22. Kapitel

23. Mai 2011
Fortaleza, Brasilien
14.23 Uhr

Ein Fahrer des Honorarkonsulats brachte Ondragon zum Hotel. Auf der Fahrt schaute er gedankenverloren aus dem Fenster. Das Gespräch mit Kubicki war seltsam gewesen und es wirkte immer noch nach. Konnte es so etwas wie die gepimpte Version eines Perpetuum mobiles geben, wenn diese utopische Apparatur an sich schon nicht existierte? Das klang vollkommen unglaubwürdig. Und wenn Nikola Tesla damals die Lösung aller Energieprobleme der Menschen in den Händen gehalten hatte, warum war die Welt dann nicht schon längst eine andere? Niemand würde heute noch überteuertes Gas oder Öl kaufen wollen, wenn es Energie umsonst gäbe. Aber vielleicht war tatsächlich etwas dran an der Sache. Dann wäre es kein Wunder, dass nicht nur die Deutschen so heiß auf diese Technologie waren, bedrohte sie doch das seit Jahrzehnten etablierte Machtgefüge aus Politik, Industrie und Wirtschaft. Ein Apparat zur Gewinnung von Freier Energie in den Umlauf zu bringen, würde sämtlichen Energiekonzernen den Garaus machen!

Ich muss dringend telefonieren, dachte er. Aber erst, wenn ich im Hotel bin.

Der Wagen erreichte das Gran Marquise und Ondragon stieg aus. Er begab sich auf sein Zimmer und überprüfte, ob jemand während seiner Abwesenheit hier gewesen war. Sein Wanzendetektor zeigte zwar nichts an, aber der Stadtplan von Fortaleza auf dem Nachttisch lag minimal anders. Demzufolge musste der BND oder jemand anderes sein Zimmer durchsucht haben. Schnell ging er zu der Stelle an der Wand, wo er den Chip hinter der Tapete versteckt hatte. Er war noch da. Erleichtert nahm er ihn an sich und schaltete danach sein Handy ein, wobei er hoffte, dass sich die Techniker vom BND beim Versuch, es zu knacken, die Zähne ausgebissen hatten. Er wählte Charlizes Nummer und wartete, dabei tippte er angespannt mit dem Finger auf den Nachttisch. Seine Müdigkeit, die er im Honorarkonsulat noch verspürt hatte, war wie weggeblasen, und die Zentrifuge lief auf höchster Drehzahl.

„Hi, Chef! Haben sie dich endlich rausgelassen?“, meldete sich seine Assistentin. Sie klang atemlos, als wäre sie zum Telefon gerannt.

„Ja“, antwortete er kurz angebunden. „Wo bist du? Ist alles in Ordnung?“

Hai, ich bin bei Sem. Wir hatten nur gerade eine kleine Diskussion über die Fortführung des Deals, weil sich die Situation geändert hat. Aber gut, dass du dich meldest, dann kannst du das gleich persönlich mit Sem klären. Außerdem haben wir eine mögliche Spur zu dem Typen, der die Kiste geklaut hat!“

„Exzellent! Wo können wir uns treffen?“

„Ich schicke dir gleich eine Adresse. Dort gehst du hin und wartest darauf, dass man dich abholt.“

„Okay, bis dann! Ach ja, und, Charlize …?“

„Ja?“

„Stell mir doch bitte schon mal eine Liste mit den größten Energie- und Ölkonzernen der Welt zusammen und deren Anteilseigner. Das wäre klasse.“

„Wird gemacht. Aber warum Energiekonzerne?“

„Ich hab da so ein Gefühl. Ich erkläre es dir später.“ Er legte auf, packte alle seine Sachen zusammen und verließ das Zimmer. Unten an der Rezeption checkte er aus und schaute nach, welche Adresse ihm Charlize geschickt hatte. Es war die einer Bar an der Praia do Futuro, dem Strand im Osten der Stadt.

