63. Kapitel

03. Juni 2011
in der Wüste
morgens

Ondragon wusste nicht, wie lange er so dagesessen und einfach nur in den Himmel gestarrt hatte. Irgendwann erhob er sich, befühlte seine lädierten Knochen und schaute schließlich über die Dünen hinweg in die Ferne. Was er dort im morgendlichen Zwielicht erblickte, trübte schlagartig seine Freude über sein geglücktes Entrinnen.

Der ganze Bergrücken qualmte und stieß aus sämtlichen Löchern seinen giftigen Brodem aus. Stumm stiegen die schwarzen Rauchsäulen in den Himmel und vereinten sich dort zu einem bedrohlichen Schleier, der weiter entfernt vom Wind in die Wüste hinausgetragen wurde.

Mit zusammengepressten Lippen wandte Ondragon sich von dem Schauspiel ab und ließ seinen Blick suchend über die nähere Umgebung schweifen. Irgendwie musste er von hier fortkommen, möglichst noch bevor es glühend heiß wurde. Leider konnte er nirgendwo Achille entdecken. War er geflohen oder gefangengenommen worden? Oder war er ihm gar in den Berg gefolgt und Opfer der Feuersbrunst geworden? Wenn dem so war, dann würde er nichts mehr für seinen Begleiter tun können, dachte Ondragon traurig. Da bemerkte er die frischen Fußabdrücke, die über den Dünenkamm in die Wüste hinausführten, und schöpfte ein wenig Hoffnung. Waren sie von Achille? Sie könnten aber auch von Clandestin stammen. Der Kerl hatte es vermutlich genauso ins Freie geschafft wie er. Ondragon überlegte, brachte seinen erlahmten Geist nur mühsam in Gang. Eigentlich blieben ihm nur wenige Möglichkeiten. Er könnte der Spur folgen und herausfinden, zu wem sie gehörten. Oder er könnte versuchen, zum alten Camp zu laufen, wo noch immer die andere Hälfte ihrer Ausrüstung lag. Auch der Scooter befand sich noch dort. Mit ihm könnte er in die Oase fahren und dort um Hilfe bitten. Vielleicht könnte er auch Malin suchen. Was sie wohl jetzt gerade dachte, beim Anblick des brennenden Berges? Ob sie dort draußen schon irgendwo auf der Suche nach ihrem weißen Dromedar war?

Unschlüssig drehte Ondragon sich um und sah plötzlich einen Mann hinter sich stehen. Er fühlte nur wenig Überraschung darüber, vielleicht war sein Körper aber auch bloß zu träge, um zu reagieren. Müde sah er dem Mann entgegen, der langsam näherkam. Er trug eine sandfarbene Baseballmütze, eine gleichfarbige Uniform und eine Nickelbrille.

„Kubicki“, sagte Ondragon mäßig begeistert, als er schließlich vor ihm stand.

Der BND-Führungsoffizier hob grüßend eine Hand und verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln. „Da sind Sie ja“, sagte er. „Was ist mit Steiner und seiner Truppe?“

„Steiner? Der hat mir die ganze Sache doch erst so richtig vermasselt! Bis er kam, lief noch alles prima.“ Das stimmte zwar nicht ganz, aber Ondragon hatte wenig Lust, Kubicki die Wahrheit zu erzählen. „Ich denke, er und die anderen sind tot“, sagte er ungehalten und wies zu dem rauchenden Berg hinüber. „Es wäre ein Wunder, wenn dort drinnen jemand überlebt hat. Da waren jede Menge Phosphorbomben. Wenn sie auch nur annähernd alle hochgegangen sind, dann dürften die Katakomben auf lange Zeit hin unbegehbar sein. Von dem Feuer ganz zu schweigen. Phosphor brennt mit über 1300 Grad und der Berg dürfte wie ein Glutofen wirken. Da drinnen wird nichts als Asche übrigbleiben.“

