29. Kapitel

24. Mai 2011
Fortaleza, Brasilien
9.17 Uhr

„Hallo, Professor Krupa? Hier ist Paul Ondragon. Ich habe Ihre Nummer von Professor Ludewig aus Hamburg. Er sagte, Sie könnten mir vielleicht helfen.“

„Ah, Herr On Drrrrágon! Schönen guten Tag.“

Ondragon hatte einen schweren osteuropäischen Akzent erwartet, aber der Professor beherrschte ein lupenreines Hochdeutsch. Wahrscheinlich war er deutschstämmig oder hatte in Deutschland studiert. Nur seinen Namen sprach er falsch aus, mit Betonung auf dem A und einem übertrieben rollenden R, was den drakonischen Teil des Namens unangenehm hervorhob. Egal, er hatte im Moment besseres zu tun, als dies zu korrigieren. Er erläuterte sein Anliegen und verriet dabei nur so viel, wie er für angemessen hielt. Natürlich verpackte er alles in seine gesellschaftsfähige Unternehmensberater-Hülle, denn Günther Ludewig hatte keine Ahnung von seinem wirklichen Job, dementsprechend auch Professor Krupa nicht. Dem Polen erklärte Ondragon, er würde in einem verzwickten Versicherungsfall nachforschen, der sich Ende des Zweiten Weltkrieges zugetragen hatte.

Krupa schien den Köder zu schlucken. „Das trifft sich gut“, sagte er. „Die geheime Technologie der Nazis ist mein privates Steckenpferd.“

Spitzenmäßig!, dachte Ondragon. Er zückte seinen Notizblock und legte ihn auf die Spüle der versifften Drogenküche.

„In meiner Freizeit habe ich sämtliche unterirdischen Produktionsstätten des Dritten Reiches erforscht“, erklärte Krupa unterdessen. „Besonders das Bergwerk und das KZ Groß-Rosen im schlesischen Ludwigsdorf dürften für Sie interessant sein. Es gilt als angebliches Testgelände für ‚Die Glocke‘. Sie wissen, was das ist?“

„Ein Flugobjekt mit Gravitationsantrieb?“

Krupa lachte leise. „Zumindest wird das behauptet. Ich habe herausgefunden, dass es tatsächlich ein Forschungsprojekt dieses Namens gegeben hat. Das kann ich anhand einiger Depeschen beweisen, die ein gewisser General Hans Kammler an Reichsmarschall Göring geschickt hat. Kammler soll gegen Ende des Krieges mit einem Flugzeug und geheimer Fracht an Bord, von der man behauptet, sie stamme aus dem Glocken-Projekt, geflohen sein. Haben Sie schon mal was von der Junkers 390 gehört, dem sogenannten Geisterflugzeug?“

„Ja, darüber bin ich im Bilde.“

„Gut, dann brauche ich Ihnen ja nicht zu erzählen, dass das Flugzeug seitdem als verschollen gilt und mit ihm die Fracht.“

„Nein, aber was halten Sie jetzt von dem Projekt ‚Die Glocke‘. Was war es?“, drängte Ondragon den Polen.

„Also, es war schon mal kein Flugobjekt mit Antigravitationsantrieb, wenn Sie das meinen. Auch ist das mehreckige Gebilde aus Betonsäulen, welches in der Nähe von Ludwigsdorf noch heute auf einem verfallenen Gelände steht, ganz bestimmt keine Startrampe für ein Ufo gewesen, vielmehr war es das Fundament für einen größeren Bau, der ins Stoppen geraten ist oder auf die Schnelle abgerissen wurde.“

„Vielleicht das Fundament für eine Superwaffe. Eine Art Todesstrahl, wie der von Nikola Tesla?“, wagte es Ondragon zu fragen.

„Was hat denn Nikola Tesla mit Ihrem Versicherungsfall zu tun?“, wollte Krupa wissen. Wurde der Pole jetzt doch misstrauisch?

