45. Kapitel
01. Juni 2011
Westsahara
8.03
Uhr
Das Satellitentelefon klingelte, als sie sich kurz vor Dakhla befanden.
„Zielperson geht an Land, südlich der Stadt, aber auf der vom Meer abgewandten Seite der Halbinsel, auf der Dakhla liegt. Dort ist die Küste flacher. Er legt an der Stelle an, wo der Damm zum Hafenterminal hinüberführt. Scheint soweit allein an Bord zu sein. Warten Sie. Er lässt das Boot zurück und geht zu einem Gebäude, eine Lagerhalle. Jetzt ist er drin. Mist! Jetzt können wir ihn nicht mehr sehen.“
„Vielleicht hat er dort einen Wagen stehen“, sagte Ondragon.
„Möglich. Da ist er wieder! Ein Fahrzeug verlässt die Halle. Ein sandfarbener Landrover, altes Modell, kein Nummernschild. Er fährt auf der Route Du Port in Richtung Stadt. Steiner, vergrößern Sie den Ausschnitt!“ Kubicki verstummte und Ondragon lauschte gespannt in die Stille. Er hörte eine Computertastatur und murmelnde Stimmen. Derweil setzte Achille zum Landeanflug auf den Flughafen von Dakhla an, der sich im Norden der Stadt befand, mehrere Kilometer vom aktuellen Standort von Monsieur Noire entfernt.
„Noch fünf Minuten bis zum Touchdown“, sagte Ondragon in die Stille am anderen Ende.
„Okay. Zielperson ist jetzt im Stadtbereich abgekommen. Fährt weiter nach Norden.“
„Wir sind gelandet“, gab Ondragon an, „und fahren zur Parkposition. Ich hoffe, wir kommen ohne große Verzögerung durch die Kontrollen!“
„Zielperson biegt nach rechts ab auf den Boulevard Mohammed Bahnini.“
„Wir sind da. Steigen jetzt aus.“ Ondragon sprang aus dem Cockpit und sah, dass ein Jeep mit Soldaten auf sie zugefahren kam, genau wie in Laâyoune. Er gab Achille zu verstehen, dass er das regeln solle und drückte sich wieder das Telefon ans Ohr.
„Zielperson biegt ab“, hörte er Kubicki sagen, „diesmal nach links. Er fährt weiter nach Norden in Ihre Richtung. Vielleicht will er zum Flughafen, weil dort eine Maschine auf ihn wartet.“
„Wir checken das.“ Ondragon beobachtete, wie Achille einem der Soldaten seinen gefälschten Interpol-Ausweis zeigte. Marokko war an Interpol angeschlossen und würde ihnen daher freies Geleit geben müssen. Der BND konnte froh sein, ihn für diesen Job engagiert zu haben, dachte Ondragon, denn er war für so etwas bestens vorbereitet. Wer wusste schon, wie lange der BND für diese Aktionen sonst gebraucht hätte?
Der Soldat studierte den Ausweis. Länger als üblich. Dann gab er ihn zurück und stellte Achille ein paar Fragen, die Ondragon nicht verstehen konnte, da er zu weit abseits stand. Aber der Franzose beantwortete sie mit wichtiger Gestik. Der Soldat schien eine Weile darüber nachzudenken und nickte schließlich. Er gab Achille zu verstehen, dass sie ihm folgen sollten.
„Zielperson biegt erneut ab“, sagte Kubicki am Telefon, „nach rechts in die Avenue Tinighir.“
Ondragon ließ seinen Blick über das Rollfeld und die Parkpositionen vor dem kleinen Terminal schweifen. Die Luft über der heißen Sandfläche flimmerte und zauberte eine Fata Morgana genau dorthin, wo eigentlich die asphaltierte Landebahn war, aber nirgendwo war ein kleines Privatflugzeug zu erkennen, das auf jemanden wartete. Nicht mal ein großer Passagierjet stand an diesem gottverlassenen Ort bereit. Nur ein paar Geier kreisten über dem Gelände.
„Am Flughafen ist nichts zu erkennen“, gab er an Kubicki durch.
Achille kam zurück und rieb sich die Nase. „Sie haben es geschluckt“, sagte er. „Wir sollen zu ihnen in den Jeep steigen und sie bringen uns raus.“
„Zielperson hält an!“
Ondragon gab Achille zu verstehen, dass er nicht weitersprechen sollte und horchte auf das, was Kubicki ihm mitteilte.
