40. Kapitel

28. Mai 2011
Casablanca, Marokko
10.05 Uhr

Ondragon war sich bewusst, dass ihn gleich mehrere Gründe in die Wüste trieben. Für sich selbst wollte er die Möglichkeit ergreifen, dieses selten knifflige Rätsel zu lösen. Für den BND galt es, Pandora zu beschaffen (was ja letztendlich auch wieder für ihn selbst war, denn er wollte ja die Akte), und Charlize hatte er versprochen, in ihrem Namen Rache zu üben! Das waren drei gute Motive, doch das erste, das musste er zugeben, war immer noch das stärkste. Seine Neugier war nun mal seine Natur und dagegen konnte er nichts tun.

Da für eine ungewisse Zeit lang Warten angesagt war, verbrachte er den zweiten Tag in Casablanca damit, sich tiefer in die Stadt hineinzufühlen. Er wollte sie mit allen Sinnen erfassen. Schnell stellte er fest, dass er sich hier wohlfühlte. In diesem Fall aber nicht nur weil er beide Landessprachen beherrschte, sondern auch weil er es schaffte, sich mit seiner europäischen 1,90-Gestalt in das marokkanische savoir-vivre einzugliedern, ohne dass jemand Notiz von ihm nahm. Während er durch die Straßen flanierte, wurde er zu einem von vielen. In Wirklichkeit war er nichts weiter als ein Chamäleon, das die Kunst der Täuschung beherrschte und aus der Deckung heraus heimlich seine Umgebung beobachtete. Es gab nur noch einen Ort auf der Welt, außer der Stadt, mit dem er ebenfalls verschmelzen konnte. Die Wüste.

Ondragon winkte sich ein Taxi herbei und ließ sich in die Altstadt fahren. Er hatte am Vortag bereits alles an Ausrüstung besorgt und konnte sich heute in Ruhe treiben lassen. Er betrat die Medina durch den großen Torbogen an der Avenue des F.A.R. und schlenderte gemächlich über den Basar. Der war enttäuschend schäbig und in nichts mit dem wundervollen Khan el-Khalili Basar in Kairo zu vergleichen, auf dem er als Zehnjähriger herumgestreunt war und sein Taschengeld verprasst hatte – natürlich ganz zum Ärger seines Vaters. Er verdrängte den Gedanken an seinen alten Herrn und besah sich eher lustlos die Waren der Händler. Bei einem touristisch herausgeputzten Stand mit Lampen aus buntem Glas kaufte er ein bezauberndes Exemplar für Charlize. Sie liebte diesen orientalischen Kitsch und würde sich über dieses Mitbringsel freuen.

An einer besonders belebten Ecke mit einem winzigen Café und Nippesläden blieb er stehen und betrachtete amüsiert das Treiben der feilschenden Händler mit den hilflos gestikulierenden Touristen. Dabei fiel ihm an einem Gewürzstand plötzlich eine Frau ins Auge. Es war die brünette Dame aus der Jazz-Bar. Den ganzen Abend über hatte er sie mit heimlichen Blicken bedacht, sie aber nicht angesprochen. Sie hatte ein paar Mal zu ihm hinübergeschaut, aber mit keiner Regung verraten, ob sie ihn wahrgenommen hatte. Auch ihr Begleiter vom Vorabend war wieder bei ihr. Ganz dicht stand er hinter ihr, so als wolle er sie beschützen. Allerdings machte die Frau nicht den Eindruck, als müsse man sich um ihre Sicherheit sonderlich Sorgen machen. Sie besaß eine recht robuste und wehrhafte Ausstrahlung, was Ondragon sofort gefiel. Er hatte die beiden vergangenen Abend ganz genau beobachtet und versucht einzuschätzen, was sie hier in Casablanca trieben. Heimliche Beurteilungen von Menschen waren sein liebster Zeitvertreib und ein gutes Training zur Verfeinerung seiner Menschenkenntnis. Er beherrschte diese Kunst beinahe bis zur Perfektion und lag mit seinen Einschätzungen fast immer richtig. Fast immer, das hieß in 98 Prozent der Fälle. Zu seinem großen Leidwesen versagte seine Gabe jedoch bei den restlichen zwei Prozent. Das wurmte ihn und brachte ihn in den ständigen Zwang, endlich die hundert Prozent zu erreichen.