Draußen auf der Straße winkte sich Ondragon ein Taxi herbei und ließ sich auf mehreren Umwegen, die er dem Taxifahrer auftrug, dorthin bringen. Während sie unterwegs waren, durchsuchte er seinen überquellenden Maileingang nach wichtigen Nachrichten. Er überging die sich stauenden Anfragen von Kunden und Zwischenberichte über die laufenden Aufträge seiner Mitarbeiter Dietmar und Achille. Leider fand er nichts von Rudee, dafür aber eine Mail von seinem Freund beim FBI, die er sogleich öffnete. George Hurley schrieb:

Hi Paul,

bist du jetzt auch unter die Verschwörungstheoretiker gegangen, dass du dich mit dieser Thematik beschäftigst? Das ist doch längst ein alter Hut. Nichts als ein moderner Mythos, der es bei uns sogar unter die Top Ten geschafft hat. Das kannst du auf der offiziellen FBI-Homepage nachlesen. Die komplette Akte dazu wurde schon vor einigen Jahren im Zuge des Freedom of Information Act auf der von uns ins Leben gerufenen Seite „FBI Records – The Vault“ veröffentlicht. Sie umfasst 290 Seiten. Ich wünsche viel Spaß bei der Lektüre! Das ist ein ganz schöner Wust an Dokumenten: Briefe, Protokolle, Memos, Notizen und so weiter. Alles ist übrigens ondragon-tauglich, falls du das vorab wissen willst, hehehe.

Du findest die Akte unter dem Link: http://vault.fbi.gov/nikola-tesla. Die geschwärzten Stellen sind dabei nicht relevant. Sie enthalten hauptsächlich Namen der damaligen Agenten, Informanten oder anderer Personen, die nicht in der Öffentlichkeit genannt werden wollten. Ab Seite 5 findest du die Berichte über die Begebenheiten nach Teslas Tod, über die Durchsuchung seines Appartements und die Beschlagnahmung seiner Besitztümer. Ich will dabei betonen, dass bei der Razzia entgegen landläufiger Meinungen von Seiten des FBI nichts zurückbehalten oder entwendet worden ist. Dass das FBI geheime Aufzeichnungen über Superwaffen oder Ufos bei Tesla gefunden haben soll, ist blanker Unsinn. Märchen, die auf dem Mist irgendwelcher unverbesserlichen Verschwörungstheoretiker gewachsen sind.

Teslas Sachen wurden damals konfisziert, weil man Angst davor hatte, dass gewisse Unterlagen über etwaige Waffentechnologie in die Hände feindlicher Nationen geraten könnten. Schließlich war Teslas Neffe nach seinem Tod als erster zur Stelle. Er gehörte dem diplomatischen Corps von Jugoslawien an, einem Land, das damals in dem Ruf stand, mit den Russen zu sympathisieren. 1943 war der Zweite Weltkrieg noch im vollen Gange, und die USA mussten verhindern, dass möglicherweise kriegsentscheidende Technologien in die Hände von Spionen gelangten – mochten sie auch noch so hypothetisch gewesen sein. Sie waren gezwungen, der Sache nachzugehen.

Natürlich fachte dieser Umstand den Mythos um Nikola Tesla nur noch weiter an. Verwunderlich ist das nicht, der Mann war ja schon zu seinen Lebzeiten eine Art Popstar der Elektrotechnik. Er besaß viele Kontakte in die High Society von New York und hatte das Talent für große Gesten. Verständlich, dass er die Fantasie so mancher Zeitgenossen beflügelt hat.

Tatsache ist, dass Nikola Tesla ein außergewöhnlicher Mensch und Erfinder war, aber er hatte am Ende seines Lebens Wahnvorstellungen, und in diesen behauptete er, mit Außerirdischen zu kommunizieren und im Besitz eines Todesstrahls und anderer haarsträubender Gimmicks zu sein. Im Alter ist schon so mancher herausragender Geist wunderlich geworden. Sorry, Paul, aber mehr gibt‘s darüber nicht zu sagen.

Teslas verschollene Wundermaschinen sind und bleiben eine Legende, ein Thema, auf dem ein paar unermüdliche Weltverbesserer hängengeblieben sind und damit ganze Foren im Netz bevölkern, aber jeder seriöse Wissenschaftler würde abwinken, wenn er davon hört.

Falls du aber doch noch etwas wissen willst, dann melde dich einfach. Bleib sauber! Und grüß mir deine charmante Assistentin.

