4. Kapitel
19. Mai 2011
Fortaleza, Brasilien
22.11
Uhr
Draußen vor dem Flughafengebäude in Fortaleza schlug ihnen schwüle, tropische Luft entgegen.
„Ah, cheiro da patria – der Duft der Heimat!“, säuselte Charlize und sog genussvoll Luft durch die Nase ein.
Ondragon schmunzelte. Seine Assistentin war in Brasilien aufgewachsen, genauer gesagt in São Paulo, wo es die größte japanische Gemeinde außerhalb Japans gab. Ihr Vater war 1939 mit seinen Eltern von Tokio nach Brasilien gekommen und hatte später eine Einheimische geheiratet. Charlize war also ein Halbblut, eine nipo-brasileira, und ihr richtiger Name lautete eigentlich Sayo-Li. „Charlize“ war jedoch einfacher auszusprechen. Sie hatte noch einen älteren Bruder, Keisuke „Kay“ Tanaka.
Es war Ondragon jedoch am liebsten, wenn seine Assistentin Japanisch sprach, denn seine Portugiesisch-Kenntnisse ließen sehr zu wünschen übrig. Immerhin verstand er ein paar Brocken.
Sie winkten ein Taxi herbei und ließen sich in den Stadtteil Mucuripe fahren, wo sich ihre Hotels befanden. Während die Lichter der nächtlichen Stadt am Seitenfenster vorbeizogen, dachte Ondragon darüber nach, unter welchen Umständen er Charlize kennengelernt hatte und wie es dazu gekommen war, dass diese bezaubernde und talentierte junge Frau seitdem für ihn arbeitete. Schon damals hatte Charlize sich als wahres Verkleidungstalent entpuppt, und es war ihr doch tatsächlich gelungen, ihn reinzulegen. Ondragon schmunzelte bei dieser Erinnerung. Danach hatte er gar nicht anders gekonnt, als sie zu überreden, bei ihm als Assistentin einzusteigen.
Sie erreichten das Gran Marquise Hotel an der Avenida Beira-Mar und Ondragon stieg aus. Er holte seine Reisetasche aus dem Kofferraum, gab Charlize mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er sie später anrufen würde, und schlug die Tür zu. Seine Assistentin würde unter einer falschen brasilianischen Identität in einem anderen Hotel absteigen. Für ihre Tarnung war es notwendig, dass sie etwas schlichter residierte. Außerdem war es immer gut, zwei Operationsbasen zu haben.
Durch den zur Straße hin gelegenen Haupteingang betrat Ondragon das Hotel – einen mehrstöckigen Block mit terrakottafarbener Fliesenfassade und verspiegelten Fenstern, die in den Sechzigern vielleicht mal modern gewesen waren. In der weitläufigen Lobby mit einer Wand aus monströsen Natursteinmosaiken und mehreren Sitzgruppen klimperte verhalten ein Piano. Ein paar Gäste hielten sich an der abseits gelegenen Bar auf und schienen in caipirinhafröhlicher Stimmung zu sein. Ondragon nahm sie unter die Lupe und sortierte sie in die Kategorie „betuchte Touristen auf der Suche nach billigem Vergnügen“ ein. Nichts, was ihm in die Quere kommen könnte.
Nachdem er an der Rezeption eingecheckt und sämtliche Überwachungskameras auf dem Weg zu seinem Zimmer im vierten Stock gezählt hatte, war er froh, endlich die Tür hinter sich schließen und allein sein zu können. Er stellte die Tasche aufs Bett, holte alle Dinge heraus, die ihn nicht wie einen gewöhnlichen Hotelgast aussehen ließen, und verfrachtete sie in den Zimmersafe. Darunter war ein zweiter Satz Reisedokumente von Charlize (die wiederum seinen hatte – nur für alle Fälle), ein kleines aber lichtstarkes Fernglas, ein Paar dünne Lederhandschuhe, Pfefferspray, welches auch für Profis sehr nützlich sein konnte, sein Notizblock, ein handlicher Alukoffer mit Zahlenschloss, der seine kleine Spionageausrüstung enthielt, und ein verborgenes Klappmesser mit zwölf Zentimeter Klingenlänge. Natürlich nur zur Selbstverteidigung, denn Schusswaffen bekam man ja leider nicht durch den Zoll. Wie bei vielen Einsätzen in Ländern, in denen er kein geheimes Depot besaß, war Ondragon darauf angewiesen, die schweren Geschütze von seinen Kontaktleuten zu erhalten oder sie sich auf dem Schwarzmarkt zu beschaffen, was allerdings erheblich mehr Vorarbeit erforderte. Er hoffte, dass der BND ihm wenigstens eine Handfeuerwaffe zur Verfügung stellen würde, wenn er schon kein weiteres Personal bekam. Zur Not taten es aber auch das Pfefferspray und das Messer. In seiner Zeit als Mailman bei DeForce Deliveries war er in Krav Maga ausgebildet worden und wusste wie man Klingen aller Art effektiv einsetzte. Und effektiv bedeutete in diesem Falle tödlich.