Schnell suchte Ondragon nach einer Ausrede und sagte dann: „Der Wissenschaftler, für dessen Enkelin ich diesen Fall untersuche, hat angeblich an dem Projekt ‚Die Glocke‘ mitgearbeitet. Und mich würde wirklich interessieren, worum es dabei ging. Das würde mir bei meinen Recherchen sehr helfen.“

„Hm“, entgegnete Krupa abwesend, und Ondragon fürchtete schon, ihn als Informationsquelle verloren zu haben. Doch schließlich fuhr der Pole unbekümmert mit seinen Ausführungen fort. Er machte den Eindruck, als sei er sogar ganz froh darüber, sein Wissen mit jemandem teilen zu können.

„Nun, das Projekt ‚Die Glocke‘ hat tatsächlich mit Nikola Tesla zu tun“, sagte er, „aber nicht mit Ufos, wie die meisten Leute glauben. Per Zufall habe ich etwas in den Forschungsunterlagen eines damaligen deutschen Physikers entdeckt, dessen Fachbereich die Hochfrequenz-Technologie war – ganz nebenbei spricht das auch eher für die Strahlenkanonen-Theorie als für das mysteriöse Flugobjekt. Auf jeden Fall stellte mein Fund ganz überraschend einen Zusammenhang zwischen der ‚Glocke‘ und Tesla her. In den Unterlagen war handschriftlich ein Aktenzeichen vermerkt, das lautete: NT1943NY. Also für mich steht das ganz eindeutig für: Nikola Tesla 1943 New York! Es gibt da ein Gerücht, müssen Sie wissen. Demnach haben zwei deutsche Spione Tesla in New York getötet und sein Notizbuch gestohlen, in dem sich angeblich Pläne für einen geheimen Wunderapparat befunden haben sollen.“

„Was für ein Apparat?“

„Das weiß ich leider nicht, denn ich habe die Akte zu dem Vermerk nie ausfindig machen können. Was wirklich schade ist.“

„Und was stand sonst noch in den Unterlagen des Physikers?“, wollte Ondragon wissen.

„Nichts Besonderes. Das meiste waren technische Abhandlungen und Berechnungen, die jedoch nichts mit den geheimen Forschungen in Ludwigsdorf zu tun hatten. Dafür habe ich darin aber noch etwas anderes entdeckt. Ein Telegramm. Zumindest halte ich es für eins. Es ist ein fast unleserlich gewordenes Stück Papier. Als Empfänger steht oben General Kammler drauf und als Station, von der aus das Telegramm gesendet wurde, New Jersey. Der Absender ist leider nicht zu entziffern, dafür aber der Text. Er ist recht kurz: ‚Haben Pandora – morgen Kontakt mit U-Boot – Treffen in einer Woche in L – Heil Hitler‘.“

Pandora!, dachte Ondragon fassungslos. War das möglich? Konnte es einen solch verrückten Zufall geben? Oder kannte der BND dieses Dokument und hatte die laufende Operation als Parallele auch so genannt? Nachdenklich kratzte er sich am Kopf und fragte: „Also stammt das Telegramm von den Spionen?“

„Davon gehe ich aus“, entgegneten Krupa. „Mit Pandora war sicherlich das Notizbuch von Tesla gemeint, und das L steht für Ludwigsdorf. Ich sage Ihnen, das Buch war die Grundlage für das Glocken-Projekt!“

Daran schien es keine Zweifel zu geben, dachte Ondragon. Krupa hatte in dieser Sache tiefer gegraben, als irgendjemand zuvor. Es gab keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Hastig notierte er sich die Informationen, während der Professor munter weiterplauderte.

„Vor einem Jahr habe ich meine Theorie von der Strahlenkanone in den einschlägigen Internet-Foren publik gemacht. Ich wollte mich mit anderen Mythenjägern darüber beraten, doch besonders militante Anhänger der Nazi-Ufo-Theorie haben mich dafür gnadenlos niedergemacht. Danach habe ich mich aus dem Netz zurückgezogen und nur noch im Privaten weitergeforscht.“

„Passierte das mit den Beschimpfungen zufällig bei alienbuster?“

„Genau! Woher wissen Sie das?“

„Ich habe den Thread gelesen, der war noch nicht gelöscht worden.“ Das war eine glatte Lüge, aber Ondragon wollte den Polen unbedingt bei der Stange halten. Zumindest wusste er jetzt, dass er es gewesen war, den Truthfinder damit gemeint hatte, als er sagte, er müsse sich bei einigen Forumsmitgliedern entschuldigen.