Mit den besten Grüßen aus Washington,

George

Der Inhalt der Mail brachte für Ondragon wenig Neues, aber der leicht ironische Ton von George verriet ihm, was dieser von der Angelegenheit hielt. Es war offensichtlich, dass man beim FBI keinerlei Prioritäten mehr auf Tesla und seine Erfindungen verwendete.

Ondragon öffnete die beiden von George angegebenen Links: die Top-Ten der FBI-Mythen und die Akte Tesla im „Vault“. Er las die ersten Seiten, die tatsächlich schwer zu entziffern waren, denn die Kopien waren miserabel und einige der Verantwortlichen hatten saumäßig darin herumgekritzelt. Immerhin bestätigten die Berichte, in denen Zeugen zu Teslas Tod befragt worden waren, nicht nur das, was George zuvor geschrieben hatte, sondern auch das, was Ondragon von Truthfinder erfahren hatte. Der Öffnung von Teslas Tresor hatten sechs Leute beigewohnt: der Neffe, der Wissenschaftsjournalist, ein Laborassistent und drei Hotelangestellte. Darin waren das FBI und der Ufologe sich schon mal einig. Laut FBI-Bericht war es am Ende dieser Neffe, der als Einziger behauptete, dass das Notizbuch vor der Beschlagnahmung noch dagewesen sei. Das konnten jedoch weder Teslas Assistent noch der Wissenschaftsjournalist oder die drei Hotelangestellten im weiteren Verlauf des Reports bestätigten. Für Ondragon fügte sich das Bild langsam zusammen. Mit dem zusätzlichen Wissen, dass sich Teslas Edison-Medaille in der deutschen Junkers befunden hatte, war für ihn klar, dass das FBI mit größter Wahrscheinlichkeit nichts mit dem Verschwinden des Buches zu tun hatte. Alles sprach für die Theorie mit den Nazi-Spionen, so abenteuerlich sie auch klang.

Wie dem auch sei, dachte er angestrengt, wenigstens wurde anhand der Akte „Tesla“ deutlich, dass der Fall vom Bureau aussortiert und zu einer amüsanten Anekdote stilisiert worden war. Was George Hurley betraf, so konnte Ondragon sich darauf verlassen, dass dieser die Wahrheit sagte. Nur was war mit Pandora? Wusste das FBI von dieser Operation des BND? Ondragon glaubte zwar nicht, dass derjenige, der Ritter überfahren hatte, mit dem FBI zusammenarbeitete, aber sicher konnte er sich da nicht sein. Leider würde er darüber nicht mit George reden dürfen. Pandora musste vorerst geheimbleiben.

Das Taxi hielt eine Ecke vor der angegeben Adresse. Bevor Ondragon ausstieg, schrieb er eine kurze Mail an seinen Thai-Hacker Rudee, in der er ihm mitteilte, dass er die Suche nach der Akte ‚Gemini‘ einstellen könne und dass er einen doppelten Verschlüsselungscode benötigte. Als er wenige Minuten später an der Straße stand und sich umsah, piepte sein Handy. Schnell öffnete Ondragon Rudees Antwort:

Sawadee khrap, Paul, geht klar, stelle Suche ein. Code findest du im Anhang.

See ya, Rudee.

Hervorragend, dachte Ondragon und schloss sein Faust um das Telefon. Jetzt brauchte er nur noch einen sauberen Rechner.