Er verschloss den Safe mit einer vierstelligen Kombination und kramte seine Kleidung aus der Tasche, die er am nächsten Tag brauchen würde. Anschließend ging er unter die Dusche. Nach der kurzen Erfrischung trocknete er sich ab, stellte die Klimaanlage auf die zweite Stufe und nahm sein Telefon zur Hand. Charlize meldete sich nach dem zweiten Klingeln.
„Hast du schon eingecheckt?“, fragte er.
„Hai. Bin gerade auf dem Zimmer angekommen. Sieht okay aus. Der Blick aus dem Fenster ist perfekt. Man kann den Hafen sehen. Und wenn ich in deine Richtung schaue, das Dach deines Hotels.“
„Gut. Dann warten wir ab, was morgen bei dem Treffen herauskommt.“
„In Ordnung, schlaf schön, Chef.“
„Du auch!“ Ondragon legte auf, ging im Internet auf die Seite mit dem verborgenen Bulletin Board und hinterließ dort eine Nachricht für Dobermann12. Dann schaltete er sein Handy aus und legte sich auf die kühlen Laken.
Am nächsten Morgen saß er um 7.30 Uhr ausgeruht beim Frühstück und wartete auf seinen speziell für ihn zubereiteten Porridge, dabei nippte er an einem dreifachen Espresso und blätterte in den spärlichen Notizen, die er sich bisher gemacht hatte. Die Operation würde gestützt vom BND laufen, Charlize wäre dabei sein verlängerter Arm, während er im Verborgenen bleiben und auf seinen Einsatz warten würde. Das war ungewohnt für ihn, da er stets selbst der aktive Part war. Er wusste aber auch, dass er Charlize absolut vertrauen konnte. Sie mussten nur noch die Feinheiten mit dem Kontaktmann besprechen.
Der Porridge kam und Ondragon verschlang sein minimalistisches Morgenmahl mit großem Appetit. Im Anschluss gönnte er sich noch eine Schale frischer Obststücke und machte sich bereit, in einer stillen Ecke des Hotels das Bulletin Board zu öffnen. Tatsächlich gab es dort eine Nachricht von Dobermann12:
Treffpunkt Boteco „Veraneio“ an der Praia de Meireles gegenüber vom Hotel Beira Mar, 12.00. Ich finde Sie!
Erst um zwölf Uhr, das war gut, dachte Ondragon, so hatte er ausreichend Zeit, um noch einige Besorgungen zu machen und das Gelände zu sondieren. Er schickte Charlize eine Mail, damit sie wusste, wo sie in einer Stunde zu ihm stoßen sollte, und machte sich mit einem Taxi auf den Weg zum Mercado Central.
Dort angekommen, setzte er seine Sonnenbrille auf und suchte unauffällig die Umgebung ab. Er schien allein zu sein, aber das würde ein späterer Aufklärungsgang noch bestätigen müssen. Zunächst aber steuerte er auf den modernen, halbmondförmigen Bau des Einkaufszentrums zu, der direkt neben der Kathedrale von Fortaleza errichtet worden war – Tempel zweier unterschiedlicher Religionen.
Der Shopping-Komplex war vollgestopft mit kleinen Läden, die über vier Etagen alles boten, was den Pauschaltouristen glücklich machte. Als erstes besorgte sich Ondragon zwei Stadtpläne, wobei er sich immer wieder vergewisserte, dass er nicht verfolgt wurde. So früh morgens war nicht viel los und es fiel ihm leicht, die einzelnen Leute zu begutachten. Keiner erschien ihm verdächtig. Also setzte er seine Shoppingtour fort, kaufte ein paar grellbunte T-Shirts, einen Cowboyhut aus Stroh, eine Baseballkappe, Flipflops, einen kleinen Rucksack und Strandshorts. Ondragon hasste Shorts, denn unter ihnen konnte man nur schwer Waffen verbergen, aber lange Hosen fielen in diesem Ferienparadies einfach zu sehr auf.