Er drückte sich in eine schattige Ecke und behielt die Frau samt ihrer Begleitung im Auge. Sie hatten ihn nicht bemerkt und feilschten munter mit dem Gewürzhändler. Besser gesagt, nur sie feilschte, denn der Typ hielt sich mit starrer Miene zurück und wandte misstrauisch den Kopf in alle Richtungen. Die Frau war Ende Dreißig, das schätzte Ondragon zumindest anhand der feinen Fältchen um ihre Augen. Ihr braungebranntes Gesicht und ihr durchtrainierter, schlanker Körper zeugten von einer ausgesprochenen Vitalität. Sie trug eine Cargohose und darüber eine sandfarbene Tunika. Um die Hüfte hatte sie sich einen schweren Ledergürtel mit einer Tasche gebunden. Ihr dunkelbraunes, zu einem Zopf geflochtenes Haar wurde locker von einem Tuch bedeckt, das mehr ein Statement als eine muslimisch korrekte Verhüllung darstellte. An den Füßen trug sie keine Sandalen wie die meisten Touristen, sondern hohe Wüstenstiefel aus grobem Leinen. Sie sah aus wie Prinzessin Leia mit Luke Skywalker an ihrer Seite. Fehlten nur noch Han Solo und der Wookie! Luke schien etwas jünger zu sein und steckte in pragmatischer Expeditionskleidung: ein khakifarbenes Baumwollhemd mit hochgekrempelten Ärmeln und eine Outdoor-Hose, an der man die Beine abzippen konnte. Auch er trug festes Schuhwerk und eine Baseballmütze mit der peinlichen Aufschrift ‚Top Gun’.

Vorsichtig arbeitete Ondragon sich durch das Gedränge an sie heran und schnappte im Vorbeigehen ein paar Sätze auf. Überraschendenderweise sprach die Frau Hocharabisch mit dem Gewürzhändler, und bestätigte damit seinen ersten Eindruck, dass sie sich nicht zum ersten Mal in einem arabischen Land aufhielt.

Er schlenderte weiter, hielt an einem Nachbarstand an und studierte die Auslage, dabei warf er ihr einen unauffälligen Blick zu. Mittlerweile hatte sie ihr Geschäft abgeschlossen und ging mit ihrem Begleiter in Richtung des großen Torbogens davon. Ondragon heftete sich an ihre Fersen. Er hatte nichts Spezielles vor und wollte sie nur zum Spaß verfolgen. Das war nämlich seine zweitliebste Beschäftigung: Leute bespitzeln. Er nannte das City-Stalk.

Während Leia und Luke durch das Tor auf die vielbefahrene Avenue des F.A.R. trat und auf dem Bürgersteig in Richtung Hafen gingen, hielt sich Ondragon dezent im Hintergrund. Je mehr er von den beiden wahrnahm, desto sicherer wurde er sich, dass sie entweder Archäologen waren oder zu einer NGO gehörten, die hier in Marokko oder in einem der angrenzenden Länder arbeiteten. Genauer gesagt hatte er das Gefühl, dass sie wie er auf irgendetwas warteten. Vielleicht auf den Beginn eines Einsatzes. Leider musste er bei seiner Verfolgung einen zu großen Abstand halten, als dass er verstehen konnte, in welcher Sprache sie sich unterhielten. Vom Gefühl her tippte er auf Nordeuropäer.

Leider passierte danach nichts Besonderes mehr und er verfolgte die beiden noch bis zum Golden Tulip Hotel. Sie waren hier Gäste, das hatte er gestern schon herausgefunden, da sie ihre Rechnung in der Bar auf ihre Zimmernummer hatten schreiben lassen. Alle Getränke auf ein Zimmer: Nummer 818. Ob sie sich ein Bett teilten? Ondragon glaubte das nicht, denn die beiden wirkten nicht, als hätten sie eine sexuelle Beziehung. Auch wenn sie die Anstandsregeln der arabischen Welt berücksichtigten und in der Öffentlichkeit keinerlei Körperkontakt austauschten, so ging er doch von einer rein geschäftlichen Verbindung aus. Wobei Leia eindeutig der Chef war und Luke ihr Handlanger. Das Letzte, was Ondragon von den beiden sah, war, wie der Typ ihr mit einem Lächeln die Tür aufhielt. Ja, er war eindeutig in sie verschossen, schien damit aber auf einem hoffnungslosen Posten zu sein, denn Leia lächelte nur kühl zurück. Also kein gemeinsames Bett. Er hätte jetzt hinter ihnen hergehen und es überprüfen können, doch er hatte die Lust an dem Spiel verloren und außerdem einen Bärenhunger.