Auf dem Weg zu der Bar vergewisserte er sich immer wieder, keinen Verfolger am Hacken zu haben. Die Luft war rein. Schließlich hielt er vor der Boteco und öffnete den Stadtplan. Er tat so, als suche er eine Straße, und während er darauf wartete, dass sich ihm jemand zu erkennen gab, ließ er seine Gedanken kreisen. Wenn das FBI nicht hinter dem Angriff auf Ritter steckte, wer dann? CIA, NSA, die Russen, Chinesen oder Araber? Jeder konnte ein Interesse an Pandora haben. Der Wettlauf der Technologien war doch in Wirklichkeit längst der neue Kalte Krieg. Industriespionage besaß heutzutage einen weitaus höheren Stellenwert als noch vor dreißig Jahren. Im Kampf um die Vormachtstellung auf den Weltmärkten war das Knowhow westlicher Firmen gefragt und nicht mehr die Strategie irgendeines verkalkten Sowjet-Führers. Heute herrschte überall Kapitalismus, egal unter welchen Deckmäntelchen er verborgen wurde. Es ging nur noch um Geld, um die Verteilung des Wohlstandes, von dem natürlich jeder etwas abhaben wollte, und um die Steuerung der Massen, sprich, dem kleinen Bürger. Immer mehr aufstrebende Nationen drängten sich mit Gewalt in die obere Klasse der Industriestaaten, wurden von Dritte-Welt- zu Schwellenländern, denen der Westen förmlich in den Arsch kroch. Die Tiger- und BRIC-Staaten erstickten den Weltmarkt mit Billigwaren. Das neue Machterhaltungsinstrument in der globalisierten Gesellschaft waren längst nicht mehr die allseits gefürchteten Atombomben, nein, es war etwas viel Unscheinbareres. Es war das, was sämtliche Räder dieser beschissenen Welt antrieb. Das, wonach alle Menschen hungerten. Schlicht und einfach der Konsum!

Ondragon spürte, wie etwas verhalten seinen Ärmel streifte. Er sah zur Seite und entdeckte ein Kind, dass ihm erwartungsvoll eine Hand entgegenstreckte. Er holte einen Zehn-Real-Schein aus der Hosentasche und gab ihn dem Jungen, doch der zupfte weiter an seinem Ärmel.

„Was ist? War das nicht genug?“, fuhr er ihn an. Doch dann begriff er. Schnell faltete er die Karte zusammen, schulterte seine Reisetasche und ließ es zu, dass der Kleine ihn über die Straße zog.

Auf der anderen Seite ließ das Kind von ihm ab. „Vem comigo – Komm mit!“, sagte es und war kurz darauf auch schon in den engen Gassen der Favela verschwunden. Leise fluchend bemühte sich Ondragon, ihm durch das unübersichtliche Labyrinth zu folgen. Noch nie hatte er einen Fuß in ein solches Elendsviertel gesetzt und jetzt wusste er auch, warum. Die Favela sah aus wie eine Stadt, die man aus großer Höhe auf die Erde hatte fallen lassen. Überall standen Häuser, die wie weggeworfen wirkten, gesäumt von Bergen aus Müll und Schrott. Es war das Reich der Anarchie. Herrschaftsgebiet der Drogenbanden. Hier hatte die Luft einen gefährlich hohen Bleigehalt. Durchschnittliche Lebenserwartung: 25 Jahre. Sämtliche Favelas waren unter den Drogenbaronen aufgeteilt, die über ihre Sektoren mit der Selbstherrlichkeit kleiner Möchtegern-Diktatoren verfügten. Und der brasilianische Staat? Der schaute geflissentlich weg. Selbstjustiz war an der Tagesordnung. Darunter die berüchtigte Methode der Microonda – der Mikrowelle –, bei der der Verurteile in einen Turm aus Autoreifen gesteckt, mit Benzin übergossen und bei lebendigem Leib verbrannt wurde. Willkommen in der Hölle! Mit dem kleinen Unterschied, dass es in der biblischen Hölle nur einen einzigen Teufel gab.

Der Junge legte ein irrwitziges Tempo vor und Ondragon hatte Mühe, ihm zu folgen. Jedes Mal, wenn er hinter einer Ecke verschwand, überkam ihn die leichte Panik, nie wieder aus diesem Wirrwarr an Gassen herauszufinden. Doch stets wartete der Junge auf ihn und tappte dabei ungeduldig von einen Fuß auf den anderen, so als müsse er mal dringend. Wenn er dann sah, dass der Gringo ihm folgte, lief er rasch weiter. Wahrscheinlich hatte der Kleine nur diese eine Geschwindigkeit auf seinem Tacho.