Kubicki nickte. Er wirkte enttäuscht. „Was haben Sie dort drinnen gesehen?“

„Nicht viel“, log Ondragon. „Ich kenne nur das Innere des Turms und das Tunnelsystem im Berg. Die Mistkerle haben mich abgefangen, bevor ich etwas herausfinden konnte, und mich in eine Höhle gesperrt. Dort lagerten allerdings etliche Kisten voll mit Goldbarren.“

„Gold?“, fragte Kubicki hellhörig geworden. „Ist es auch verbrannt?“

Ondragon dachte, dass es doch immer wieder faszinierend war, wie das Bild von einer riesigen Menge Gold die Menschen aus dem Konzept brachte.

„Ja“, gab er nüchtern an, „alles verbrannt. Angeblich hat General Kammler es mit der Junkers hierhergebracht.“

„Aha.“ Jetzt war es Kubicki, der auf die Rauchsäulen blickte. „Und Sie haben sonst nichts herausgefunden?“

„Die Höhle, in der man mich gefangenhielt, muss etwas abseits gelegen haben“, erklärte Ondragon. „Das Einzige, was ich gesehen habe, waren alte Mumiengräber. Wo im Berg die Maschine von Tesla gewesen ist und ob sie überhaupt da war, weiß ich nicht. Ich konnte entkommen, als das Chaos losbrach.“

„Und Sie haben nicht mal auf Ihrer Flucht durch das Tunnelsystem etwas beobachten können?“

„Nein, nichts. Ich hatte keine Lampe und es war stockdunkel.“

Kubicki sah ihn prüfend an. Er glaubte ihm nicht, das war eindeutig, aber Ondragon ließ sich nichts anmerken und schaute unbekümmert zurück – das Pokerface war eine seiner leichtesten Übungen. Sollte Kubicki doch denken, was er wollte, er konnte ihm nichts anhaben. Die ganze Sache war gelaufen! Wenn auch auf höchst unerfreuliche Weise.

Als der BND-Führungsoffizier sich schließlich abwandte, seufzte er verhalten.

„Es tut mir leid, was mit Steiner und den anderen passiert ist“, entgegnete Ondragon mit geheuchelter Betroffenheit. „Und es tut mir auch leid, dass ich Ihnen nicht besser helfen konnte und nun alles zerstört ist“

Kubicki hob den Kopf und sah ihn an. Ein seltsames Glimmen trat in seine Augen, doch bevor Ondragon dem näher auf den Grund gehen konnte, drehte sich der BND-Mann um und sagte ohne erkennbare Emotion: „Kommen Sie, ich bringe Sie ins Camp! Dort werden Sie bereits erwartet“

In einem nagelneuen Landrover fuhren sie zum Guelta. Dort stellte Ondragon fest, dass der Wagen einer ganzen Kolonne von Fahrzeugen entstammte, mit der die Söldner des BND die Wüste durchquert hatten. Es musste sich dabei um eine ähnliche Truppe handeln wie die Mailmen von DeForce Deliveries; ein zusammengewürfelter Haufen, der für Geld alles machte. So wie er.

Die Männer hockten vor ihren Zelten und wirkten müde und niedergeschlagen. Kein Wunder, war doch ihre Zahl über Nacht schlagartig halbiert worden. Kubicki nickte ihnen im Vorbeigehen zu und führte Ondragon in das größte Zelt des Basiscamps. Im Inneren war es dunkel und stickig, doch als er erkannte, wer dort auf dem Boden kauerte und von drei bewaffneten Männern bewacht wurde, zog er vorsorglich den Kopf ein.

„Na, endlich! Da bist du ja! Sag deinen Leuten, sie sollen mich freilassen, verdammt noch mal. Ich bin schwedische Staatsbürgerin, sie dürfen mich nicht einfach so festhalten. Ich habe nichts getan. Diese wild gewordene Horde Gorillas ist einfach in unser Zelt gestürmt und hat uns festgenommen, obwohl wir eine Aufenthaltserlaubnis für dieses Gebiet haben. Ein Skandal! Ich werde mich bei der Botschaft beschweren. Außerdem läuft mir mein wertvolles Dromedar davon. Scheiße, nun sag doch endlich was!“ Wütend funkelte Malin ihn an. Neben ihr hockte Pelle und schaute nicht weniger böse drein. Nur Achille grinste selig.