Er spazierte durch die Nebenstraßen zum Boulevard Mohammed V und gönnte sich in einem marokkanischen Restaurant ein üppiges Mittagsmenü mit Tabuleh, Hummus und Fisch-Tajine. Zum Nachtisch gab es frische Datteln, die er bei einem Obsthändler eine Straße weiter erstand.

Den Rest des Tages verbrachte er mit einem willkürlichen Roulette durch diverse Cafés, wobei er über sein iPhone unauffällig den Livestream vom Schiff überwachte und bei süßem Minztee und weißem Nougat einen Zuckerschock riskierte. Aber das Zeug half ihm, über die ermüdenden Nachmittagsstunden zu kommen, die drückend über den Straßen von Casablanca hingen.

Am frühen Abend packte Ondragon den kleinen Rucksack, den er sich schon in Fortaleza gekauft hatte, und ging hinüber ins Golden Tulip. Denn sein Hotel hatte, wie sollte es anders sein, natürlich auch keinen Fitnessraum. Gegen ein Entgelt durfte er aber die Einrichtung des Hotels gegenüber benutzen.

Der Raum war recht klein, aber mit den modernsten Geräten ausgestattet. Ondragon absolvierte das eigens für sich entwickelte Programm, das ihn unterwegs fit hielt, und kam dabei trotz der Klimaanlage mächtig ins Schwitzen. Nach eineinhalb Stunden straffen Trainings entspannte er sich noch zwanzig Minuten im Dampfbad des angeschlossenen Hamam und duschte sich hinterher kalt ab, um die Regeneration der Muskeln anzuregen. Er rasierte sich und zog einen dunklen Anzug mit weißem Hemd an, allerdings ohne Krawatte und mit geöffnetem obersten Knopf. Er wollte elegant, aber auch leger erscheinen. Ein Unternehmensberater auf Businesstrip eben. Dann griff er nach seinem Rucksack und begab sich erwartungsvoll in die Jazz-Bar des Hotels. Einerseits, weil er sich auf einen kühlen Drink freute, und andererseits, weil er begierig darauf war, Prinzessin Leia wiederzusehen. Er hatte sie den ganzen Tag nicht aus seinem Kopf bekommen.

Es war nur mäßig voll in der Bar und Leia saß zusammen mit dem Typen wieder an demselben Tisch. Zwei leere Gläser standen vor ihnen und sie unterhielten sich nur mäßig angeregt, wie Ondragon diagnostizierte. Er ließ sich auf einem Hocker an der Bar nieder, wobei er darauf achtete, dass der Sitz neben ihm frei blieb, und bestellte einen Pimm’s Cup, dem er sich zunächst mit scheinbarer Aufmerksamkeit widmete. In Wirklichkeit genoss er das anregende Prickeln, das immer wieder über seinen Rücken strich, wenn Leia zu ihm hinüberblickte. Wie eine Hand in einem Seidenhandschuh!

Er kam sich beinahe so lächerlich vor wie ein verknallter Teenager, und fragte sich, warum er diese Frau so aufreizend fand. Es war ihre Ausstrahlung. Sie umgab eindeutig die Aura einer Jägerin. Und er stand auf Jägerinnen!

Nachdem er das Glas halb geleert hatte, verlagerte er seine Position am Tresen und drehte sich bewusst nach rechts, so dass er sie besser sehen konnte. Vor ihr stand jetzt ein neues Getränk – eine Flasche Beck’s Bier. Er liebte Frauen, die ihr Bier aus der Flasche tranken! Sie hatte sich in dem Loungesessel zurückgelehnt und ihre Arme vor der Brust verschränkt. Eine klare Ablehnungshaltung. Wahrscheinlich war sie ihres Begleiters überdrüssig, der noch immer auf sie einplapperte, ohne zu merken, dass sie gar nicht mehr zuhörte. Sie nickte nicht mal mehr aus Höflichkeit, stattdessen begann ihr Blick, durch den Raum zu wandern. Ondragon behielt seine unbeteiligte Miene bei und wartete darauf, dass Ihre Augen sich trafen. In dem Moment, in dem sie das taten, setzten sich seine Pupillen in Bewegung und hielten ihren Blick fest.