Nachdem er alles für seinen Einsatz besorgt hatte, ging er auf eine Herrentoilette und zog sich um. Seine restlichen Klamotten steckte er in den Rucksack. Im Spiegel begutachtete er sein Outfit und setzte sich den peinlichen Strohhut auf. Da er die kalifornische Sonne gewöhnt war, brauchte er sich um seinen Teint keine Sorgen zu machen. Er sah aus, als sei er schon ein paar Wochen hier. Frisch umgestylt verließ er die Toilette und begab sich in ein Café in der untersten Etage der Shoppingmall. Dort setzte er sich an einen Tisch mit Blick auf das große Atrium, das sich allmählich mit Menschen zu füllen begann.
Um 10.30 erschien Charlize und ließ sich mit einem Lächeln und vielen Einkaufstüten neben ihm nieder. Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und bestellte beim Kellner einen cafe com leite. Für ihre gemeinsamen Aktivitäten auf offener Straße hatten sie eine Tarnung als verlobtes Pärchen ausgemacht, auch wenn sie abends getrennte Wege gehen würden. Das war eine kleine Schwachstelle, aber für Charlizes zweite Identität, die sie demnächst vom BND erhalten würde, war sicherer, wenn sie ein Einzelappartement bezog.
Verstohlen betrachtete Ondragon seine Assistentin. Sie trug ein luftiges, grünes Beachkleid mit einem weißen Bikini darunter. Ihre Haut glänzte vom Sonnenöl und ein verführerischer Duft nach Strand und Sonne ging von ihr aus. Charlize hatte ihre Verkleidung mal wieder voll im Griff. Er grinste in sich hinein und trank von seinem frisch gepressten Orangensaft.
„Hast du alles bekommen?“, fragte er.
„Natürlich, Honey“, antwortete sie mit einem starken brasilianischen Akzent, den sie sonst nicht zu sprechen pflegte.
„Was ist mit der Software?“ Software war das Codewort für Kontakte, die vor Ort hergestellt werden mussten.
„Schon geschehen, ich hab mich um alles gekümmert. Sem weiß Bescheid.“ Sie gab ihm einen handbeschriebenen Zettel, auf dem die Mail-Adresse von diesem Sem stand. Ondragon wusste, dass Charlize gute Kontakte zur brasilianischen Unterwelt besaß, aber um wen genau es sich dabei handelte, war ihm nicht bekannt. Das war eine von Charlizes Bedingungen gewesen, als sie damals begonnen hatte, für ihn zu arbeiten. Fragen über ihre Vergangenheit waren absolut tabu!
Sie legte eine Hand auf die seine und sagte mit säuselnder Stimme: „Du kannst dich auf mich verlassen, Schatz!“
Ondragon warf ihr einen warnenden Blick zu. „Übertreib es nicht, sonst zeigt dir dein amerikanischer Gringo-Verlobter mal, worauf er im Urlaub noch so steht. Bussi Bussi ist es schon mal nicht!“
Schmollend schaute Charlize ihn über die Sonnenbrille hinweg an. Ihr Kaffee kam und brachte sie davon ab, sich in den Kaktus zu verwandeln.
„Und wie lautet unser Programm für heute?“, erkundigte sie sich.
„Mit dem Taxi starten wir von hier aus eine kleine Erkundungstour zum Hafen, wo sich die Hallen mit den Wrackteilen der Air-France-Maschine und das Labor befinden, und anschließend fahren wir durch unser Viertel. Während wir unterwegs sind, werden wir Japanisch sprechen, damit der Fahrer nicht mithören kann. Um zwölf Uhr treffen wir uns mit dem Kontaktmann in einer Strandbar. Du wirst an meiner Seite bleiben, schließlich wirst du die Operation durchführen. Danach bereiten wir uns auf den Einsatz vor.“
Sie tranken ihre Getränke aus, bezahlten und riefen sich am Haupteingang der Mall ein Taxi herbei. Ondragon war froh über die Klimaanlage in dem Wagen, denn draußen herrschte bereits drückende Hitze. Weit weniger erfreut war er über die nervtötende Forro-Musik, die aus dem Radio schepperte. Er bat Charlize, dem Fahrer auszurichten, er solle die Musik leiser stellen, was dieser dann auch widerwillig tat. Der Lärmpegel sank auf ein erträgliches Maß unterhalb einer Flugzeugturbine, und erleichtert atmete Ondragon auf. Sie gaben den Fahrer, der sich sichtlich über den Eingriff in sein Hörvergnügen ärgerte, Instruktionen und fuhren los.