Während Ondragon dem Jungen hinterher durch die Gassen stürmte, bemerkte er überall neugierige Blicke. Nur dass sich kaum ein Bewohner in der ausklingenden Hitze des Tages auf der Straße befand. Sämtliche Augen der Favela lugten aus dem Schutz der dunklen Fensterhöhlungen und gafften ihn an, als sei er Freiwild. Vermutlich schlossen sie schon Wetten ab, wie lange ein so auffälliger Weißer es hier machen würde, bevor ihn eine Kugel träfe. Unwillkürlich zog Ondragon den Kopf ein und hoffte, dass Sems Leute ihn bereits beobachteten und eingreifen würden, falls sich ihm jemand in böser Absicht nähern sollte. Ansonsten blieb ihm nur die Glock vom BND. Fünfzehn Schuss. Nicht viel an einem Ort, an dem selbst Kinder Waffen trugen.

Der kleine Junge rannte und rannte ohne die geringsten Anzeichen von Erschöpfung. Seine nackten Füße verursachten auf dem staubigen Untergrund kaum einen Laut, so schwerelos flog er dahin. Ondragon spürte, wie die Reisetasche auf seinem Rücken langsam schwerer wurde und ihm der Schweiß aus allen Poren sprudelte. Sein Hemd war völlig durchnässt und klebte an seinem Oberkörper. Die rohen Backsteinwände der Gebäude um ihn herum buken in der flimmernden Hitze. Und je tiefer sie in die Favela vordrangen, desto drückender und übelriechender wurde die Luft.

Nach einer gefühlten halben Ewigkeit erreichten sie ihr Ziel. Ein Haus, das aussah wie der architektonische Traum eines kubistischen Künstlers, der zu viel Klebstoff geschnüffelt hatte. Überall waren würfelförmige Einheiten an ein zentrales, pyramidenartiges Grundgebäude angebaut und hinterher in unterschiedlichen Farben gestrichen worden, je nachdem, was gerade „vom Laster gefallen“ war. Pink, Hellblau, Grün! Eigentlich hätte es in seiner bunten Art fröhlich wirken können, wenn da nicht überall an den Wänden Graffitis gewesen wären. CA – diese Initialen, so wusste Ondragon, verrieten, dass sich hinter diesen Mauern das Hauptquartier der hiesigen Drogenbande befand. Ein Wespennest, in das man lieber nicht stach.

Er blieb stehen und sondierte die Umgebung. Keine Menschenseele war zu sehen; es schien, als hätte er eine unsichtbare Grenze überschritten. Totenstill schwebte die stickige Luft über der Würfelpyramide, die sich wie eine wütende Faust durch das Gewirr aus Stromkabeln in den Himmel reckte.

Der Junge drängte ihn zum Weitergehen und brachte ihn schließlich zu einem Eingang. Dahinter führte eine Treppe nach oben. Der Kleine zeigte darauf und sagte: „Vai lá pra cima – dort hinauf.“ Danach verschwand er wie ein Wiesel, das den Blick des Adlers fürchtete.

Mit der Hand an der Pistole stieg Ondragon die Treppe hinauf. Oben öffnete sich ein dunkler Gang, an dessen Ende sich eine einzige Tür befand. Sie war aus verrostetem Stahl und das obligatorische CA prangte darauf in royalblauer Farbe wie eine unheilvolle Visitenkarte.

Was erwartete ihn hinter dieser Tür?

Hoffentlich Charlize. Ondragon hatte wenig Lust, sich ohne ihre Unterstützung dem Drogenboss von Fortaleza zu stellen. Er trat vor die Tür und schlug mit der Faust dagegen. Dumpf hallten die Schläge durch das ganze Gebäude. Kurz darauf hörte er, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde, und die Tür öffnete sich mit einem Quietschen. Dahinter war es noch dunkler als in dem Gang. Ondragon bemerkte einige Schatten in dem Raum, zögerte und trat dann ein. Hinter ihm schloss sich die Tür geräuschvoll und im selben Moment fühlte er den Lauf einer Waffe am Kopf. Er ließ seine Tasche fallen und hob beschwichtigend die Hände. Jemand tastete ihn ab, griff nach seiner Pistole im Hosenbund und nahm sie ihm weg.

Eu me chamo Ondragon. Você é o Sem?“, fragte er und hoffte, dass der Kerl sein dürftiges Portugiesisch verstand.