„Zielperson hat Wagen verlassen. Er geht in ein Gebäude. Es steht an der Ecke Boulevard Bahina Aini und Avenue Tinighir. Gegenüber ist ein Waisenhaus.“
„Geben Sie mir die Koordinaten!“ Während Ondragon sprach, schloss er die Cessna sorgfältig ab. Er würde Achille bei der Jagd auf Monsieur Noire brauchen und das Flugzeug auf gut Glück zurücklassen müssen. Hoffentlich vergriff sich in ihrer Abwesenheit niemand daran. Gemeinsam ging er mit dem Franzosen zu dem Jeep mit den Soldaten hinüber, nickte ihnen zur Begrüßung zu und stieg ein. Sie fuhren los und Ondragon spürte, wie ihm der Fahrwind angenehm über die verschwitzte Haut strich. Er notierte sich die von Kubicki durchgegebenen Koordinaten und gab sie in das GPS-Gerät ein. Einer der Soldaten beobachtete ihn dabei neugierig, doch Ondragon ignorierte ihn.
„Zielperson noch immer im Gebäude“, meldete Kubicki.
Ondragon aktivierte die Standortbestimmung des GPS-Gerätes und sah sich die digitale Karte an. „Das ist keine drei Kilometer von uns entfernt“, antwortete er. „Wir sind unterwegs.“
„Verstanden! Wir halten Sie auf dem Laufenden.“
Die Soldaten setzten sie an einem kleinen Seitenterminal für Privatpassagiere ab, wo sie die Kontrollen unbehelligt passieren durften. Vor dem Flughafengebäude erwartete sie die gleiche Leere wie hinten auf dem Rollfeld. Kein Taxi weit und breit, keine Menschenseele zu sehen, und das mitten am Tag! Ondragon seufzte. Nun, dann würden sie eben Schusters Rappen bemühen müssen.
Eiligen Schrittes und noch immer mit dem Telefon am Ohr lief er los. Achille folgte ihm. Die Sonne brannte ihnen auf den Scheitel und dörrte ihnen schon nach wenigen Minuten die Kehle aus. Feiner Staub wehte durch die Straßen und legte sich wie ein klebriger Film auf die Zunge. Schnell war Ondragon außer Atem, obwohl er eigentlich gut in Form war. Er erinnerte sich an die Erste Regel für die Wüste von seinem Freund und ehemaligen Mentor Roderick DeForce: „Denk daran, in der Wüste ist alles nur noch halb so viel wert! Selbst ein Beutel Wasser, denn davon braucht man doppelt so viel.“
Da sich Kubicki am anderen Ende der Leitung in Schweigen hüllte, ging Ondragon davon aus, dass Monsieur Noire sich noch immer in dem besagten Haus aufhielt. Im Laufschritt folgte er der Wegbeschreibung, die ihm das GPS vorgab. Als er den angegebenen Straßenzug mit dem Waisenhaus erreichte und das Gebäude entdeckte, vor dem der alte Landrover parkte, machte er Halt. An die Hauswand gepresst gab er Achille zu verstehen, dass er sich im Hintergrund halten sollte.
„Habe Gebäude erreicht“, gab er an Kubicki durch.
„Gut. Zielperson ist noch immer drinnen. Zumindest hat niemand das Haus verlassen. Das beschränkt sich allerdings auf alle sichtbaren Ausgänge. Keine Ahnung, ob es im Inneren noch verborgene Wege gibt.“
„Ich schau mich mal um.“ Ondragon musterte das Haus. Es war ein mehrstöckiger Betonklotz mit offenem Flachdach und der für diese Region typischen Optik aus gammeligem Putz und Wäsche-Girlanden auf den Balkonen. Offensichtlich war es ein Wohnkomplex für mehrere Familien. Der Verkehr auf der Straße war mäßig und die wenigen Passanten, die in dieser Gegend unterwegs waren, kümmerten sich nicht um sie. Das Haus bildete das Ende eines ganzen Blocks und grenzte lediglich mit seiner Nordseite direkt an das nächste Gebäude. Falls es einen versteckten Zugang gab, dann dort. Einen unterirdischen Gang schloss Ondragon wegen der Beschaffenheit des Bodens jedenfalls schon mal aus. Denn wie sagte es schon Schweinchen Schlau: Bau niemals dein Haus auf Sand. Oder war das Jesus gewesen? Egal.