Mon ami, du lebst noch! Gott sei gepriesen!“, rief der der Franzose und wollte aufstehen, um Ondragon, der dasselbe über seinen Begleiter dachte, in die Arme zu schließen, doch einer der Aufpasser drückte ihn wieder zu Boden.

„Eh! Was soll das?“, protestierte Achille. „Ich habe euch doch schon gesagt, dass das dort mein Chef ist.“

Derweil richtete Malin ihren Schwall wüster Beschimpfungen an Kubicki: „Ich habe Ihnen doch bereits alles erzählt. Was wollen Sie denn noch von mir? Wie oft muss ich wiederholen, dass ich diesen Kerl dort rein zufällig kennengelernt habe. Und rein zufällig haben wir uns auch hier in der Wüste wiedergetroffen.“ Sie deutete auf Ondragon.

„Okay, es klingt komisch“, bestätigte er erschöpft. „Aber es ist so, wie sie sagt. Die Begegnungen waren rein zufällig.“

„Sehen Sie“, fuhr Malin fort. „Der Herr hat mir gesagt, dass er nach einem verschollenen Flugzeug sucht, und ich hab mir nichts dabei gedacht und ihm ein wenig bei der Suche geholfen, mehr nicht. Was ist denn, bitte schön, so Verbotenes daran, ein Flugzeug zu suchen? Und wie hätte ich ahnen sollen, dass hier in der Wüste der Punk abgeht und dieser Scheißberg in die Luft fliegt?!“

Kubicki sah sie überhaupt nicht an. Er schien mit seinen Gedanken vollkommen woanders zu sein. Währenddessen war Ondragon heilfroh, Malin die Geschichte mit dem Flugzeug aufgetischt zu haben. Das würde sie jetzt vielleicht mit einem blauen Auge aus der Sache rausbringen. Hoffentlich.

„Hallo, Sie?“ Malin hob eine Hand und winkte, um Kubickis Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Verstehen Sie mich? Ich nix wissen. Ich nur Jägerin, ich haben Auftrag, capito?“

„Das stimmt, das haben wir überprüft“, entgegnete Kubicki schließlich trocken. „Sie können gehen und nehmen Sie ihren Piloten mit. Gehen Sie und jagen Sie ihr Kamel oder was auch immer, und wenn Sie es haben, dann verschwinden Sie! Aber halten Sie sich von dem Berg fern, sonst sehen wir uns schneller wieder, als Ihnen lieb ist.“

Malin sprang auf und trat auf Kubicki zu, bis sie dicht vor ihm stand. „Sie, Herr Oberkommandeur von was auch immer, haben mir gar nichts zu befehlen. Fuck you!“ Sie drückte ihm ihren Mittelfinger fast ins Gesicht, und Ondragon kam nicht umhin, ihren Schneid zu bewundern. Sie hatte wirklich vor nichts Angst! Weder vor irgendwelchen dubiosen Männern mit Waffen noch vor geheimdienstlichen Organisationen. Er spürte, wie ihr brennender Blick auf ihn sprang, und versuchte, ihm standzuhalten. Malin wollte eine Erklärung von ihm, das ahnte er, doch offenbarbar erkannte sie auch, dass sie diese von ihm nicht bekommen würde. Schweigend sah Ondragon zu Boden, und enttäuscht wandte Malin sich ab. So lief es immer mit den Frauen. Am Ende hassten sie ihn.