„Eine Frage habe ich noch“, bat er schließlich. „Verraten Sie mir den Namen des Physikers, in dessen Unterlagen Sie das Aktenzeichen gefunden haben?“

„Natürlich. Aber er war eher unbekannt. Er hieß Schwarz. Dr. Albert Schwarz.“

Ondragon wäre beinahe der Stift aus der Hand gefallen. Dr. Schwarz? Das war doch einer der Passagiere der Junkers 390 gewesen. Einer von denen, die in der Wüste zurückgelassen worden waren. „Kennen Sie dann vielleicht auch die Namen Schuch, Kahn und Eschenberg?“

„Ja“, erwiderte Krupa, „die stehen auch auf der Liste.“

„Was für einer Liste?“

„Einem Verzeichnis, in dem sämtliche Wissenschaftler aufgeführt sind, die in der Forschungseinrichtung in Ludwigsdorf untergebracht waren. Ich habe die Liste in einem Archiv in Berlin aufgetan. Aber woher …?“

„Sie haben mir sehr geholfen, Professor Krupa, leider muss ich jetzt zu einem dringenden Termin. Haben Sie vielen Dank.“

„Gern geschehen“, sagte der Pole irritiert. „Aber …“

„Ich melde mich, wenn ich noch etwas zu diesem Fall wissen muss. Auf Wiederhören!“ Schnell legte Ondragon auf, bevor Krupa noch weitere heikle Fragen stellen konnte. Er sah auf seine Notizen. Puh, das war ungemein aufschlussreich gewesen! Die Hälfte seines Blocks war voll mit Krupas äußerst interessanten Informationen. Normalerweise vermied er es, die Hilfe anderer und womöglich noch fremder Menschen in Anspruch zu nehmen. Denn meistens forderten sie immer einen Gefallen zurück, und er hasste es, sich in Abhängigkeiten zu verstricken. Allein in diesem vermaledeiten Fall klebten nun schon so viele Gefälligkeiten an ihm wie die Fäden einer Spinne, in deren Netz er geraten war. Sie alle führten zu Namen, die mahnend durch das leere Kühlfach seines Gewissens hallten.

Charlize! Sem! Ludewig! Strangelove! Truthfinder! Krupa! Ja, sogar Kubicki!

All diese Menschen würden eines Tages irgendetwas für ihre Dienste zurückfordern. Klar, er konnte einige von ihnen mit Geld oder Gegeninformationen abspeisen. Aber was war mit seinen wenigen Freunden? Sie hegten Ansprüche an ihn. Ansprüche, die normal waren in einer freundschaftlichen Beziehung, die er aber niemals in der Lage sein würde zu erfüllen. Echte Freundschaften waren gefährlich. Gefährlich für ihn … und für seine Freunde. Ondragon spürte, wie dieser Gedanke ihn einzuengen drohte, und wehrte sich dagegen. Er musste in Zukunft noch strenger darauf achtgeben, nicht von seinen Maximen abzuweichen. Keinen einzigen Millimeter. Er würde nicht zulassen, dass ihn ein normales, bürgerliches Leben einholte, mit Freunden und regelmäßiger Arbeit.

Regelmäßigkeit, Gleichmäßigkeit, Beständigkeit, das alles war gleichbedeutend mit Stillstand … Tod!

Impulsiv ließ Ondragon den Stift auf die schmutzige Spüle fallen und wischte seine Hände am T-Shirt ab. Er hatte Wichtigeres zu tun, als über sein Leben nachzudenken. Er hatte wertvolle Informationen erhalten und wollte sich nun auf das konzentrieren, was ihm und Charlize bevorstand. Die Wiederbeschaffung von Pandora!

Zwei Stunden später saß er in seiner Beachboy-Verkleidung unter den Palmen an der Praia Meireles und beobachtete den Haupteingang des Grand Marquise Hotels. Begleitet wurde er dabei von einer olfaktorischen Dunstglocke, bestehend aus den Duftnoten ‚Sumo-Ringer unter der Achsel‘ und ‚Bauarbeiter am Presslufthammer bei vierzig Grad‘!

