21. Kapitel

02. August 1899
Colorado Springs
am Abend

Die Sonne senkte sich über dem Kamm der Rocky Mountains und tauchte die Ebene in orangefarbenes Licht. Alles stand bereit, die Apparaturen waren justiert und die Assistenten voller Tatendrang. In ihre Gummischürzen gewandet warteten sie darauf, dass Dr. Tesla aus seiner Kammer kam und das Startsignal für das Experiment gab. Philemon hockte draußen in der Prärie auf einem Holzschemel, blickte auf das Gebäude des Laboratoriums und genoss die kühler gewordene Luft. Seine Aufgabe war es gewesen, in einer Entfernung von hundert Metern mehrere Reihen von Glühbirnen in die Erde zu stecken. Zweihundert Stück, um genau zu sein. Jetzt wartete er auf das große Wunder, das Dr. Tesla ihnen angekündigt hatte, an dessen Eintreten er allerdings zweifelte. Er wusste, dass der Doktor in der Lage war, Energie auf kurze Distanz drahtlos zu übertragen, das hatte Czito kurz zuvor im Labor demonstriert, um zu testen, ob die Oszillatoren funktionstüchtig waren. Philemon hatte gestaunt, als die Glühbirne in Czitos Hand wie aus dem Nichts zu leuchten begonnen hatte, und der grinsende Serbe damit in einem gewissen Umkreis beliebig umherwandern konnte. Aber das Gleiche jetzt mit der Erde als Leiter über hundert Meter hinweg zu versuchen … war völlig verrückt, egal, was der Doktor behauptete.

Die Sonne versank hinter den gezackten Bergrücken, und violette Schatten legten sich über das weite Land. Philemon wollte einen Blick auf seine Taschenuhr werfen, stellte aber fest, dass er sie im Hotel gelassen hatte. Bei den Versuchen durfte man schließlich nichts Metallisches bei sich tragen. Und so wartete er weiter, bis der letzte violette Streif am Firmament sich ganz zu Schwarz gewandelt hatte und es stockdunkel wurde in der Prärie. Grillen zirpten und in der Ferne rief ein Kojote. In diese verhaltene Symphonie der Natur brach so unvermittelt ein lautes Knistern, dass Philemon zusammenzuckte. Er wollte sich zum Laboratorium umdrehen, da begannen im selben Augenblick die Glühbirnen zu seinen Füßen zu leuchten. Alle zweihundert Stück!

Vor Schreck und Begeisterung sprang er vom Hocker auf und lief durch die Reihen der Lampen, die wie an einer Girlande aufgereiht aus dem trockenen Präriegras ragten. Einige von ihnen flackerten leicht.

„Es funktioniert!“, schrie Philemon und hob beide Arme. „Es funktioniert tatsächlich! Es ist ein Wunder!“ Doch genauso plötzlich, wie die Lichter angegangen waren, erloschen sie wieder, und Philemon stand im Dunkeln. Immer noch zirpten die Grillen und das Yip-yip der Kojoten schallte zu ihm herüber. Alles wirkte so, als sei nichts geschehen. Philemon ließ die Arme sinken und versuchte, in der Dunkelheit zu erkennen, was im Labor vor sich ging, doch dort herrschte absolute Stille. Dann wurde das Licht im Gebäude angeschaltet und Löwenstein und Tesla lugten zur Tür hinaus.

„Haben Sie das gesehen?“, rief Philemon ihnen zu und zeigte auf die Birnen.

„Ja, fabelhaft, nicht wahr?“, rief Tesla zurück. „Warten Sie, wir wiederholen den Versuch gleich mit einer höheren Spannung, dann dürften die Lampen noch heller strahlen.“

Und wirklich. Als die Glühbirnen erneut zu leuchten begannen, war Philemon geblendet von ihrer Helligkeit und musste seine Augen mit einer Hand abschirmen. Er hörte, wie einige der Birnen mit einem leisen Klirren durchbrannten, die anderen aber strahlten mit unverminderter Kraft weiter. Verzaubert von dem Anblick ging Philemon mit ausgebreiteten Armen durch die Reihen der Birnen. Sie machten die Nacht zum Tage und lockten etliche Nachtfalter an. Wie betrunken tanzten die Motten über dem magischen Licht. Philemon legte den Kopf in den Nacken und blickte in den Himmel hinauf. Die ersten Sterne strahlten zurück, als wollten sie die Lichter zu seinen Füßen spiegeln. Er nahm einen tiefen Atemzug und schloss die Augen. Durch seine Schuhsohlen meinte er trotz des Gummis die Energie spüren zu können, wie sie in einem ruhigen aber kraftvollen Takt durch die Erde pulsierte. Ja, er war am richtigen Ort! Und ja, er war bereit, an Dinge zu glauben, die er zuvor für unmöglich gehalten hatte. Weil er hier war. Nikola Tesla. Ein Gott in menschlicher Gestalt. Prometheus, der den Menschen das Feuer brachte!