Mit einer knappen Handbewegung gab Malin Pelle zu verstehen, dass er aufstehen solle, und der junge Pilot erhob sich. Er warf Ondragon ein leicht spöttisches Gewinnerlächeln zu und folgte seiner Chefin aus dem Zelt. Resigniert sah er auf den Ausgang. Am Ende ist immer einer der Loser, dachte er. Doch leider hatte er das starke Gefühl, dass diesmal er das war.

„Und wann können wir hier raus?“, fragte er an Kubicki gerichtet. Er hatte keine Lust, noch länger an diesem unerfreulichen Ort zu bleiben.

„Sie können sofort mit der nächsten Maschine raus“, entgegnete der BND-Führungsoffizier. „Unser Pilot fliegt Sie nach Casablanca oder Marrakesch. Je nachdem, wo Sie hin wollen.“

„Und was ist mit meiner Bezahlung?“, wollte Ondragon wissen.

„Wenn Sie Ihre Akte meinen, die liegt in Berlin bereit. Sie können jederzeit Einsicht erhalten. Und das Geld – nun wir wollen mal nicht so sein, schließlich haben Sie sich ja alle Mühe gegeben, den Auftrag zu erfüllen – es wird sich in wenigen Tagen auf Ihrem Konto befinden.“

Ondragon nickte, dann wandte er sich an Achille. „Komm, wir hauen ab!“

Als sie wenig später im Flugzeug des BND saßen und nach unten auf den rauchenden Berg schauten, spürte Ondragon ein ungewohntes Gefühlschaos in seinem Inneren toben. Auf der einen Seite war er froh, wieder einmal davongekommen zu sein, und fühlte sogar ein wenig Schadenfreude darüber, dass Pandora zerstört und der BND absolut leer ausgegangen war. Doch auf der anderen Seite – und das brachte ihn zum unteren Ende seiner Gefühlsskala – erfüllte es ihn mit tiefer Traurigkeit zu sehen, wie Teslas Traum in Flammen stand und damit unwiederbringlich verloren war. Und mit einem Mal verstand er sogar Meister Yaqubs Dilemma. Teslas Erfindungen waren ein Fluch und ein Segen zugleich. Darin hatte der alte Mann recht behalten. Aber Yaqub war nicht mehr, wie auch sein geheimer Schatz zu einem einzigen Klumpen Metall eingeschmolzen worden war. Und auf schicksalshafte Weise hatte sich der Daseinszweck der Sator-Bruderschaft dann doch erfüllt: Sie hatte die Menschheit vor einer großen Dummheit bewahrt. Sator opera tenet – der Schöpfer bewahrt seine Schöpfung.

Als Ondragons Bewusstsein aus diesen Gedanken auftauchte, waren sie schon weit in die Wüste hinausgeflogen. Unter ihnen erstreckte sich nichts als Sand.

Erschöpft lehnte er sich zurück und legte seine bandagierten Hände in den Schoß. Mehr als das Vibrieren der Maschine spürte er die Müdigkeit, die ihn zu überwältigen drohte, jetzt, da er alles hinter sich ließ. Doch kurz bevor er seine Augen schloss und sich der Erschöpfung hingab, fing sein Geist noch etwas auf. Eine winzige Störung im Muster. Die Zentrifuge in seinem Kopf zuckte und sandte eine letzte Botschaft. Dort unten im Sand war etwas gewesen. Etwas, das nicht dorthin passte. Ein Gefährt. Ein sehr merkwürdiges Gefährt.

Der Snake?

Nur wer fuhr ihn? Clandestin? War es dem jungen Mann gelungen, zu ihrem verlassenen Camp zu finden? Hatte er den Snake genommen und war damit hinaus in die Wüste gefahren? Ein unbewusstes Lächeln legte sich auf Ondragons Lippen. Natürlich war er es. Clandestin. Guter Junge! Nun würde wenigstens ein Teil des Wissens der Sator-Bruderschaft weiterleben … und auch der Schatz würde im gewissen Sinne weiterleben.

Mit dieser tröstlichen Gewissheit kippte Ondragons Kopf zur Seite, und er schlief ein.