34. Kapitel
25. Mai 2011
Fortaleza, Brasilien
3.10 Uhr
Der Öltanker mit dem Unbekannten an Bord war längst in internationalen Gewässern, als Ondragon im Krankenhaus von Fortaleza vor einer Milchglastür mit der Aufschrift Entrada proibida hockte. Ihm gegenüber saß Kubicki, der einen tadellosen grauen Anzug mit Krawatte trug und Kaffee aus einem Pappbecher trank. Das Neonlicht auf dem Gang spiegelte sich in seinen runden Brillengläsern und ließ ihn blass und müde wirken.
Ondragon blickte auf die Uhr, wie er es schon vor einer Minute getan hatte. Und der Minute davor. Wann bekamen sie endlich Bescheid? Ungeduldig sprang er von seinem Platz auf und lief durch den Gang. Mit reglosem Gesichtsausdruck schlürfte Kubicki weiter seinen Kaffee. Seit Charlize vor einer halben Ewigkeit ins Hospital eingeliefert worden war, hatten sie nichts mehr von ihr gehört. Sie hatte viel Blut verloren und die Ärzte hatten versucht, sie zu stabilisieren. Wäre Ondragon religiös gewesen, so hätte er jetzt ein stilles Gebet gen Himmel gesandt, doch leider glaubte er nicht an den Lieben Gott, nur an den Zufall des Augenblicks und die Tatkraft seiner eigenen Hände. Was würde er tun, wenn Charlize starb?
Plötzlich ertönten Schritte auf dem Gang und erwartungsvoll fuhr Ondragon herum. Aber es war nur Agent Steiner, der sich ebenfalls einen Kaffee geholt hatte. Matt ließ er sich neben Kubicki auf einen Stuhl sacken.
Ondragon wandte sich von den beiden Agenten ab und tigerte weiter den Gang entlang. Von irgendwo her piepte es leise und er sah, wie Kubicki auf sein Handy blickte. Danach stand der BND-Mann auf und ging nach draußen, bevor ihm jemand vom Krankenhauspersonal einen bösen Blick zuwerfen konnte. Nach einer ganzen Weile – der Zeiger der Uhr war inzwischen auf 3.40 Uhr vorgerückt – kam Kubicki wieder. Seine Miene hatte sich deutlich aufgehellt und er winkte Ondragon und Steiner zu sich.
„Ich habe gerade erfahren, dass die Satellitenverbindung steht. Wir haben den Tanker im Visier, mit Infrarot und Radar. Wir können also auch nächtliche Aktivitäten beobachten, falls es welche gibt. Momentan scheint an Bord alles ruhig zu sein.“
Die meisten Menschen dachten, dass es unmöglich sei, über Satellit ein sich bewegendes Objekt von der Größe eines Fahrzeuges oder eines Menschen zu verfolgen. Das stimmte auch, sofern man die Überwachung mit orbitalen Satelliten durchführte, die in Umlaufbahnen rund um die Erde kreisten und erst nach neunzig Minuten wieder an derselben Stelle ankamen. Jedoch verfügten das US-Militär und einige andere Organisationen durch einen Zusammenschluss mehrerer geostationärer Satelliten über eine stabile und dauerhafte Liveübertagung von Bildern mit einer Auflösung von bis zu zehn Zentimetern! Genug, um ein Nummernschild oder ein Gesicht zu identifizieren. Die vollkommene Überwachung aus dem Weltall war also nicht mehr länger nur der feuchte Traum aller Geheimdienste dieser Welt, sondern längst Wirklichkeit geworden.
„Gibt es nähere Informationen über das Schiff?“, erkundigte sich Ondragon.
„Das Schiff heißt Tethys II und fährt unter marokkanischer Flagge. Ein Öltanker mit einer Größe von hundertfünfzigtausend Bruttoregistertonnen. Er hat vor ein paar Tagen Öl nach Brasilien gebracht und fährt nun leer zurück. Sein Ziel ist der Heimathafen Casablanca.“
Ondragon horchte auf. In Marokko war sein Mitarbeiter Achille Mercier stationiert. Er könnte ihn noch heute informieren und nach Casablanca beordern, damit er alles für die Ankunft des Tankers vorbereitete, und anschließend selbst ein Ticket dorthin buchen. „Wie lange braucht der Tanker für die Überfahrt?“
Kubicki schien die Strecke im Kopf zu überschlagen. „Bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 15 Knoten, das sind 28 km/h, benötigt er ungefähr, hm … acht Tage.“
„Das ist verdammt lang“, murmelte Ondragon vor sich hin. „Ich frage mich, warum der Kerl das macht? Warum fährt er mit einem Schiff?“
„Nun, ich schätze, er wusste, dass er nicht durch die Kontrollen am Flughafen kommt, deshalb hat er den Seeweg gewählt. Das ist nicht ganz so blöd, wie es auf den ersten Blick erscheint, denn solange sich das Schiff in internationalen Gewässern befindet, können wir nichts ausrichten. So einfach ist das.“
„Dann muss der Typ das von langer Hand geplant haben, man kommt nicht so ohne Weiteres als Passagier auf einen Öltanker“, warf Steiner ein.