Als er die Augen öffnete, war der goldene Glanz der Lichter erloschen und die Prärie lag in völliger Finsternis. Auch das statische Knistern der Apparaturen im Labor war verstummt. Philemon wandte sich um. Löwenstein und Tesla waren verschwunden. Was war los? War das Experiment beendet? Erfüllt von Glückseligkeit ging er auf das Gebäude zu. Er fühlte sich erfrischt, als seien seine Sinne durch die Energie, die über die Erde in seine Glieder geflossen war, geschärft worden. Deutlich hörte Philemon das Gras unter seinen Schuhen rascheln und das Knacken des Holzgebäudes, dessen Wände sich langsam von der Hitze des Tages abkühlten. Beinahe schwebend bewegte er sich auf die schwach erleuchtete Türöffnung zu. In der Ferne glitzerten die wenigen Straßenlaternen von Colorado Springs, die auch ein Vermächtnis Nikola Teslas waren. Undankbares Volk, dachte Philemon. Schließlich war es der Doktor gewesen, der sie aus der finsteren Steinzeit in das erleuchtete Jahrhundert gebracht hatte.

Ein erneutes Knistern drang aus dem Innern des Labors und das Licht in der Tür erlosch. He, was sollte das, ihn hier im Dunklen stehen zu lassen? Philemon ging schneller.

Aber es war gar nicht mehr dunkel, stellte er kurz darauf fest und sah sich verwundert um. Ein bläulich leuchtender Nebel umfloss die Konturen des Laborgebäudes und schien seinen Ursprung bei der Antenne auf dem Dach zu haben. Wie brennender Alkohol floss das Leuchten über die Holzwände ins Gras, wo es sich weiter ausbreitete und schon bald Philemons Füße erreichte. Ängstlich wich er vor der gespenstischen Erscheinung zurück. Feuer konnte es nicht sein, denn es roch nicht verbrannt. Aber was war es dann?

Er blickte zum Gebäude. Das laute Knistern im Inneren war zu einem rhythmischen Knallen geworden. Es hörte sich an, als fände dort ein Tanz von elektrischen Kobolden statt.

Peng! Peng! Peng!

Immer wieder entluden sich kleine Blitze, und in der Türöffnung flackerte es grell auf. Philemon warf einen Blick über die Schulter. Die Glühbirnen auf dem Prärieboden leuchteten nur ganz schwach. Was zum Teufel machten die anderen dort im Labor? Und warum hatten sie ihm nicht Bescheid gesagt?

Plötzlich sah Philemon hunderte von Lichtpunkten aus dem grünlich schimmernden Gras aufsteigen. Wie zu groß geratene Glühwürmchen flogen sie vor ihm in den kühlen Nachthimmel auf. Waren das Irrlichter?

Vorsichtig streckte Philemon eine Hand nach dem märchenhaften Spuk aus. Aber als seine Finger einen der Lichtpunkte streiften, gab es eine winzige Entladung und das Leuchten erlosch. Etwas Kleines schwebte zu Boden. Philemon bückte sich und hob es auf. Es war ein toter Nachtfalter mit starren Flügeln. Neugierig berührte er den nächsten leuchtenden Punkt vor seiner Nase. Er erlosch ebenfalls und fiel zu Boden. Wieder war es ein Falter. Konnte es sein, dass das, was er für Irrlichter hielt, nur statisch aufgeladene Motten waren, durch die unsichtbare Kraft der elektromagnetischen Wellen dazu gezwungen, hilflos im Kreise zu schwirren?

Philemon ließ von den unglücklichen Tierchen ab und setzte seinen Weg zum Gebäude fort. Er wollte wissen, was dort drinnen getrieben wurde. Als er die Tür erreichte, verstummte das Knallen und er blickte in absolute Finsternis.

„Hallo, dort drinnen? Alles in Ordnung?“

Er hörte ein Keuchen und dann antwortete Löwenstein. „Ja, alles in Ordnung. Wir hatten nur ein paar Probleme mit der mittleren Spule. Sie reagierte nicht so, wie wir es uns gewünscht haben. Was haben Sie draußen gesehen, Phil? Waren die Lampen noch an?“

„Ja, zuerst, dann flackerten sie nur noch. Aber dafür habe ich etwas anderes gesehen. Ein elektrisches Leuchten wie von Elmsfeuer. Das ganze Gebäude war darin eingehüllt.“ Philemon betrat das noch immer dunkle Labor. Plötzlich ertönte ein leises Summen und die Lampen an der Decke gingen an. Philemon erblickte Dr. Tesla und die beiden anderen Männer im Inneren des großen Spulenzauns. Sie schauten mit nachdenklichen Mienen auf den mittelgroßen Transformator auf dem Holzgestell. Ein stechend metallischer Geruch lag in der Luft und bläulicher Qualm stieg von dem Kupferring an seiner Spitze auf.