„Aber natürlich! Boa tarde, senhor Ondragon!“, hörte er eine Stimme antworten, die ihm irgendwie vertraut vorkam. Ein Licht wurde eingeschaltet, und die Schatten im Raum verwandelten sich. Es waren fünf Männer. Nacheinander scannte Ondragon ihre Gesichter. Da waren zwei schwarze Typen, die aussahen, als stammten sie aus einem Rappervideo; mit Tattoos auf den Oberarmen, dicken Goldketten um den Hals, auf halb acht hängenden Schlabberhosen und blauen Tüchern auf den Köpfen – die sogenannten Bandanas. Beide hielten neuere AK-Modelle in den Händen und machten nicht den Eindruck als würden sie lange fackeln, sie einzusetzen. Im Hintergrund lehnte ein dritter, ziemlich junger Bursche an einem Schreibtisch und rauchte in aller Ruhe eine Zigarette. Den Kerl, der ihm die Waffe an den Kopf hielt, konnte Ondragon nur aus den Augenwinkeln erkennen. Ein sehniger Rastafari mit verquollenem Gesicht und wildem Bartwuchs. Der fünfte Kerl stand direkt vor ihm. Es war der Boxer-Zwerg, der ihm die Pizza ins Hotel gebracht hatte. Mit seinen schlauen, schwarzen Augen musterte er ihn von oben bis unten.

„Wo ist Charlize Tanaka?“, fragte Ondragon.

„Sie meinen, a filha do sombra.“ Auf dem Gesicht des Mini-Gangsters erschien ein Grinsen.

Ondragon runzelte die Stirn. Tochter des Schattens? Er hatte ja geahnt, dass Charlize gute Kontakte zur brasilianischen Mafia besaß, aber dass sie bei ihnen unter einem solchen Namen rangierte, beeindruckte ihn. Er nickte.

Der kleine Boxertyp rief etwas über die Schulter und in der hinteren Ecke des Raumes ging eine Tür auf. Jemand trat heraus.

Oi, Paulinho!“, grüßte Charlize nonchalant und kam auf ihn zu. „Entschuldige diese Heimlichtuerei, aber die Jungs hier sind von der ganz vorsichtigen Sorte.“

Ondragon sah sie bewundernd an. Seine kleine, zierliche Lotusblüte trug eine türkisblaue Carmenbluse und dazu einen weißen Minirock. Ihr schwarzes Haar fiel offen über die Schultern und an ihrem Handgelenk klimperten diverse goldene Armreifen. Sie wirkte wie ein graziler, chinesischer Drache in einer Schar schmutziger Straßenhunde. Sein Blick wanderte zu dem Pizzaboten, der unter seiner platten Nase noch immer breit griente.

„Und wer von euch ist nun Sem?“, wollte er wissen. Jetzt, da er Charlize bei sich wusste, fühlte er sich deutlich sicherer.

„Du stehst vor ihm!“, sagte Charlize.

„Was, der Winzling da?“, rutschte es Ondragon heraus. Innerlich verfluchte er sich jedoch gleich dafür. „Verzeihung, aber bei unserem ersten Treffen sagten Sie, Sie seien nicht Sem.“

„Tja, reingefallen, Mann!“ Sem, der gefürchtete Drogenboss von Fortaleza machte eine Handbewegung, und der Rastafari ließ die Waffe sinken.

„Sem ist der Kopf von CA, dem Comando Azul“, erklärte Charlize, „einem Ableger des Primeiro Comando da Capital aus São Paulo, auch PCC genannt.“

Aha, daher wehte also der Wind, dachte Ondragon. Charlize war in São Paulo aufgewachsen und irgendwie musste sie dort Einlass in die größte kriminelle Vereinigung Brasiliens gefunden haben. Er nahm sich vor, ihr später ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Nur eine klitzekleine Recherche, mit der er vielleicht etwas über ihre Vergangenheit herausbekam. Es war ja nicht so, dass er ihr misstraute, aber sie hatte mit dieser Aktion schlicht und einfach seine Neugier geweckt.

„Machen wir es uns doch bequem“, bot Sem freundlich an. Er schien die vorangegangene Beleidigung überhört zu haben. „Ich glaube, wir haben viel zu besprechen.“

Er hatte recht, es gab Vieles, über das sie reden mussten. Und sie hatten keine Zeit zu verlieren. Die Uhr tickte. Mit jeder Minute konnte Pandora mehr und mehr aus ihrer Reichweite rücken.