Es war das erste Mal, dass sie einander direkt ansahen. Und diesmal konnte er eine deutliche Regung bei ihr ausmachen. Ihre Augen weiteten sich leicht und ihre Mundwinkel hoben sich um einen winzigen Deut. Zumindest schien sie ihn schon mal als willkommene Abwechslung zu betrachten. Doch dann schlug sie den Blick nieder und nahm einen Schluck aus der Flasche. Als sie das Bier zurück auf dem Tisch stellte, hoben sich ihre Wimpern langsam und schließlich war ihr Blick wieder da. Viel intensiver als zuvor und offensichtlich kalkulierend.

Wie jemand, der in Sekundenschnelle Risiken abwog, dachte Ondragon und nickte ihr zu. Das warme Prickeln verstärkte sich und floss von seinem Rücken in seine Beine. Selbst wenn die Dame im nächsten Moment aufstehen und auf ihrem Zimmer verschwinden würde, hätte sich dieser Abend gelohnt.

Aber das tat sie nicht. Ihr Blick ruhte weiterhin auf ihm. Jetzt etwas milder und selbstbewusster, doch da war auch noch etwas anderes. Ihre Haltung hatte sich verändert. Sie saß jetzt entspannt im Sessel, einen Arm lässig auf die Lehne gestützt und ein Bein über das andere geschlagen. Sie trug eine enge Hose mit einer Tunika darüber. Das Kopftuch hatte sie als Schal um den Hals drapiert, damit ihre dunklen Locken über die Schultern fallen konnten. Fehlte nur noch die Laserkanone an ihrer Hüfte! Ondragon schmunzelte verhalten. Er fand seinen Vergleich mit Prinzessin Leia noch immer ausgesprochen passend. Allerdings wirkte diese Dame dort drüben wie eine wesentlich härtere und emanzipiertere Ausgabe von Leia. Sternenprinzessin 2.0 sozusagen.

Ondragon trank seinen Cocktail aus und zeigte auf das leere Glas. Sie verstand sein Zeichen, flüsterte ihrem Begleiter etwas zu und erhob sich. Mit der Bierflasche in der Hand kam sie auf ihn zu. Sie war nur einen halben Kopf kleiner als Ondragon, und als sie sich ihm bis auf wenige Fuß genähert hatte, drang zuerst ihre Aura in die seine ein und danach ihr Duft. Ein Hauch von Sandelholz und Jasmin umwehte seine Nase.

Sie setzte sich auf den Hocker neben ihm und sagte auf Englisch, aber mit einem ihm sehr vertrauten Akzent: „Hallo, wie geht‘s?“

Also doch, dachte er, habe ich richtig gelegen. „Mycket bra. Och med dig?“, antwortete er auf Schwedisch.

Ein überraschtes Lächeln trat auf ihr Gesicht. Es war entzückend breit und eine Spur vulgär. „Sie sind auch Schwede?“, fragte sie.

Auch Schwede? Hm. Er überlegte, welche Taktik hier wohl am besten funktionieren könnte und entschied sich aus dem Bauch heraus für die Variante mit dem größtmöglichen Wahrheitsgehalt. Das war einfacher.

„Wie man‘s nimmt“, entgegnete er. „Meine Mutter ist Schwedin und mein Vater Deutscher. Ich selbst lebe aber schon seit einigen Jahren in den Staaten.“

Ihre Lippen formten ein O.

Ganz recht, das war sein Name!

„Paul Ondragon“, stellte er sich vor und hielt ihr eine Hand hin.

„Malin Ysanter.“ Sie ergriff seine Hand. Ihr Händedruck war der eines Holzfällers. „Ondragon, was für ein interessanter Name. Spanisch?“

„Ja, irgendein Ururgroßvater väterlicherseits stammte von der Iberischen Halbinsel“, entgegnete er und war froh, dass er seine Gesichtszüge, trotz ihrer überraschend widerstandsfähigen Begrüßung, so gut unter Kontrolle hatte.