Das Hafenareal von Fortaleza war lächerlich klein und es dauerte nicht lange, die paar Straßenzüge, die mit Buchstaben gekennzeichnet waren, zu durchkreuzen. Das eigentliche Gelände mit den Docks, Hallen und Silos war durch eine Betonmauer vom öffentlichen Bereich abgeschottet und besaß nur drei Einfahrten. Vor dem Haupteingang ließ Ondragon das Taxi etwas langsamer fahren.
„Ziemlich heruntergekommen“, sagte er auf Japanisch. „Außerdem sieht es nicht sonderlich stark bewacht aus.“
„Node sore wa – So ist es“, entgegnete Charlize und schoss heimlich ein paar Fotos mit ihrem Smartphone. „Wahrscheinlich gehen sie davon aus, dass sich nur wenige Journalisten für den Flugzeugschrott interessieren.“
Als sie das westliche Ende erreichten, bemerkte Ondragon eine Pipeline, die über die Mauer auf das Hafenareal führte. „Hier gäbe es schon mal eine gute Möglichkeit, bei Nacht hineinzugelangen und Pandora hinauszuschmuggeln. Außerdem steht uns noch der Wasserweg zur Verfügung. Schau mal, dort drüben. Siehst du das zum Teil eingestürzte Gebäude, das fast an die Mauer grenzt? Das ist ein gutes Versteck. Von dort aus werde ich die Operation überwachen.“
Charlize nickte.
„Gut, fahren wir jetzt an meinem Hotel vorbei“, sagte Ondragon und wies den Taxifahrer an, von der Avenida Vicente de Castro auf den Strandboulevard abzubiegen. „Mal sehen, wie weit es bis dahin ist.“
Eine Minute später passierten sie Charlizes Unterkunft, die aus taktischen Gründen nur einen Katzensprung vom Hafen entfernt lag. Das Appartementhaus „Porto Joia“ war das erste in einer langen Reihe von Hotels, die sich wie ein Gebirgszug aus Beton und Glas über mehrere Kilometer am Strand erstreckte.
Wie stillos, dachte Ondragon, aber typisch für solche Urlaubsorte. Leider nicht nur hier, sondern entlang der gesamten warmen Atlantikküste. Miami war ganz ähnlich bautechnisch verschandelt worden.
Zusammen mit gefühlten hundert Reisebussen drängelten sie sich auf der Avenida Beira Mar nach Westen, zur Rechten sahen sie den Strand und zur Linken die Hochhausfassaden. Ondragon zählte die Hotels. Das vierzehnte war seins, danach folgten etliche andere. Etwas mehr als ein Kilometer lag zwischen seiner Unterkunft und der von Charlize. Das war zu Fuß in 15 Minuten zu schaffen.
Sie ließen den Taxifahrer in die nächste Straße stadteinwärts einbiegen und noch eine Runde durch das Viertel drehen. Das wirkte zwar nicht so heruntergekommen wie die im Süden angrenzenden Armutsviertel, konnte aber mit keiner besonderen Atmosphäre aufwarten. Kopfschüttelnd fragte sich Ondragon, wie man hier ernsthaft Urlaub machen konnte. In Hotels, die ihre besten Zeiten längst hinter sich hatten und besoffene Touristen billige Prostituierte abschleppten. Rundherum nichts als Schmutz, Gewalt und Elend.
„Grauenvoll“, flüsterte er.