Sie setzten sich in eine Sofaecke und einer der Rapper brachte ihnen kühles Bier, das Ondragon dankend annahm. Schnell trank er ein paar Schlucke, stellte die Dose ab und musterte den kleinen Gangsterboss auf ein Neues. Obwohl dieser mit Sicherheit eine Menge Menschenleben auf dem Gewissen hatte, maßte Ondragon es sich nicht an, über ihn zu urteilen. Seine Philosophie war es, dass jeder seinem Handwerk nachgehen konnte, wenn er anderen dabei nicht in die Quere kam. Sprich: ihm! Der Typ war ihm auf seine gespielt coole Rappermanier sogar sympathisch. Zumindest war er schon mal nicht aufbrausend und schien die Gabe zu besitzen, die Situation richtig einzuschätzen und angemessen darauf zu reagieren. Er hatte begriffen, dass er in der Position als König über ein kleines, aber zerbrechliches Reich, ein kühles Köpfchen bewahren musste. Guter Mann!

„Ich schlage vor, wir beginnen mit den Dingen, die ganz oben auf der Dringlichkeitsskala stehen“, sagte Ondragon.

„Und die wären für Sie?“, erkundigte sich Sem.

„Als erstes würde ich gern Daten an jemanden übersenden, dafür bräuchte ich einen Rechner.“ Ondragon warf einen kurzen Blick auf den Schreibtisch, der gegenüber der Sofaecke stand und mit Computern vollgestellt war. Ein krasser Kontrast zum Schmutz und Elend draußen vor der Tür. „Danach können wir unseren Deal besprechen und versuchen, diesen Mistkerl zu schnappen, der uns dazwischengefunkt hat. Está bem?

„Ja, Mann, geht klar. Sie können den Laptop dort drüben benutzen.“ Sem zeigte auf ein nagelneues Macbook. Dann lehnte er sich zurück und redete mit Charlize auf Portugiesisch. Leider zu schnell, als dass Ondragon etwas verstehen konnte. Charlize antwortete kichernd und warf ihm einen belustigten Blick zu. Grimmig guckte Ondragon die beiden an. Machten sie sich lustig über ihn?

„Ich habe Sem nur gesagt, dass du manchmal ein wenig zu deutsch bist.“ Charlize lächelte. „Damit meine ich deine Eigenart, die Dinge immer vorbildlich in Kategorien einzuteilen. Natürlich nicht die Methode, mit der du dann hinterher zur Tat schreitest. Die ist meistens eher cowboymäßig amerikanisch.“

„Aha“, entgegnete Ondragon mäßig begeistert. Er schnappte sich den angebotenen Laptop, aktivierte über das Internet ein spezielles Virenscanner-Programm und wandte sich dann wieder an Charlize. „Ich habe hier die Daten aus dem Labor“, sagte er auf Japanisch, weil er sich so sicher sein konnte, dass Sem und seine Leute nichts verstanden. „Ich werde sie an Truthfinder schicken, der junge Physiker, von dem ich dir erzählt habe. Es ist eine Rückversicherung. Auch Rudee bekommt ein Paket für seinen Tresor. Danach will ich, dass du die Fotos vom Logbuch so überarbeitest, dass ich die Einträge lesen kann. Am besten, du druckst sie aus, zusammen mit der Liste der Energiekonzerne.“

„Kannst du diesem Truthfinder überhaupt vertrauen?“, gab Charlize zu bedenken.

„Ich glaube schon. Wenn Strangelove ihn mir empfohlen hat, wird er verlässlich sein.“

„Okay, ganz wie du meinst.“

Der Virenscanner war durchgelaufen und der Rechner zu 98 Prozent sauber. Ondragon nahm sein Handy und schickte per Bluetooth den von Rudee übersandten Verschlüsselungscode auf den Laptop. Danach lud er die Daten vom Chip auf den Computer, jagte die Codierung darüber und komprimierte die Datei. Er öffnete seinen Mail-Account und schickte das verschlüsselte Paket an Rudee und Truthfinder. Natürlich würde Truthfinder sich die Fotos anschauen und womöglich auch die Logbucheinträge lesen, aber das hatte Ondragon mit einberechnet, denn sein Gefühl sagte ihm, dass er die Hilfe des jungen Physikgenies noch gebrauchen würde.