„Wo bist du aufgewachsen?“, fragte sie. „Dein Akzent klingt nach Småland.“

„Mein Vater war deutscher Diplomat“, erklärte er. „Ich bin in Stockholm geboren, aber wir sind viel umgezogen und haben in verschiedenen Ländern gelebt. In Schweden war ich meistens nur im Winter zum Julfest. Bei meinen Großeltern, die damals in der Nähe von Jönköping wohnten.“ Das stimmte bis hierhin. Seine Großeltern hatten tatsächlich an der Südspitze des Vättern-Sees gelebt. Mal sehen, wie lange er diesmal bei den wahren Begebenheiten bleiben konnte, bevor er gezwungen sein würde, auf eine seiner Ersatzbiografien zurückzugreifen.

„Und wo in den USA lebst du, wenn ich fragen darf?“ Sie nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche.

„In Los Angeles. Und wie steht’s mit dir?“, fragte er zurück, um das Gespräch auf das Objekt seines Interesses zu lenken.

Die Schwedin namens Malin leerte die Flasche Bier und stellte sie mit einem Schmunzeln auf dem Tresen ab. Danach bestellte sie sich beim Barkeeper einen neuen Drink. Am Rande registrierte Ondragon den eifersüchtigen Blick von Luke, ignorierte den Knirps jedoch.

„Ich wohne zurzeit in Göteborg, bin aber in einer weniger sonnenverwöhnten Gegend aufgewachsen. Geboren bin ich in Kiruna am Polarkreis. Dort, wo es auch im Sommer arschkalt ist. Das ist auch der Grund, warum ich nach Südschweden gezogen bin. Etwas längere Sommer und mildere Winter.“ Malin schüttelte sich, als überkäme sie ein Frösteln. „Ich mag den Winter nicht besonders. Mir liegen mehr die wüstenhaften Temperaturen. Und dass, obwohl mein Großvater noch Rentierherden durch die Taiga getrieben hat!“

Aha, in ihren Adern floss also das Blut der Sámi, der Ureinwohner Skandinaviens. Das erklärte vermutlich auch ihre dunkle Haarfarbe.

„Dann bist du bestimmt wegen der warmen Temperaturen hier“, mutmaßte Ondragon. „Machst du Urlaub?“

„Nicht direkt.“ Etwas verlegen fuhr sie mit dem Finger über den Rand des Glases. „Eigentlich bin ich Geologin und arbeite an der Universität von Göteborg.“

Verdammt! Geologin! Darauf hatte er nicht getippt. Das waren dann wohl die üblichen zwei Prozent Fehlerquote. Aber immerhin war er nahe dran gewesen. Wie Archäologen wühlten schließlich auch Geologen gerne im Dreck „Also interessierst du dich für Steine?“

Malin lachte. „Nein, eher für Öl, Gas und Erze. Ich bin Lagerstättenkundlerin.“

„Dann bist du hier auf Prospektion oder auf Exkursion mit Studenten?“

Wieder schüttelte sie den Kopf. „Es ist mehr eine Expedition. Und was hat dich hier nach Casablanca verschlagen?“

Sie wollte ablenken, das spürte er. Aber er würde nicht lockerlassen. „Och, dafür gibt es einen ziemlich langweiligen Anlass, ich bin Geschäftsreisender und habe hier Termine.“

„Geschäftsreisender, soso.“ Sie taxierte ihn mit einem Blick, der ihm nicht ganz Glauben schenkte. „Welche Branche?“

„Unternehmensberatung.“ Da war sie, die erste Lüge. Ondragon ließ sich nichts anmerken. Es war wie immer. Spätestens bei der dritten Frage war er raus aus dem Club der Ehrlichen. Er seufzte innerlich. Manchmal machte das Spiel mit verschleierten Identitäten keinen Spaß. Er lehnte sich etwas näher zu ihr rüber, sog ihren Duft ein und sagte mit leiser Stimme: „Da ich dir nun die ganze traurige Banalität meines Aufenthaltes hier in Marokko dargelegt habe, würde ich doch gerne wissen, auf was für einer Expedition du dich befindest.“

Sie sah ihn mit einem undurchdringlichen Blick an. Dann drehte sie ihren Kopf und schaute kurz zu Luke hinüber. Er war die Mutter der Eifersucht und kochte förmlich. Aber nur nach außen hin. Im Innern verbarg sich mit großer Sicherheit nur ein kleines, unbeholfenes Häufchen Elend aus Mutlosigkeit und kindlichem Trotz.