Charlize hatte mittlerweile herausgefunden, in welchem Zimmer ihr Mr. Unbekannt abgestiegen war. Und dank ihres Dekolletees, das sie dem arglosen Jungen an der Rezeption unter die Nase gehalten hatte, kannte sie nun auch den Namen der Person. Chester William Black. Ondragon ging nicht davon aus, dass er echt war, aber oft hatten die Tarnnamen einen Bezug zur richtigen Identität. Viele, die wie er in der Halbwelt agierten, waren eitel und gaben ihrem Alias einen bewussten Bezug, den sie für raffiniert und bombensicher hielten. Denselben Fehler hatte er selbst zu Beginn seiner Tätigkeit gemacht. Sein erster falscher Pass trug den amerikanischen Namen Peter Drake. Der flog natürlich gleich auf und Ondragon musste sich eine neue Identität aufbauen. Heute besaß er komplette Sätze gefälschter Papiere für die Namen Jerry McCoy, Bernd Fuchs und Asbjörn Bengtson. Allesamt unverfänglich und mit dem gewissen Hauch von natürlicher Echtheit. Der einzige Pass, der bei den Zöllnern stets Stirnrunzeln hervorrief, war sein echter mit Paul Eckbert Ondragon.

Chester William Black klang zu trivial und viel zu englisch. Gerade deswegen, so vermutete Ondragon, konnte sich dahinter ein französischer Background verbregen. Im Kopf übersetzte er den Nachnamen in andere Sprachen: Noir, Negro, Schwarz, Nero, Czarny, Cherno. Nun, vielleicht hieß ihr Unbekannter ja eher so.

Es war viel los auf der Straße, Autos und Busse schoben sich in einer einzigen Blechschlange an ihm vorbei, und Touristen aller Herren Länder tummelten sich auf der Strandpromenade. Die Sonne hatte sich hinter einem dünnen Vorhang aus Schleierwolken versteckt und hielt so die Temperaturen auf einem erträglichen Maß. Scheinbar entspannt lauschte Ondragon dem gedämpften Bossa Nova, der aus den Lautsprechern der gut besuchten Strandbar drang, und nahm einen Schluck von dem Bier, das längst warm geworden war und mehr der Tarnung diente als der Erfrischung. Seine bloßen Füße steckten im warmen Sand, gleich neben den Flipflops und dem Rucksack, in dem die Pistole versteckt war.

Er wartete darauf, dass der Unbekannte das Hotel verließ, damit er ihn sich vorknöpfen konnte. Aber er wollte einfach nicht auftauchen. Charlize alias „Cherry Jones“ war in der Lobby postiert und hielt über die Funkausrüstung des BND Kontakt zu ihm.

Ondragon stellte die Bierflasche zurück auf den Tisch und sondierte seine Umgebung, dabei fiel ihm ein Typ auf, der schon zum zweiten Mal an ihm vorbeischlenderte. Er war jung und trug Strandklamotten, dabei wirkte er so auffällig unauffällig, dass Ondragon misstrauisch wurde. Wahrscheinlich war er ein Nachwuchsspitzel des BND, denn auch der Geheimdienst wollte bei dieser Aktion auf dem neuesten Stand bleiben. Der Typ verschwand die Straße runter und Ondragon beobachtete weiter den Hoteleingang.

Nach einer Stunde wechselte er leicht genervt den Standort. Es war wie verhext, Mr. Chester William Black blieb unsichtbar. Auch Charlize seufzte immer öfter ungeduldig in ihr Mikro.

„Lange kann ich hier nicht mehr rumsitzen, sonst wird es zu auffällig“, sagte sie leise.

„Verstanden“, flüsterte Ondragon. „Positions-Roulette in zwanzig Minuten.“

„Okay.“

Dann war es wieder still bis auf die Seufzer.

Ondragon schlenderte die Promenade entlang und blieb bei einem Straßenkünstler stehen, der mit brennenden Fackeln jonglierte. Während er sich die Vorführung anschaute, kontrollierte er immer wieder mit einem unauffälligen Blick, wer das Hotel verließ. Hoffentlich mussten sie nicht bis heute Nacht hier herumlungern, dachte er gereizt. Als der Jongleur jede Fackel einzeln mit seinem Mund löschte, erwachte plötzlich das Earpiece in seinem Ohr zum Leben.