„Du sagst es, Chef. Das ist die hässliche Schwester von Rio de Janeiro!“
Nach weiteren zehn Minuten hatten sie genug gesehen und ließen sich zum Beira Mar Hotel an der Praia de Meireles chauffieren, wo sie sich mit einem guten Trinkgeld vom Taxifahrer verabschiedeten, der gleich darauf seine Musik wieder auf gewohnte Lautstärke stellte und davonbrauste. Gegenüber dem Hotel befand sich ein Beachpark mit Palmenhainen, Sonnenliegen und Strandbars, den sogenannten Botecos. Das „Veraneio“ fanden sie ohne Probleme. Es lag im Schatten von Gummibäumen und mit direktem Blick auf das türkisblaue Wasser.
Schon etwas besser, dachte Ondragon, setzte sich an einen freien Tisch und sondierte die Umgebung. Die Strandbar schien von Dobermann12 sorgfältig für das geheime Treffen ausgewählt worden zu sein. Eine hohe Hibiskushecke schirmte die Tische vor unerwünschten Blicken von der Straße her ab, und aus den Lautsprechern an der Hütte drang Musik in genau der richtigen Laustärke, so dass man sich gedämpft unterhalten konnte, ohne dabei von Tischnachbarn oder etwaigen Richtmikrofonen belauscht zu werden. Während Charlize mit einem kleinen Spaziergang am Strand die Leute auf den Sonnenliegen unter die Lupe nahm, checkte Ondragon die Gäste an den Tischen. Ganz links saßen zwei braungebrannte Typen Mitte Zwanzig, vermutlich Amerikaner. Nein, stopp! Der eine trug Jack-Wolfskin-Sandalen. Das konnten nur Deutsche sein. Aber würde Dobermann12 so etwas anziehen? Wohl eher nicht.
Am nächsten Tisch saß eine Rentnergang bestehend aus drei Frauen und drei Männern. Diesmal eindeutig Amerikaner, gut zu erkennen an ihren Busfahrer-Hintern, den Biene-Maja-Ärmchen und den obligatorischen Riesenbrillen. Jener Typ rüstiger Rentner, der sich lediglich die hässliche Schwester der Copacabana leisten konnte, wie Charlize es zuvor so treffend ausgedrückt hatte.
Am Tisch daneben lümmelten sich betont cool zwei Einheimische. Lässig gekleidete Beach-Romeos, die an ihren Flaschenbieren saugten und auf ein Techtelmechtel mit einer weißen Touristin spekulierten. Die Kandidatinnen dafür saßen auch schon am Nachbartisch. Vier blondierte und übergewichtige Twens mit viel zu engen Bikinis und krebsroter Haut. Sie sprachen so laut und mit solch starkem Akzent, dass klar war, woher sie stammten. Nur das United Kingdom brachte diese unsägliche Mischung aus royalem Snobismus und dem übelsten Kneipenslang hervor. Hip, hip, horray – three cheers and more beers for Her Majesty!
Dann waren da noch zwei weitere Typen, die jeweils allein an ihren Tischen saßen.
Ein junger Bursche, dünn und drahtig. Er trug Sneakers, Muskelshirt, Laufbrille und auf dem Kopf eine weiße Baseballkappe. Nationalität? Schwer zu schätzen. Er war dunkelhäutig aber nicht schwarz. Eher ein Südländer, zum Beispiel Mexikaner oder Spanier. Vielleicht auch ein Abkömmling der weißen brasilianischen Oberschicht. Ondragon wandte sich dem zweiten, viel interessanteren Typen zu. Ein dunkelhaariger, leicht untersetzter Mann, der scheinbar gedankenverloren an seinem Fruchtsaft schlürfte. Er war um die Vierzig und kleidungstechnisch eine Kopie von Ondragon: T-Shirt, Shorts, lächerlicher Hut. Wenn das nicht Dobermann12 war! Der Bursche vermied es geradezu angestrengt, zu ihm herüberzuschauen und gab vor, verträumt auf den Strand hinauszublicken. Ondragon bemerkte jedoch, dass seine Pupillen immer wieder in die Augenwinkel rutschten. Außerdem hatte der Mann einen Fehler gemacht. Er trug eine klobige Traser-Militäruhr für mindestens 800 Dollar am Handgelenk. Das würde kein Tourist tun. Fortaleza war zwar ein Paradies für Billigurlauber aus aller Welt, aber auch für Taschendiebe und anderes Gesindel, und man tat gut daran, stets in Understatement gewandet auf die Straße zu treten.