Sorry, Kleiner, aber der Abend gehört mir, dachte Ondragon und verzog amüsiert die Mundwinkel.

„Ich bin nicht nur Geologin“, sagte Malin Ysanter schließlich, „sondern auch Jägerin.“

Fast hätte sich Ondragon an einer der Gurkenscheiben aus dem Drink verschluckt. „Jägerin? Kein Scherz?“, fragte er.

Malin schüttelte den Kopf. „Das ist sozusagen mein Zweitjob: Großwildjägerin.“

Das musste er erst mal verdauen. Ondragon glaubte zwar nicht ans Schicksal, aber das war schon ein verdammt seltsamer Zufall. Erst jene schöne Ojibway-Indianerin vor zwei Jahren und jetzt diese unwiderstehliche Frau aus dem hohen Norden! Warum verguckte er sich ausgerechnet immer in Jägerinnen? Waren sie seine Nemesis? Die Nemesis im Gewand der Jagdgöttin Diana? Zutiefst verzückt trank er den Rest seines Cocktails aus.

Währenddessen deutete Malin sein Schweigen falsch und redete einfach weiter, so als ob sie sich dafür entschuldigen müsse, dass sie als Frau einer solch martialischen Tätigkeit nachging.

„Ich habe die Jagd schon als Kind gelernt, mein Großvater hat es mir damals beigebracht. Heute verschafft mir die Jagd die Möglichkeit, seltene und faszinierende Tiere in den abgelegensten Regionen der Welt beobachten und jagen zu dürfen. Als Geologe kommt man ja auch viel rum, aber das ist am Ende nicht annähernd so aufregend wie die Jagd.“

„Was hast du denn schon alles so geschossen?“, fragte Ondragon und brach endlich sein Schweigen. Er war begierig darauf, mehr von ihr zu erfahren.

„Ach, ich hatte schon alles vor der Flinte“, entgegnete sie. „Vom Grizzly bis zum Walross. Am liebsten sind mir aber Aufträge wie dieser hier. Lebende Tiere zu fangen und wohlbehalten an einen anderen Ort zu verfrachten. Das ist nämlich weit anspruchsvoller, als ein Tier einfach nur abzuknallen.“

„Das kann ich mir vorstellen. Und hinter welcher Spezies bist du her?“

Sie zögerte erneut. Doch dann gab sie ihr Geheimnis preis. „Ich habe den Auftrag, ein weißes Dromedar zu fangen.“

„Aha, und was ist daran jetzt so besonders?“

„Mein Auftraggeber ist einer der reichsten Männer in den Emiraten. Er hat von der besonderen Rasse der Ebäydäg gehört, so heißen die vollkommensten aller weißen Dromedare in der Sprache der Tuareg, und nun will er unbedingt ein Exemplar in seiner Sammlung haben. Aber kein gezüchtetes, nein, er will einen Wildfang! Leider kommt man nur schwer an diese weißen Geisterdromedare heran. Sie sind sehr scheu und leben in der tiefsten Sandwüste der westlichen Sahara. Es sind tatsächlich sehr anmutige Tiere und faszinierend genügsam.“

Ondragon fand zwar nicht, dass der Begriff Anmut in irgendeiner Weise auf Dromedare zutraf, aber er wusste, dass sämtliche Araber geradezu vernarrt in diese hässlichen Biester waren. Edelblütige Dromedare standen in der Rangliste der Musthaves eines Scheichs noch vor dem Ferrari, dem Rennpferd und dem Jagdfalken. „Und da reist du demnächst hin?“, fragte er so beeindruckt, wie ein Unternehmensberater es sein konnte „Mitten in die Wüste?“

„Ja, und ich freu mich schon riesig darauf. Ich liebe die Wüste! Wir müssen nur noch auf die Fluggenehmigungen warten. Ansonsten steht alles bereit.“

Da schau her, dann hatten sie ja nicht nur dasselbe Ziel, sondern auch die gleiche gemeinsame Hürde zu meistern.