„Da ist er! Der Typ kommt aus dem Fahrstuhl und geht zum Ausgang!“, sagte Charlize. „Er trägt eine dunkle Hose, ein weißes Hemd und den silbernen Armreif am linken Arm. Du wirst ihn sofort erkennen! Das Tattoo kann ich auch sehen. Es befindet sich links an seinem Hals. Unter dem Ohr.“

„Hab ihn!“, antwortete Ondragon und betrachtete den Kerl genauer; jetzt da er ihn zum ersten Mal sah, wirkte er irgendwie unscheinbar. Seine Haut war kaffeebraun, wie die jedes zweiten Brasilianers, der an ihm vorbeiging. Er könnte tatsächlich ein Einheimischer sein. Nur der Armreif war ein komisches Ding. Sehr breit und glänzend poliert. Viel zu auffällig. Warum trug er ihn? War es sein Markenzeichen oder ein Zugehörigkeitsmerkmal? So wie das Tattoo? Ondragon beobachtete, wie der Typ vor dem Hotel stehenblieb und sich umschaute. Dabei schnuppere er in die Luft wie ein Hund, der Witterung aufnahm. Schnell duckte Ondragon sich in die Menschentraube, die sich um den Jongleur gebildet hatte. Als er wieder zum Hoteleingang sah, hatte der Kerl sich in Gang gesetzt und ging gemütlich in Richtung Hafen.

„Ich klemm mich an seine Fersen“, sagte er zu Charlize ins Mikro. „Und du verschaffst dir Zutritt zu seinem Zimmer. Er hat die Kiste nicht dabei, also muss sie noch im Hotel sein.“

„Vielleicht hat er nur das Buch und die Medaille bei sich.“

„Könnte sein, aber dann nehm ich ihm beides ab! Der Bastard ist fällig!“ Entschlossen machte sich Ondragon an die Verfolgung. Der Kerl schlängelte sich tatsächlich seltsam geschmeidig durch die Menschen, genau wie die Favela-Bewohner es beschrieben hatten. Als habe man einen Mann mit einer Eidechse gekreuzt. Unheimlich! Leider lichtete sich die Menschenmenge auf dem Bürgersteig allmählich und es wurde immer schwieriger, Deckung zu finden. Es war Nachmittag und die Leute lagen jetzt vom Lunch vollgefressen am Strand und brieten in der Sonne. Ondragon musste höllisch aufpassen, nicht entdeckt zu werden, denn der Kerl sah sich ständig um. Aus diesem Grund ließ er sich noch weiter zurückfallen, so weit, dass er es fast schon riskierte, ihn zu verlieren. Dabei lauschte er Charlizes Worten in seinem Ohr.

„Gehe hoch“, sagte sie und im Hintergrund erklang das Pling des Fahrstuhls. „Bin im Flur. Niemand da.“

„Sei vorsichtig, Charlize!“

„Ja doch.“ Es knisterte in der Verbindung, vermutlich weil er sich langsam aus dem Übertragungsradius herausbewegte.

„Beeil dich, Charlize! Der Typ ist zwar noch unterwegs, aber ich weiß nicht, was er vorhat.“

„Bin vor der Tür.“ Es machte klack, als sie die Magnetkarte in den Schlitz steckte. „Und drin! Der Masterkey war eine gute Idee.“

„Gut, durchsuch das Zimmer. Wo ist die Kiste?“ Ondragon geriet fast ins Schlingern, als der Typ sich umdrehte und genau in seine Richtung sah. Rasch senkte er seinen Kopf und tat so, als sei er mit seinem Smartphone beschäftigt. Der Strohhut verdeckte dabei sein Gesicht.