Er legte eine Hand auf das Mikro des Telefons, damit Kubicki nicht mithören konnte. „Es gibt vermutlich zwei Eingänge“, sagte er zu Achille. „Den einen sehen wir hier vor uns und der andere befindet sich mit Sicherheit auf der anderen Seite in der Gasse, die hinter dem Haus entlangführt. Da wir nicht wissen, in welcher Wohneinheit sich der Kerl aufhält, müssen wir uns von unten nach oben durcharbeiten. Du wirst den Interpol-Ausweis benutzen, um dir Einlass zu verschaffen. Ich will nicht, dass Monsieur uns durch die Lappen geht. Klar soweit?“
„Klar!“
Ondragon nahm die Hand vom Mikro und unterrichtete Kubicki von seinem Vorhaben, ohne dabei Details zu nennen. Er wies den BND-Mann an, sämtliche Eingänge und das Dach über Satellit im Auge zu behalten und sich zu melden, falls der Unbekannte fliehen sollte. Kubicki stimmte zu und blieb auf Standby.
Ondragon befestigte das Telefon mit Klett an seinem Hemd und zückte seine Waffe. Zusammen mit Achille lief er zum Gebäude hinüber und sie betraten es getrennt voneinander, einer von der Vorder- und einer von der Rückseite. Wie erwartet, liefen beide Eingangsbereiche in einem Treppenhaus zusammen. Solche Häuser waren zweckmäßig und meistens mit so wenig Aufwand wie möglich gebaut. Sie schlichen in die erste Etage zu den Wohnungen. Es gab nur vier Türen. Ondragon hoffte, dass das in den anderen beiden Etagen auch so war. So brauchten sie nur zwölf Einheiten zu überprüfen. Zwölf Einheiten, in denen sich von Gaddafi bis Popeye alles verstecken konnte. Und natürlich ihr großer Unbekannter.
Ondragon hämmerte gegen die erste Tür.
„Police! Ouvrir la porte!“, rief Achille und machte dabei so viel Lärm wie möglich. Vielleicht schreckten sie Monsieur Noire ja auf und er tat ihnen den Gefallen und verließ vorzeitig sein Versteck.
Die Tür öffnete sich zaghaft und eine verschleierte Frau blickte hinaus.
„Oui?“, fragte sie. „Mon mari n‘est pas là. Qu‘est-ce qu‘il y a?“
Achille zeigte seinen Ausweis und schob sich mit den Worten „avec votre permission“ an ihr vorbei in die Wohnung. Wortlos durchsuchte der Franzose die drei Zimmer, in der zwei kleine Kinder hockten. Die Frau ließ alles mit ängstlichem Blick geschehen, während Ondragon in der Tür stehengeblieben war, um den Hausflur zu beobachten.
„Sauber!“, rief Achille und kam schließlich wieder zum Vorschein. Er verabschiedete sich galant und trat auf den Hausflur. Sofort schloss sich die Tür hinter ihm und sie gingen zur nächsten. Überall bot sich ihnen ein ähnliches Bild. Verschreckte Frauen mit Kindern oder alten Leuten. Meist zu viele Menschen auf zu wenig Raum, aber kein Monsieur Noire.
Mittlerweile herrschte eine seltsame Stille in dem Haus, so als verharrten sämtliche Bewohner in einer Schreckstarre. Als sie den obersten Flur erreichten, blickten ihnen bereits aus zwei Türen fragende Gesichter entgegen. Achille durchkämmte die Wohnungen und Ondragon hielt Wache Er hatte sich an der Treppe zum Dach postiert, um den Fluchtweg zu versperren. Ein plötzliches Kribbeln im Nacken warnte ihn und instinktiv warf er sich zur Seite. Im selben Moment ertönte das typische Ploppen einer Waffe mit Schalldämpfer. Heulend schlugen die Kugeln in die Wand gegenüber der Treppe ein und Putz prasselte zu Boden. Danach hörte Ondragon eine Tür klappen und grelles Licht fiel die Treppe hinab.
„Zielperson flieht übers Dach!“, hörte er Kubicki durch das Telefon an seinem Hemd rufen.
Ondragon rappelte sich auf und stürmte die Stufen zum Dach hinauf. Vorsichtig öffnete er die Tür. Erneut hörte er Schüsse. Plopp, plopp. Zwei Löcher platzten in der Metalltür über seinem Kopf auf.
„Verdammt!“, zischte er ins Telefon. „Wo ist er?“
„Er ist auf dem Nachbardach und läuft Richtung Norden. Sie können jetzt hinterher“, sagte Kubicki.
Mit vorgehaltener Pistole trat Ondragon aufs Dach und sah sich suchend um. Nachdem er keine Bewegungen in seiner unmittelbaren Umgebung wahrnehmen konnte, lief er geduckt zu der niedrigen Mauer, die das Dach des Nachbarhauses abgrenzte, und wagte einen Blick hinüber. Er sah den Mann über die Dächer rennen.