„Darf ich dich was fragen, Malin?“

„Nur zu“, antwortete sie bereitwillig.

„Ist das, was du da tust, immer legal? Ich meine, sind es immer nur Tiere, die sowieso zum Abschuss freigegeben sind, oder auch mal welche, die auf der Liste der bedrohten Arten stehen?“

Sie senkte ihre Stimme. „Ist deine Arbeit immer legal?“

Er lächelte feinsinnig. „Nicht unbedingt.“

„Nun“, sagte sie, „dann hast du die Antwort. Dieser Auftrag ist allerdings von höchster Stelle abgesegnet.“

Ondragon lächelte versonnen. Als er sich gerade fragte, ob sie auch Drachen jagte, da stand Luke vom Nachbartisch auf und stiefelte mit einer übersehbaren Geste des Missfallens aus der Bar. Kapitulation auf ganzer Linie!

„Und wer ist der?“ Ondragon wies mit dem Daumen auf die zuschlagende Tür.

„Das ist Pelle Knatte, mein Pilot.“

Kein Wunder, dachte er beinahe mitleidig. Mit so einem Namen hatte man schon verloren.

„Ich kann unsere Maschine zwar selbst fliegen“, fuhr Malin fort, „aber ich brauche beide Hände frei zur Beobachtung und zum Schießen. In diesem Fall mit dem Narkosegewehr. Pelle ist sehr oft mit mir unterwegs. Er ist etwas vernarrt in mich, fürchte ich, aber er ist ein guter Pilot.“

Top Gun, schon klar. Ondragon schob seine Hand näher an ihre heran. Auch Malin war dichter an ihn herangerückt und berührte mit ihrem Knie fast das seine, was sich fatal auf seine Libido auswirkte. Zwischen Bauchnabel und Oberschenkeln begann es lebhaft zu lodern. Wie lange hatte er keinen Sex mehr gehabt? Zu lange. Irgendwie hatte sich seine Arbeit in letzter Zeit immer in den Vordergrund gedrängt. Oder vielmehr seine Besessenheit, Probleme zu lösen. Ob es ihr auch so erging? Malin Ysanter …

Sie sahen einander eine Weile schweigend an. Die Luft zwischen ihnen knisterte so laut, dass Ondragon fürchtete, die anderen Besucher der Bar könnten es hören und sich neugierig zu ihnen umdrehen. In diesem Augenblick wäre jeder Beobachter zu demselben Schluss gekommen.

„Gehen wir auf mein Zimmer oder auf deins?“, stellte Malin die klassische Frage und sah ihn bedeutungsvoll an.

Ondragon senkte ergeben den Kopf. In diesem Fall ließ er sich gerne erobern. Schließlich war sie eine Jägerin, und diese kamen ihrer Beute bekanntlich immer zuvor.

„Stehst du auf Rüschen?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

„Nun, dann gehen wir zu dir.“ Er legte dem Barkeeper vierhundert Dirham auf den Tresen und erhob sich. Er war froh, dass sie nicht zu ihm wollte, denn ihm fiel ein, dass sein Zimmer voller Tüten dubiosen Inhalts war. Eine passende Erklärung dafür zu finden, wäre schwer gewesen. Er nahm Malin leicht beim Ellenbogen und führte sie zu den Fahrstühlen. Als sich die Tür geschlossen hatte, tauschten sie einen Blick aus, der selbst den Papst hätte erkennen lassen, was sie gleich vorhatten. Ondragon sah ihre Lippen zucken und fühlte sich magisch von ihnen angezogen. Er könnte sie jetzt küssen … doch er hielt sich zurück. Noch. Die Jägerin sollte ihre Beute erst in ihr sicheres Refugium schleppen.

Zimmer 818. Mit Nerven wie glühende Drähte beobachtete er, wie sie die Tür mit der Keycard öffnete und sie danach in den Schlitz für das Licht steckte. Die Deckenbeleuchtung ging an und sie schob die Tür mit dem Fuß zu. Im selben Moment fiel sie über ihn her.