Entspannt lehnte sich Ondragon zurück und winkte Charlize zu. Übertrieben girliemäßig kam sie auf ihn zugetrippelt, setzte sich neben ihn und schwärmte laut über den tollen Strand. Sie machte ihre Sache gut. Ondragon lächelte sie an und legte locker einen Arm um ihre Schultern. Schließlich waren sie ja verlobt, und für eine Weile genoss er es sogar, seiner Assistentin so nahe sein zu können. Welch ein Jammer, dass er sich an seine eigene oberste Direktive halten musste: Kein Sex mit Angestellten! Er seufzte verhalten und nahm seinen Arm wieder weg. Dann ging er an die Bar und holte zwei eiskalte Corona.
Während sie warteten, taten sie so, als sähen sie sich mit dem Smartphone Urlaubfotos an. In Wirklichkeit aber erkundeten sie ein weiteres Mal das Hafengelände mit Hilfe von Google Maps. Auf dem erstaunlich scharfen Satellitenbild war jedes Gebäude zu erkennen, und sie versuchten, sich deren Lage gut einzuprägen. Die ganze Zeit über rührte sich der Typ vom BND nicht von der Stelle. Dann war es zwölf Uhr und ein Schatten fiel von hinten auf ihren Tisch. Ondragon drehte sich um und war einigermaßen überrascht, nicht den Typen mit der Uhr zu sehen, sondern eine zierliche, weißblonde Frau mit Pferdeschwanz. Sie trug einen roten Badeanzug und ein um die Hüfte gewundenes Tuch. Ihre Augen waren von einer großen, dunklen Brille verdeckt.
„Die hab ich vorhin am Strand gesehen“, flüsterte Charlize ihm auf Japanisch zu.
Die Frau schaute leicht verwirrt auf sie hinab, als hätte sie sich im Tisch geirrt.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte Ondragon sie in einem breiten Texasslang.
Die Frau lächelte und weiße Zähne blitzten in ihrem sommersprossigen Gesicht auf. Sie sah gar nicht mal so übel aus. Auf eine unnahbare Weise sexy. Wie eine Zwillingsschwester der Schauspielerin Claire Danes, nur eben mit Sommersprossen, die sich über ihren ganzen Körper ergossen, vom Gesicht über ihre Schultern, bis hin zu den Armen und Beinen. Ondragon war froh, dass die Sonnenbrille seinen Blick verbarg, mit dem er die Frau musterte.
Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter und setzte sich dann einfach zu ihnen an den Tisch. „Ich denke, ich bin hier richtig“, sagte sie auf Deutsch.
Ondragon hob die Augenbrauen. „Sie sind …“
„… Dobermann12, ganz recht.“ Die Frau schmunzelte, nahm ihre Brille ab und enthüllte zwei gleißend blaue Augen. Sofort überfiel Ondragon ein angenehmes Frösteln. Dass der BND solch ansehnliche Agentinnen beschäftigte, war ihm neu.
„Möchten Sie etwas trinken? Ein Bier oder eine Caipirinha?“, fragte er mit einem Gentleman-Lächeln.
„Nein danke, kommen wir doch gleich zum geschäftlichen Teil.“
„Der Kontaktmann ist also eine Kontaktfrau!“, witzelte Ondragon.
„Stört Sie das?“
„Um Himmels willen, nein!“ Entschuldigend hob er beide Hände. Madame Sommersprosse war also auch eine Madame Kühlfach. Welch aufreizende Kombination.
„Mein Name ist Katharina Ritter. Ich werde Pandora aus dem Hintergrund leiten. Ich nehme an, das ist Ihre Assistentin?“ Sie warf einen abschätzenden Blick auf Charlize, die etwas sparsam in die Runde schaute.
Erst jetzt wurde Ondragon bewusst, dass sie kein Deutsch verstand, und stellte die beiden Frauen einander vor. Sofort spürte er die leicht aggressive Spannung, die sich zwischen ihnen aufbaute. Das konnte ja heiter werden, dachte er, ließ sich aber nichts anmerken.
„Das dort drüben am Tisch“, fuhr Frau Ritter nun in Englisch fort, ist übrigens mein Mitarbeiter Herr Steiner, auch Setter30 genannt. Aber Sie haben ihn ja bereits als Kundschafter erfasst. Er ist eine gute Ablenkung, finden Sie nicht?“ Sie sah ihn herausfordernd an.