Kubicki nickte. „Das denke ich auch.“
„Wo könnte er hinwollen?“ Ondragon hatte zwar bereits eine gewisse Ahnung, doch konnte er den BND-Agenten natürlich nicht verraten, dass er das Logbuch der Junkers gelesen hatte. „Was für Ziele liegen noch auf dieser Strecke?“
„Die Kapverdischen Inseln und die Kanaren“, sagte Kubicki.
„Hm.“ Ondragon überlegte. „Könnte der Kerl mit einem Boot oder Hubschrauber von dem Schiff fliehen?“
„Ja, natürlich, aber das würden wir über die Satellitenüberwachung mitbekommen. Ein Alarmsystem informiert uns über jede Bewegung an Bord oder in der Nähe des Schiffes. Ich habe veranlasst, dass auf den Kanaren ein Hubschrauber der deutschen Marine bereitsteht. Die Inseln gehören zur EU und deshalb können wir dort operieren, ohne zeitraubende Bittgesuche beim spanischen Staat einzureichen. Mit Marokko sieht das anders aus, dort müssen wir verdeckt agieren. Dasselbe gilt unglücklicherweise auch für die brasilianischen Küstengewässer. Mangels eines internationalen Haftbefehls haben uns die brasilianischen Behörden abblitzen lassen und dem Tanker freie Fahrt gewährt. Kommt er allerdings den Kanaren zu nahe, können wir zuschlagen.“
Ondragon bezweifelte, dass der Unbekannte diesen Fehler machen würde, aber man wusste ja nie. Es war auf jeden Fall gut, dass sie auf Luftunterstützung zurückgreifen konnten. Was seine eigenen Möglichkeiten anging, so hielt er sich bedeckt, denn er wollte in Afrika auf seine Art operieren und nicht auf die Hilfe anderer angewiesen sein. Das hatte ihm schon genug Scherereien eingebracht. Im Kopf hatte er den Plan bereits ausgearbeitet und musste ihn jetzt nur noch umsetzen. Ondragon tastete in der Hosentasche nach dem Handy. Es war höchste Zeit, einen Anruf zu tätigen.
Plötzlich ging hinter ihnen die Tür auf und ein blassgesichtiger Mann in einem weißen Kittel erschien. Ondragon eilte auf ihn zu und fragte: „Wie geht es ihr?“
Der junge Arzt hob beide Hände. „Es geht ihr soweit gut. Seien Sie unbesorgt. Wir haben die Blutung stoppen können und die Wunde versorgt“, erklärte er in holperigem Englisch. „Sie kommt jetzt auf die Intensivstation, wo sie die nächsten Tage zur Beobachtung bleiben wird.“
„Kann ich zu ihr?“, hörte Ondragon sich fragen und kam sich dabei vor wie in einer billigen Arztserie.
Der Mediziner schüttelte den Kopf. „Kommen Sie morgen früh wieder. Dann können Sie sie sehen. Bis dahin haben Sie bitte Geduld.“
„Wir sollten jetzt gehen“, sagte Kubicki mit ruhiger Stimme und Ondragon ließ es zu, dass der BND-Führungsoffizier ihn aus dem Hospital geleitete. Draußen war es etwas kühler geworden und er atmete tief durch.
„Wo werden Sie hingehen?“, fragte Kubicki. „In die Favela?“
Überrascht sah Ondragon ihn an. Doch dann entspannte er sich wieder. Was hatte er gedacht? Dass der BND nicht wusste, wo er die letzte Nacht untergekommen war? Er sollte langsam aufhören, Kubicki und seine Leute zu unterschätzen. „Ich habe da noch was zu erledigen“, sagte er und blickte die nächtliche Straße entlang. Kaum ein Auto war unterwegs. Woher sollte er jetzt ein Taxi bekommen?
„Würden Sie mich vielleicht dort absetzen?“, fragte er matt. Jetzt, da er wusste, dass Charlize außer Lebensgefahr war, verpuffte der Rest seiner Energie und seine Konzentrationsfähigkeit reduzierte sich auf die einer Stubenfliege.
Kubicki nickte und Steiner führte Ondragon zu dem Wagen, mit dem sie zum Krankenhaus gekommen waren. Wenig später hielt das Auto am Rand der Favela und Ondragon stieg aus. Wie der Schatten eines müden Geistes tappte er durch das dunkle Labyrinth und folgte dabei nicht etwa seinem Orientierungssinn, sondern einem ausgeklügelten System aus Markierungen auf den Häuserwänden, in das Charlize ihn eingeweiht hatte. Mehrmals sah er sich um, weil er meinte, ein Geräusch gehört zu haben. Doch er war allein. Zumindest dem Anschein nach, denn er wusste, dass die Augen der Favela niemals schliefen.