Die Jägerin warf ihre Beute mit dem Rücken gegen die Wand, packte seine Haare und küsste ihn direkt auf den Mund. Bereitwillig ließ Ondragon es geschehen und genoss es, wie ihre Hände fordernd über seinen Körper glitten. Sie war ziemlich kräftig und ihre Bewegungen zielstrebig. Mit dieser Frau, das wusste er, würde seinen Spaß haben.

Während sie ihm unverfroren in den Schritt griff und seine Erektion befühlte, zerrte er an ihrer Tunika. Scheißhinderliches Kleidungsstück! Die Araber wussten schon, warum sie ihre Frauen in solch umständliche Säcke packten! Er schob den Stoff bis zu ihrem Bauchnabel hoch und blieb dort hängen. Doch Malin kam ihm zur Hilfe und zog sich das Gewand über den Kopf. Darunter trug sie einen hellbauen Spitzen-BH. Eine angenehme Überraschung angesichts ihrer doch eher pragmatisch anmutenden Garderobe – als hätte sie es darauf angelegt, heute jemanden abzuschleppen. Der Gedanke zuckte kurz durch Ondragons umnebeltes Hirn, verschwand aber gleich darauf wieder, denn es war ihm egal. Sie war schließlich eine Jägerin, und diese Art von Frau machte das so. Der Anblick war jedenfalls göttlich, wie sie ihr Haar schüttelte, damit es frei über ihre bloßen Schultern fallen konnte. Dabei wogten ihre Brüste leicht in der aufreizenden Verpackung aus Spitze. Ondragon fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Es war Zeit, die Rollen zu tauschen!

Er stieß sich von der Wand ab und drängte sie zum Bett. Dabei verhielt sie sich nicht ganz so willfährig, wie er es sich erhofft hatte. Sie presste beide Hände gegen seine Brust und stemmte sich gegen ihn. Dabei fand ihr Mund wieder seine Lippen und saugte hungrig daran. Danach wanderte sie zu seinen Ohrläppchen und überzog anschließend seinen Hals mit kleinen Bissen. Kaskaden von wohligen Schauern jagten über seinen Körper. Er stöhnte leise auf und endlich gab sie seinem Drängen nach und ließ sich rücklings auf das Bett fallen.

Ohne sie aus den Augen zu lassen, strich er sich das Jackett von den Schultern, öffnete sein Hemd und seine Hose und ließ komplett die Hüllen fallen. Vor ihm räkelte sich Malin wie eine Raubkatze auf dem Laken. Sie hatte noch immer ihre Hose an, und nach dem Rollenwechsel erwartete sie jetzt, dass er sie ihr auszog. Mit Vergnügen! Ondragon beugte sich vor, packte sie an den Hüften und zog sie mit einem Ruck zu sich heran. Nach wenigen geschickten Handgriffen war sie ihre Hose los und, ehe sie es sich versah, auch die hübschen Dessous. Keineswegs schüchtern präsentierte sie ihm ihre umwerfende Weiblichkeit.

Ondragon warf sich auf sie und schlug nun seinerseits die Zähne in ihr Fleisch. Sein Verlangen wuchs bis ins Unerträgliche, während er jeden Zentimeter ihres Körpers voll auskostete und schließlich bei ihren Brustwarzen ankam. Unvermittelt hart drang er in sie ein. Wild warf sich Malin ihm entgegen und kämpfte mit ihm um das Tempo seiner Stöße. Sie schrie und wand sich unter ihm, als sei sie besessen und er der Leibhaftige. Und als sie mit einem mächtigen Erbeben kam, schrie er ebenfalls auf, weil sie ihm ihre Fingernägel tief in den Rücken bohrte. Dann kam auch er.

Erschöpft ließ Ondragon sich auf den Rücken rollen und starrte glückselig an die Decke. Neben ihm seufzte Malin zufrieden und stützte sich auf einen Ellenbogen.

„Für einen Unternehmensberater hast du aber ein schickes Tattoo!“, sagte sie und stieß mit dem Finger auf den Drachen, der sich auf seiner Brust schlängelte.

„Danke“, antwortete er schlicht.

Ihr Finger wanderte weiter nach unten und fand die Stelle, an der ihn zwei Jahre zuvor Kateris Pfeil getroffen hatte. „Und verdammt viele Narben!“