Ondragon reagierte nicht auf diese kleine Spitze. „Einen netten Wachhund haben Sie da. Braucht der viel Auslauf?“
„Er ist recht pflegeleicht.“ Die BND-Agentin grinste spitzbübisch, was Ondragon ganz entzückend fand und er lächelte zurück, bis Frau Ritter damit begann, in ihrer Strandtasche herumzuwühlen.
„Da Sie mir vorab ein Foto Ihrer Assistentin geschickt haben“, sagte sie, „sind die Papiere und der Einsatzplan für Frau Tanaka fertig.“ Sie zog einen Flyer aus ihrer Tasche, der aussah, als stamme er von einem der hiesigen Restaurants, und schob ihn über den Tisch. Charlize griff danach und ließ ihn in ihrer Handtasche verschwinden.
„In dem Flyer finden Sie sämtliche Ausweispapiere und Informationen über den Einsatzort“, erklärte die Agentin weiter. „Dort ist alles für Frau Tanaka installiert. Dr. Letícia Matsumoto Souza wird morgen an ihrem Arbeitsplatz erwartet. Es wäre also schön, wenn Sie möglichst zeitnah mit der Operation beginnen könnten. Wir werden während der heißen Phase hauptsächlich über Funk und eine kleine Kamera in Verbindung bleiben. Sind Ihre Handys abhörsicher?“
„Ja, aber was genau meinen Sie mit: ‚Am Einsatzort ist alles installiert‘?“, wollte Ondragon zu Charlizes Sicherheit wissen.
„Der Kriminaltechniker, der zusammen mit dem Team – auch darüber finden Sie alles im Memorandum – den Inhalt von Pandora untersuchen soll, hatte gestern einen kleinen Unfall. Dummerweise ist er gestürzt und hat sich das Bein gebrochen. Zehn Tage Krankenhaus. Ihre Assistentin wird für ihn einspringen.“
Ondragon nickte. So weit, so gut. Er sah seine Assistentin an. Kriminaltechnikerin, das könnte funktionieren. Charlize hatte so einiges auf dem Kasten und konnte sogar einen Zirkusclown souverän verkörpern. Er sah, wie sie ohne mit der Wimper zu zucken nickte. Ja, das war sein Mädchen!
„Im Übrigen ist auch für Ihre Assistentin ein Profil auf dem Bulletin Board eingerichtet worden. Sie bekommt Zugriff unter dem Namen Pinscher26.“ Die BND-Frau konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen und Ondragon wusste, dass er Charlize später würde etwas besänftigen müssen. Der unterschwellige Zickenkrieg musste nicht jetzt schon eskalieren.
„Haben Sie noch irgendwelche Fragen, Mr. Ondragon?“
„Bekommen wir denn gar keine Hardware?“
„Hardware?“ Die blonde Agentin runzelte die Stirn.
„Na, so kleine Spielzeuge, mit denen man Kugeln verschießt. Sie wissen schon, wie bei James Bond.“
Einen Moment lang beherrschte weiterhin Unverständnis ihre Miene. Dann schien der Groschen gefallen zu sein. „Keine Sorge“, entgegnete sie mit einem offenen Lächeln, „die Pakete werden Ihnen noch heute Abend zugestellt.“
Ondragon trank sein Bier aus und musterte die Agentin erneut. Konnte er sich im Ernstfall auf diese Frau verlassen? Sie schien einen glaubwürdigen Eindruck zu machen – sofern man das von einer Geheimdienstmitarbeiterin behaupten konnte. Dennoch war es sicherer, wenn er sich auf seine eigenen Stärken besann. Und seine beste Waffe im Einsatz hieß Charlize, und die war verdammt zuverlässig!
„Morgen früh stehen wir Ihnen zur Verfügung“, bestätigte er den Auftrag.
„Gut, dann hätten wir ja alles geklärt.“ Agentin Ritter erhob sich und schob einen Unterarm durch die Schlaufen ihrer Tasche. „Ich wünsche gutes Gelingen. Auf Wiedersehen!“ Mit einem aufreizend sexy Hüftschwung stolzierte sie in Richtung Strand davon. Ondragon bemerkte, wie Charlize ihr mit den Augen förmlich Nadeln hinterherschoss.
„Nette Lady“, sagte er scherzhaft. Er wollte probeweise ein wenig Öl ins Feuer gießen.