Nachdem er die Mail verschickt hatte, löschte er alles wieder vom Laptop und verwischte mit einigen wenigen Klicks sämtliche Spuren im Speicher. Nur die Bilder vom Logbuch ließ er auf dem Desktop. Er reichte Charlize das Gerät. „So, nun bist du an der Reihe. Bitte beeil dich. Ich habe nämlich einen neuen Deal mit dem BND und die Zeit drängt. Für die Beschaffung von Pandora verdoppeln sie den Einsatz!“

Charlize blickte ihn skeptisch an, machte sich dann aber an die Arbeit. Ondragon sah kurz dabei zu, wie ihre schlanken Finger über die Tastatur huschten. Als er seinen Blick schließlich wieder auf Sem richtete, erkannte er ein gewisses Misstrauen in dessen Augen. „Sorry, aber das war vertraulich“, entschuldigte er sich.

Mit vermeintlicher Zustimmung winkte der kleine Drogenboss ab.

„Gut, dann kommen wir jetzt zu unserer Abmachung“, erklärte Ondragon. „Sem, Sie und Ihre Leute hatten den Auftrag, mir die Kiste zu liefern. Aus uns bekannten Gründen ist die Sache leider schiefgegangen. Ich sehe ein, dass auch Sie ein Risiko eingegangen sind, um den Auftrag für mich zu erledigen, auch wenn er nicht erfolgreich war. Selbstverständlich werde ich Ihnen Ihre Gage in voller Höhe bezahlen, aber ich habe noch einen anderen Vorschlag zu machen. Wenn Sie mir helfen, den Mistkerl zu schnappen, der uns dazwischengefunkt hat, dann lege ich noch einmal dieselbe Summe obendrauf! Na, was halten Sie davon?“ Das Angebot war nur recht und billig. Ondragon war sich bewusst, dass er auf Sem angewiesen war, denn er selbst hatte nicht den geringsten Hinweis, um wen es sich bei dem Typen handelte. Gewiss, er hatte eine Ahnung, wer zumindest als Auftraggeber dahinterstecken könnte, aber das behielt er vorerst für sich.

Sem strich sich über sein Ziegenbärtchen am Kinn und schürzte die Lippen, als schiene er das Angebot abzuwägen, doch dann geschah etwas Merkwürdiges. Nur für den Bruchteil einer Sekunde huschten Sems schwarze Pupillen zu Charlize hinüber und wieder zurück. Es war nur ein ganz leichtes Flackern, kaum als Regung wahrzunehmen. Aber Ondragon hatte es registriert und es erweckte in ihm den Eindruck, als heische der große Boss von Comando Azul nach der Zustimmung von Seiten der nipo-brasileira. Leicht verblüfft fragte er sich, wer hier König und wer Untertan war, tat aber so, als sei es ihm nicht aufgefallen.

Der kleine Brasilianer streckte einen Arm aus und fuhr damit rappermäßig durch die Luft. „Okey-dokey, Mr. Ondragon, ich bin dabei!“

Na bestens, dachte Ondragon im Stillen, während Charlize neben ihm scheinbar beifällig mit der Zunge schnalzte.

„Bin gleich fertig“, sagte sie dann und tippte mit ihrem Zeigefinger auf die Returntaste. „Die Daten werden an den Drucker geschickt.“

Im Hintergrund begann der Drucker seine Arbeit, und Ondragon sah Charlize dabei zu, wie sie die Dateien in der gleichen Weise vom Rechner löschte, wie er es zuvor getan hatte. Anschließend klappte sie das Gerät zu und stellte es auf den Couchtisch. „So, und nun bin ich ganz Ohr!“

Einen Moment blickte Ondragon sie an. Seine fleißige Assistentin war durchtriebener, als er gedacht hatte. ‚Tochter des Schattens’ – fragte sich nur, wer dieser Schatten war?

„Schön“, sagte er daraufhin und lehnte sich vor. „Endlich können wir zum operativen Teil übergehen. Dann mal raus mit den Infos! Was habt ihr über den Kerl, der jetzt die Kiste hat, herausgefunden?“