Mittlerweile war Achille zu ihm aufgerückt und Ondragon gab ihm zu verstehen, er solle schnell runterlaufen und versuchen, den Kerl auf der Straße abzufangen, dann hechtete er über die Mauer und nahm die Verfolgung des Unbekannten auf, der bereits an die fünfzig Meter Vorsprung hatte und geschmeidig über die Hindernisse sprang.
Ondragon gab sein Bestes, aber der Kerl war gut. Er machte wahrscheinlich Parcouring oder so was. Trotzallem boten sich ihm nur wenige Chancen, vom Dach zu fliehen, denn dieser Block bestand aus höchstens sechs Gebäuden und war von den anderen Häusern isoliert, er würde also irgendwann von einem Abgrund gestoppt werden. Dann blieben ihm nur noch die Treppenabgänge oder er musste seine Flügel ausbreiten.
Kaum hatte Ondragon das gedacht, verschwand der Kerl von der Bildfläche.
„Zielperson im vierten Gebäude!“, sagte Kubicki.
Wachsam lief Ondragon zu der Stelle und sah in ein schwarzes Loch hinab; eine offene Treppe, die nach unten führte. Er hatte jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder er folgte dem Kerl und riskierte es, dass der ihm dort unten irgendwo auflauerte und auf ihn schoss, oder … ach, scheiß auf die zweite Möglichkeit! Ondragon zog den Kopf zwischen die Schultern und stürmte mit der Waffe im Anschlag die Treppe hinunter. Im ersten Flur verharrte er für ein paar Sekunden, damit seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Von unten her vernahm er hastige Schritte im Treppenhaus. Monsieur Noire bewegte sich äußerst unbedacht und machte Krach für zehn! Schnell hängte sich Ondragon an seine Beute und nahm mehrere Stufen auf einmal. Zwischendurch hielt er immer wieder kurz inne und horchte mit angehaltenem Atem ins Treppenhaus. Er hörte, wie unten eine Tür aufgerissen wurde, nahm die letzten beiden Treppenabsätze und hielt nach Luft pumpend vor einer Ecke an, um sich zu vergewissern, dass sein Gegner dort nicht auf ihn wartete. Doch der kurze Korridor zur Haustür war leer. Ohne zu zögern sprang Ondragon zur Tür hinaus und blickte sich auf der Straße um. Sie war ebenfalls vollkommen leer. In der Ferne erschien Achille, er war wohl einmal um den Block gerannt und kam nun auf ihn zu.
„Wo ist er?“, fragte Ondragon Kubicki am Telefon.
„Keine Ahnung“, antwortete dieser. „Wir haben niemanden das Haus verlassen sehen!“.
„Scheiße!“ Ondragon gab Achille das Zeichen umzudrehen und lief selbst zurück in das Gebäude. So leise wie möglich betrat er das Treppenhaus und wartete darauf, dass ein Geräusch verriet, wo der Kerl sich versteckt hielt. Monsieur Noire spielte Katz und Maus mit ihnen und lief kreuz und quer durch den Häuserblock. Doch dieses Spiel beherrsche Ondragon mindestens genauso gut.
Wie ein Jagdhund, der eine Fährte aufnahm, pirschte er durch den untersten Flur und schnüffelte in sämtliche Ecken und Nischen. Er nahm nicht an, dass der Kerl nach oben geflohen war. Das Dach hatte er schon einmal benutzt und festgestellt, dass es nicht wirklich eine Flucht-Option darstellte. Wenn er sich in diesem Gebäude aufhielt, dann hier unten in einer der vier Wohnungen.
Ondragon schlich zu der ersten Tür, legte behutsam sein Ohr an das Holz und versuchte, mit den Fingerspitzen vorhandene Schwingungen zu ertasten. Doch alles, was sein sechster Sinn hinter dieser Tür wahrnahm, war geschäftiger Alltag. Töpfeklappern in der Küche und Kindergequengel im Wohnzimmer. Er ging zur nächsten Tür. Hier herrschte die absolute Stille einer verlassenen Wohnung. Niemand zu Hause. Hinter der dritten lief im Fernsehen eine arabische Doku-Soap und hinter der letzten sprach laut eine Frau. Sie lachte, wahrscheinlich telefonierte sie mit einer Freundin. Ondragon runzelte die Stirn und kehrte schließlich zurück zu der Tür mit der Stille. Erneut legte er ein Ohr daran. Die Stille klang durchdringend, beinahe erstickt und aufgeladen mit Energie. Unter seinen Fingerspitzen kribbelte es. Er ließ von der Tür ab, hob seine Waffe und trat einen Schritt zurück.
