Idee, sondern stellte sich auch für das Experiment mit dem von mir erwarteten Enthusiasmus zur Verfügung. Und mit großem Stolz kann ich berichten, dass er als erster Mensch an einer Transmission von äthergelöster Materie in Form von elektrischer Energie partizipierte.“

Philemon runzelte die Stirn. Äthergelöste Materie? Röhnfeldt-Experiment? Davon hatte er Tesla und die anderen noch nie reden hören. Was war das? Er las weiter.

„Ich war außer mir vor Freude, und meine Assistenten teilten diese Euphorie. Das Experiment war gelungen und ich war mir sicher, dass wir jetzt nur noch einen winzigen Schritt von unserem großen Ziel entfernt seien. Doch dann warf uns ein unvorhergesehener Zwischenfall zurück und bereitete unserer Hoffnung ein jähes Ende. Obwohl ich persönlich sämtliche Apparate für die Versuchsphase II kalibriert und die Frequenzen für die Transmission optimiert hatte, ging zu meinem Leidwesen etwas schief. Frederick Myers war im Terminal, als wir die Spannung auf dreißig Millionen Volt erhöhten, doch dann gab es einen Kurzschluss und die Stromversorgung brach zusammen. Wir eilten zum Terminal und sahen nach, aber Myers war …“

„Eindrucksvolle Lektüre, nicht wahr?“

Vor Schreck klappte Philemon das Buch zu. Er fuhr herum. Hinter ihm stand eine aufrechte, hagere Gestalt mit den glimmenden Augen eines Mephistos.

„Doktor Tesla! Ich … äh, bitte vielmals um Verzeihung. Das Sch-schloss am Eingang zum Labor war offen, aber niemand war da. Ich … dachte, hier wäre jemand eingedrungen und hätte etwas gestohlen.“ Philemon spürte, wie er bei dieser fadenscheinigen Erklärung hochrot anlief. Angstvoll schnappte er nach Luft, bekam aber kaum etwas durch seine Kehle, so sehr hielt ihn der hermetische Blick des Doktors gefangen. Teslas Gesicht wirkte so abweisend und reglos wie das eines Mannes, der schwer enttäuscht worden war. Noch nie hatte Philemon sich so klein und schäbig gefühlt und er duckte sich unwillkürlich. Aber der erwartete tödliche Blitzschlag aus den Augen Teslas blieb aus, stattdessen trat unvermittelt Milde auf seine blassen Züge. Mit erhobener Hand kam er auf ihn zu.

„Dies“, sagte er und wies auf das Notizbuch, das Philemon noch immer in seinen bebenden Händen hielt, „ist mein Vermächtnis! In diesem Buch habe ich all meine Gedanken zu meiner größten Erfindung verewigt. Es ist wertvoller als alle anderen Aufzeichnungen zusammen und ich trage es immer bei mir.“

Philemon wollte etwas darauf erwidern, doch der Doktor ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Ich war bereits hier, als Sie kamen, mein Freund, und ich habe Sie beobachtet.“

Philemon schluckte, seine Kehle hatte sich in den dünnen Hals einer Sanduhr verwandelt, durch den jeweils immer nur ein Körnchen rieselte. Körnchen um Körnchen – zu wenig Luft für einen erwachsenen Mann. Panisch kämpfte er um Haltung, doch insgeheim wusste er, dass es vorbei war. Der Doktor würde ihn feuern und nach Hause schicken. Er hatte seine Chance vertan. Tränen der Scham stiegen in seine Augen.

„Es tut mir aufrichtig leid!“, sagte er erstickt. „Selbstverständlich werde ich sofort meine Sachen packen und gehen.“

Tesla richtete seinen Blick auf das Notizbuch und dann wieder auf Philemon. „Das werden Sie nicht! Schließlich brauche ich Sie hier!“

Verwundert sah Philemon auf. „Aber ich bin in Ihr Studienzimmer eingedrungen und habe ohne Erlaubnis Ihre Notizen gelesen. Das war …“

„…sehr ungehörig, in der Tat! Aber es zeigt auch Ihr außerordentliches Interesse für meine Arbeit. Im Übrigen ist mir Ihr selbstloser Einsatzwillen durchaus aufgefallen, mit dem Sie in den letzten Wochen ohne zu klagen Ihren Pflichten nachgegangen sind. Ich weiß, dass Sie ein wissbegieriger und intelligenter junger Mann sind, Mr. Ailey. Viel intelligenter als Löwenstein oder Czito – ohne meinen beiden Assistenten dabei zu nahe zu treten. Aber Sie haben das gewisse Etwas, das es braucht, um ein wahrer Forscher zu werden. Schneid, Ausdauer und Geistesblitz. Und ich weiß es überaus zu schätzen, wenn man fleißig und aufrichtig ist. Es gibt nicht viele Männer, die mir ohne Vorbehalte folgen. Meine Freunde Löwenstein und Czito sind solche Raritäten … und Sie hoffentlich auch, Mr. Ailey.“

„Natürlich. Ich darf also bleiben?“, fragte Philemon bang. Sein Herz schlug heftig in seiner Brust. Teslas unerwartetes Lob machte ihn ganz flatterig.

„Sie dürfen noch viel mehr als das, mein Freund. Ich werde Sie heute das Experiment als erster leitender Assistent durchführen lassen.“

„Als leitender Assistent?“

„Ganz recht. Eigentlich hatte ich wie immer den guten und zuverlässigen Löwenstein dafür vorgesehen, aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich Ihnen für Ihre Treue etwas schuldig bin.“

Philemon biss ich auf die Lippen, unendliche Dankbarkeit durchströmte ihn. „Sie sind mir nichts schuldig, Doktor. Im Gegenteil, ich bin Ihnen zutiefst zu Dank verpflichtet für Ihre Geduld und Ihre Nachsicht mit einem allzu tölpelhaften Schüler wie mir. Und es ist mir eine Ehre, das Experiment heute für Sie durchführen zu dürfen.“ Er reichte Tesla mit einer leichten Verneigung das Buch.

Der Doktor nahm es wortlos entgegen, strich andachtsvoll darüber und gab Philemon das Zeichen, sich entfernen zu dürfen. Mit pochendem Herzen verließ der junge Elektroingenieur die Kammer und trat ins Labor, wo er sich glücklich gegen die Wand lehnte. Endlich würde er vom Laborlehrling in die Riege der vollwertigen Assistenten aufsteigen. Endlich würde er in den Kreis von Teslas engsten Vertrauten aufgenommen werden. Er hörte, wie Löwenstein und Czito das Gebäude betraten. Die beiden Männer lachten über etwas und hängten ihre Hüte an die Haken neben der Tür. Freudig begrüßten sie Philemon und gemeinsam machten sie sich an die Vorbereitung des angekündigten Experiments.