„Ist er durchgebrannt?“, fragte Philemon und kletterte über die Stiege ins Innere der Umzäunung.

„Ja, die Spannung war wohl doch zu hoch“, entgegnete Löwenstein, „es hat einen Funkenüberschlag direkt an den Windungen gegeben und die Drähte sind durchgeschmolzen. Wir müssen die Spule reparieren.“ Er schien enttäuscht zu sein und fuhr sich über die verschwitzte Stirn.

„Ich werde mich sofort darum kümmern“, brummte Czito missmutig.

„Aber, aber, meine Herren. Warum so niedergeschlagen?“, warf Tesla beinahe vergnügt ein. Er trat neben seine Assistenten und lächelte glückselig. „Wir haben doch etwas zu feiern. Unser Experiment ist geglückt. Auf ganzer Linie! Wir haben Energie über eine Entfernung von hundert Metern durch die Erde gesandt und damit zweihundert Glühbirnen zum Leuchten gebracht. Welch großartiger Erfolg, aufgrund dessen ich Ihnen versichern kann, dass uns noch viel Größeres gelingen wird. Wir werden bald in der Lage sein, tausende von Glühbirnen auf dem Gipfel des Pikes Peak zu illuminieren! Sie werden sehen, es wird ein fantastisches Schauspiel, das auch den letzten Zweifler davon überzeugen wird, wie wertvoll unsere Arbeit hier ist.“

Philemon blickte der Reihe nach in die Gesichter. Tesla wirkte euphorisch, Czito und Löwestein dagegen deprimiert. Warum nahmen sie so wenig Anteil am Erfolg des Doktors? Hatten sie etwas anderes erwartet?

„So“, durchbrach Tesla das Schweigen, „da ich heute Nacht keine Verwendung mehr für Sie habe, Mr. Ailey, entbinde ich Sie von Ihren Pflichten und verordne Ihnen eine ausgedehnte Nachtruhe und Erholung bis morgen Mittag. Ich will, dass Sie erst nach dem Lunch hier wieder bei uns erscheinen. Ausgeruht und frohen Mutes! Mr. Löwenstein und Mr. Czito bleiben hier und werden versuchen, die Spule wieder zu richten. Und ich mache mich geschwind an die Aufzeichnung unserer Ergebnisse, so lange sie noch frisch in meinem Gedächtnis sind. Solch ein bedeutender Augenblick darf nicht einfach so verstreichen, ohne dass man ihn angemessen würdigt. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nachtruhe, Mr. Ailey.“

Philemon wollte anbieten, dass er gleichfalls bleiben und bei der Reparatur helfen könne, aber der Doktor drehte sich um und kletterte über den Zaun. Das Gespräch war beendet. Nachdenklich sah Philemon ihm nach. Es war seltsam, aber es wirkte fast so, als wollten sie ihn nicht dabeihaben bei dem, was sie vorhatten. Er spürte eine Hand auf seiner Schulter. Es war die von Löwenstein.

„Nichts für ungut, Junge. So ist er eben. Gehen Sie ruhig ins Hotel. Sie haben Glück. Ich beneide Sie um den Schlaf.“ Der Deutsche zwinkerte ihm freundlich zu.

Philemon nickte. Er verabschiedete sich und trat in die Dunkelheit draußen vor dem Laboratorium. Gedankenvoll blickte er in den sternenklaren Himmel hinauf und hörte, wie hinter ihm die Tür verriegelt wurde. Wenig später drangen seltsame Zischlaute durch die Holzwand zu ihm hinaus. Es war eindeutig! Sie hatten Geheimnisse vor ihm. Philemon spürte das beißende Gefühl der Kränkung in seiner Brust. War er nicht verlässlich genug? Hatte er nicht durch seinen Fleiß in den vergangenen Tagen bewiesen, dass er dem Doktor treu ergeben war? Offenbar nicht. Und das, obwohl Tesla doch gesagt hatte, dass es hier keinerlei Geheimnisse gab und dass Jedermann in sein Labor kommen und nachsehen könne. Warum hatte man ihn dann vor die Tür gesetzt? Das passte doch nicht zusammen.

Das Hochgefühl, das ihn eben noch beschwingt hatte, verflog und damit auch die Freude über die Beobachtungen während des Experiments. Das Strahlen der zweihundert Glühbirnen auf dem Prärieboden, die illuminiert durch die Nacht trudelnden Motten und das phosphoreszierende Glühen, welches das ganze Laborgebäude umhüllt hatte. All diese wundervollen Bilder konnten nicht die bittere Enttäuschung überdecken, die ihn in diesem Moment erfasste.

Philemon seufzte und marschierte mit hängendem Kopf durch die dunkle Prärie davon.