Bin schon da!, dachte er mit einiger Schadenfreude und feuerte auf die Tür. Das Schloss zerbarst und mit einem einzigen Tritt war die Tür offen. In der besten Manier einer Razzia-Spezialeinheit lief Ondragon durch die Wohnung und kontrollierte jeden Raum. Im Wohnzimmer fand er eine auf dem Boden kauernde Frau, die vor Angst zitterte. Aus den Augenwinkeln gewahrte er eine Bewegung auf dem Balkon und schoss ohne zu Zögern durchs Fenster. Glas splitterte und ein Schrei ertönte. Ein Schatten fiel in die Tiefe. Ondragon eilte auf den Balkon und schaute über die Brüstung. Etwa drei Meter weiter unten lag der Kerl mit dem Gesicht nach unten auf dem Asphalt und stöhnte. Blut lief aus einer Wunde am Rücken. Seine Waffe hatte er verloren, sie lag einige Schritte von ihm entfernt auf der Straße. Achille stand neben ihm und hielt seine Pistole auf ihn gerichtet. Schon blöd, wenn man Katz und Maus mit zwei Katzen spielte.
Mit einem triumphierenden Grinsen stieß sich Ondragon vom Balkongeländer ab und rannte hinunter auf die Straße. Dort beugte er sich über den Kerl und drehte ihn um. Das anfängliche Hochgefühl blieb ihm jäh im Halse stecken, als er erkannte, wen sie da gestellt hatten. Es war nicht Monsieur Noire, sondern bloß ein junger Mann, der ihm verdammt ähnlich sah!
Wütend erhob sich Ondragon und trat dem Kerl in den verwundeten Rücken. Ohne sich um die Schmerzensschreie des Mannes zu kümmern, riss er sich anschließend das Satellitentelefon von der Klettverbindung und wollte mit Kubicki sprechen, doch die Verbindung war abgebrochen. Fluchend wählte er die Nummer.
„Was ist? Ist das nicht der Kerl?“, fragte Achille verständnislos, doch Ondragon hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen.
Als Kubicki abhob, fand seine Wut endlich ein Ventil. „Sie Idiot! Sie haben die ganze Zeit den Falschen verfolgt! Verdammte Scheiße! Das hier ist nur ein Lockvogel!“ Es war Ondragon egal, was der BND-Agent von ihm dachte. Er hatte keine Lust mehr, mit diesem Dilettanten zusammenzuarbeiten!
„Ein Lockvogel? Was?“ Kubicki klang überrascht. „Aber …“
„Was ist mit dem Boot? Ist unser Mann noch dort?“
„Nein … da ist niemand“, stammelte Kubicki. „Wir haben es die ganze Zeit über beobachtet. Die Zielperson war immer allein, sie ist allein von Bord des Tankers gegangen und auch allein an Land.“
„Dann ist das Ganze ein Ablenkungsmanöver und er ist entweder versteckt mit im Boot gewesen und vorher an Land geschwommen, oder er hat hier im Gebäude mit dem Lockvogel getauscht.“
„Das Zweite kann sein, für das Erste gibt es keinerlei Hinweise. Wir haben alles lückenlos überwacht. Er kann auch nicht geschwommen sein. Das wäre glatter Selbstmord. Die Küste ist über dreißig Kilometer eine durchgehende Steilküste mit gefährlicher Strömung. Außerdem haben wir niemanden gesichtet. Auch kein Fischerboot, dass ihn aufgenommen haben könnte.“
„Dann muss er noch hier im Haus sein.“ Ondragon horchte auf, weil sich das Geräusch einer Sirene näherte. Jemand musste die Polizei über die Schüsse im Häuserblock alarmiert haben. „Verflixt! Wir müssen hier verschwinden, die Bullen rücken an. Behalten Sie das Gebäude über Satellit im Auge, Kubicki. Ich will über jede Aktivität unterrichtet werden.“ Er beendete das Gespräch und steckte das Telefon weg. Das Sirenengeheul wurde lauter.
„Was machen wir mit ihm?“, fragte Achille und stieß mit der Fußspitze gegen den Verletzten.
Ondragon bückte sich und kramte in der Hosentasche des Typen, der sich vor Schmerzen wand. Als er sie wieder herauszog, hielt er die Autoschlüssel des Landrovers in der Hand. „Wir werden ihn mitnehmen und ein wenig befragen!“
Ein Lächeln huschte über Achilles Lippen. „Meinst du eine arabische Befragung, Chef?“
Ondragon nickte grimmig.
„Fein“, entgegnete der Franzose, packte den Mann grob unter den Achseln und schleifte ihn zum Fahrzeug.