Charlize schnaubte laut.
„Ich weiß gar nicht, was du hast. Ich fand sie ganz okay.“
Sie wandte den Kopf und sah ihn scharf an. „Wenn du mit ‚ganz okay‘ ‚feuerspuckender Drachen‘ meist, dann liegst du richtig.“
„Jetzt hab dich doch nicht so.“
Aber Charlize ließ sich nicht bremsen. „Blondi, der Dobermann! Wie passend! Diese Onibaba soll bloß aufpassen!“
Alte Hexe? Jetzt musste Ondragon lachen. Besänftigend strich er seiner Assistentin über die erhitzte Wange. „Beruhige dich, Sweetheart, ich gehöre ganz dir!“
Irritiert sah Charlize ihn an und dann löste sich ihre gereizte Stimmung in einem mädchenhaften Kichern. „Sorry, Chef. Aber bei Blond sehe ich Rot!“
„Schon klar.“ Ondragon grinste und beobachtete, wie Setter30 vom Nachbartisch aufstand und davonschlenderte. Von ihrer Unterhaltung konnte er nicht viel mitbekommen haben, denn sie hatten sehr leise in Japanisch gesprochen.
Wenig später verließen auch sie die Strandbar und begaben sich gegenüber in das Hotel zum Mittagessen. Nach dem zweitklassigen Menü mit obendrein unerfreulichem Service ließ Charlize Ondragon am Tisch zurück und verschwand auf der Damentoilette, wo sie das Material aus dem Flyer sichten wollte. Nach sieben Minuten kam sie zurück.
„Alles klar“, sagte sie leise. „Die Dokumente sehen okay aus. Ein Ausweis der Polizei von São Paulo, der mich als Mitarbeiterin der dortigen Kriminaltechnik beurkundet, ein Führerschein und ein Empfehlungsschreiben. Bevor die merken, dass ich ein Fake bin, habe ich das Ding im Sack und bin längst über den Fuji!“
„Gut“, sagte Ondragon. „Den Papierkram haben die vom BND also schon mal hinbekommen. Ich frage mich nur, warum sie den Rest nicht auch selber machen?“
„Womöglich haben sie keinen, der Portugiesisch spricht und so perfekt eine brasilianische Polizei-Forensikerin mimen kann wie ich.“ Charlize zwinkerte kokett und wurde wieder ernst. „Desweiteren befand sich in dem Flyer eine Beschreibung des Eisatzortes und der Lagerhallen. Das Depot mit den Wrackteilen befindet sich in dem Gebäude am westlichen Rand des Hafengeländes, ganz in der Nähe des eingefallenen Hauses. Das Labor, welches übrigens hauptsächlich dazu dient, die Leichen zu untersuchen und deshalb größtenteils mit medizinischem Equipment ausgestattet ist, wurde zusammen mit Kühlanlagen und dem Leichenzelt in der Halle daneben eingerichtet.
„Hmmm, Geruchsbelästigung garantiert!“, bemerkte Ondragon.
„Hai, aber ich werde damit klarkommen. Das Memo habe ich bereits auf dem Klo gelesen, du kannst es haben.“ Sie schob Ondragon den Flyer zu.
„Raffiniert, aber altmodisch.“ Er steckte ihn ein. „Zerstört er sich auch von selbst, wenn man ihn gelesen hat?“
„Da musst du wohl das gute alte Feuerzeug bemühen, Chef.“
Ondragon rief den Kellner und bezahlte die Rechnung. „Ich denke, wir sollten für den Rest des Tages getrennte Wege gehen. Tu so, als ob du an den Stand gehst.“
Charlize erhob sich und schulterte ihre Handtasche. „Soll ich Erkundigungen über Ritter und Steiner einholen?“
„Leute wie die arbeiten mit Sicherheit doppelt legendiert. Ritter und Steiner sind bloß Decknamen wie Dobermann und Setter, aber du kannst es ja mal versuchen.“
„In Ordnung, Honey“, sie beugte sich herab, gab ihm einen Kuss auf die Wange und stöckelte davon.
Schließlich erhob sich auch Ondragon und verließ das Restaurant. Er sah, wie Charlize vor dem Haupteingang in ein Taxi stieg, und machte sich zu Fuß auf den Weg in sein Hotel. Sie würden am Abend noch einmal miteinander telefonieren.