Was machst du nur für einen Anfängermist?, dachte er ärgerlich. Auf sein Handy zu gucken oder gar so zu tun, als telefoniere man, war einer der größten Fehler, den man bei einer Beschattung begehen konnte. Für jemanden, der sich mit den einschlägigen Praktiken der Geheimdienste auskannte, kam das einer Enttarnung gleich. Da konnte man als Verfolger auch gleich „Hallo, hier bin ich!“ rufen. Diese Art von Dilettantismus hatte er schon oft auf Aufzeichnungen von Überwachungskameras rund um den Globus beobachtet. Zuletzt bei der Aktion des Mossad in Dubai, als sie dem Hamas-Extremisten Mahmud al-Mabhouh ein äußerst unnatürliches Ableben verschafft hatten. Ondragon riss sich zusammen. Schließlich war er ein Profi!

Mit einem Auge schielte er auf den Typen und wartete ab, doch er schien seinen Fehler nicht bemerkt zu haben. Mr. Black ging einfach weiter und bog in eine Seitenstraße ein. Ondragon beeilte sich hinterherzukommen. Ecken waren immer eine heikle Angelegenheit. Er selbst benutzte sie gern, um bei einem Aufklärungsgang zu überprüfen, ob ihm jemand folgte. Deshalb tat er auch zunächst so, als überquere er die Straße und warf dabei einen zufälligen Blick hinein. Wo war der Mistkerl? Ah, da! Er ging schneller als zuvor und verschwand unvermittelt in einem Hotel in der zweiten Reihe. Plante er dort die Übergabe von Pandora? Wenn ja, dann musste Ondragon das unbedingt verhindern und zugreifen, solange der Typ noch allein war!

„Charlize, was ist los?“, fragte er ins Mikro und lief zu dem Hoteleingang hinüber. „Hast du die Kiste?“

„Ja, Chef!“ Es knisterte und Charlizes Stimme war kurz weg. „… steht im Schrank. Kein sehr gutes Versteck, wenn du mich fragst. Aber ich muss zugeben, dass das Ding schwer zu verstecken ist. Sonst ist nichts im Zimmer zu finden, auch nicht über eine mögliche Identität des Typen. Es sieht aus, als sei er gar nicht hier gewesen. Das Bett ist unberührt.“

„Öffne die Kiste! Ich habe den Kerl fast, wenn die beiden Sachen nicht in der Kiste sind, dann schnappe ich ihn mir. Aber vorher muss ich das wissen.“

„Klar!“

Ondragon betrat das Hotel, in dem Mr. Black verschwunden war, und sah sich vorsichtig um. Die Lobby war ziemlich klein. Spätestens jetzt würde er auffallen!

„Verdammt, Charlie! Was dauert das so lange?“

„Die Kiste ist leer!“

„Und der Safe?“

„Auch leer!“

Fuck!“ Jetzt würde es kompliziert werden, dachte er und schob seine Hand in den Rucksack, wo sie im Verborgenen die Pistole umfasste.

„Aber in der Kiste ist etwas anderes“, sagte Charlize in seinem Ohr.

„Was denn?“

„Kleidung. Verschiedene Sachen. Die hat der Typ wohl getragen.“ Ein längeres Rauschen übertönte ihre Worte. „…ein Zettel in der Hosentasche. Darauf ist eine Telefonnummer. 0033 und dann 1-7776969!“

„Eine Nummer in Paris. Also gut, wenn du meinst, nichts übersehen zu haben, dann klemm dir die Kiste unter den Arm und verschwinde!“

„Ja, Chef. Bis gleich!“ Er hörte seine Assistentin keuchen. Es klang überrascht.

„Charlize?“

Keine Antwort.

„Charlize, melde dich!“

Immer noch Stille am anderen Ende. War die Verbindung jetzt komplett zusammengebrochen? Eben war doch noch alles in Ordnung gewesen. Hektisch sondierte Ondragon die Lobby, während draußen auf der Straße lautstark ein Moped vorbeiknatterte. In dem kleinen Raum befand sich ein Tresen, eine fragend blickende Rezeptionistin, Stühle und der Gang zu den Fahrstühlen, aber kein Mr. Black. Scheiße!

Er ging zu der Dame hinter dem Tresen und fragte sie, ob sie den Gast gesehen hätte, der kurz zuvor hereingekommen war. Sie schüttelte den Kopf und mit einem Mal überkam Ondragon das ungute Gefühl, dass hier etwas ganz fürchterlich schiefgegangen war. Wortlos machte er auf dem Absatz kehrt und rannte zurück zum Grand Marquise.