••• ABENDS ••• LEON •••

Leon klappte seinen Laptop zusammen und mühte sich, ihn in die überquellende Reisetasche zu zwängen. Tia war bereits mit Packen fertig und hatte sich zu ihm auf das Sofa gesetzt. Am folgenden Morgen würden sie nach Berlin zurückkehren – es war höchste Zeit, denn Leons Urlaub war zu Ende und das Hotelzimmer nicht billig.

«Hast du auch nichts vergessen?», fragte Leon wie üblich.

«Nicht dass ich wüsste.» Tia seufzte. «Das Einzige, was fehlt, ist mein Cave-Suit – jammerschade, dass er verbrannt werden musste.» Wieder seufzte sie. «Ach, da fällt mir doch etwas ein! Ich habe den Bericht der Klinik über den Pilz vergessen.»

«Keine Sorge», sagte Leon und griff nach den Blättern, die sie auf den Schreibtisch gelegt hatte. «Er ist hier. Soll ich ihn dir vielleicht vorlesen?»

«Wärst du so lieb?»

Leon überflog den Bericht, der von Tabellen voller Messwerte und Aufnahmen eines Elektronenmikroskops durchsetzt war. «Ich verstehe natürlich nicht jedes Wort, schließlich bin ich kein Biologe», begann er, las hier und dort einen Absatz und versuchte den Sinn des Textes zu erfassen. «Sie schreiben, dass es sich um ein einzigartiges Exemplar handelt. Die Mikrostruktur ähnelt der eines Schimmelpilzes, der auch in Tschernobyl gefunden wurde. Die Makrostruktur dagegen – riesige Gewebe mit wurzelartigen Ranken – kennt man bisher nur von holzfressenden Pilzen. Am wahrscheinlichsten ist eine Hybride, eine bislang unbekannte Kreuzung zweier Arten – du hattest also recht!»

Tia nickte befriedigt.

«Der Forschungsleiter schlägt die Bezeichnung Cryptomyces radiophilus vor.» Leon blätterte eine Seite um, las den Schluss des Berichts und schmunzelte unwillkürlich. «Hier steht: In einem Zeitungsbericht wurde der Pilz dagegen als Cryptomyces traveeni bezeichnet – offenbar dir zu Ehren.»

Tia lachte. «Na, wenn das nicht das Werk unserer lieben Carolin Frey ist! Vielleicht sollte ich wirklich mal das Lindener Tageblatt lesen.»

«Tja, die gute Frau bewundert dich eben.»

«Meinst du? Was gibt’s denn an mir zu bewundern?»

Einiges, dachte Leon heimlich. Tia lehnte in der Sofaecke, in einem schlichten, hüftlangen T-Shirt, einen Arm auf die Lehne gelegt, die nackten Beine lang ausgestreckt. Sie hatte den Kopf leicht geneigt, das dunkle Haar fiel ihr in die Stirn, und der nachdenkliche Ausdruck ihrer blinden Augen war anrührend wie stets. Resigniert fragte sich Leon, ob er den Rest seines Lebens damit verbringen würde, sie anzuschmachten, ohne dass sie es merkte.

«Wenn wir in zwei Wochen zur Nachuntersuchung wiederkommen, sollten wir uns eine günstigere Bleibe suchen», sagte sie, sichtlich nicht das Geringste von seinen Gedanken ahnend. «Ich habe ohnehin schon ein schlechtes Gewissen, weil du die Hotelrechnung bezahlst.»

«Kein Problem», winkte Leon ab. «Schließlich bin ich derjenige mit einem gutdotierten Job. Von den paar Kröten, die deine Assistentenstelle an der Uni einbringt, könnten wir nicht einmal den Wagen bezahlen. Aber wenn es dir unangenehm ist, sollten wir vielleicht Justin fragen, ob wir für zwei Tage bei ihm unterkriechen können.»

«Gute Idee.»

«Machst du dir Sorgen wegen der Nachuntersuchung?»

«Nein, ich habe keine Angst deswegen.»

«Auch nicht wegen des Krebsrisikos? Stell dir vor, wir würden jung sterben.»

«Werden wir nicht», sagte Tia überzeugt.

«Und wenn doch?» Kurzentschlossen wagte Leon, etwas näher an sie heranzurücken. «Das Leben kann verdammt kurz sein – vor allem, wenn man nie dazu kommt, das zu tun, was man schon immer tun wollte.»

«Dafür gibt es doch eine ganz simple Lösung», meinte Tia. «Tu das, was du schon immer tun wolltest, lieber heute als morgen.»

Leon schluckte. «Du meinst: hier und jetzt?»

Tia wandte ihm erstaunt das Gesicht zu. Er konnte kaum glauben, dass sie ihn nicht wahrnahm, denn er sah sein eigenes Gesicht im Spiegel ihrer Pupillen.

Ist das schon wieder der falsche Zeitpunkt?, fragte er sich.

Es ist nie der richtige Zeitpunkt, antwortete eine zweite Stimme in seinem Kopf. Folglich war dieser Augenblick ebenso gut wie jeder andere.

Sehr langsam neigte er sich vor und näherte sich Tias Gesicht. Der Anblick ihrer leicht geöffneten Lippen ließ ihn vor Verlangen schaudern. Doch er hatte für einen kurzen Augenblick vergessen, wie sensibel Tia auf Luftbewegungen reagierte. Ganz plötzlich wandte sie den Kopf zur Seite, und Leon hätte schwören können, dass es kein Zufall war – sie hatte seinen näher kommenden Atem gefühlt.

«Oh mein Gott», flüsterte sie erschrocken.

Leon hielt inne. «Was hast du denn? Ich wollte mir nur einen Wunsch erfüllen, ganz wie du gesagt hast

«Hat dein Wunsch vielleicht … etwas mit mir zu tun?»

«Allerdings, das hat er», sagte Leon, des Versteckspiels müde. «Schön, dass du das auch einmal merkst.»

Schweigend starrte Tia zu Boden. Sofort bereute Leon seinen sarkastischen Ton, wusste jedoch nicht recht, wie er die Situation entschärfen sollte. Er war zu weit gegangen – und nun war es um die Unbefangenheit geschehen, die bisher ihren Umgang geprägt hatte. Was sollte er tun? Sich entschuldigen?

«Es tut mir leid, Leon», kam sie ihm überraschend zuvor. «Ich hatte schon manchmal das Gefühl, dass du …» Sie suchte nach Worten, errötete leicht und wandte sich ab. «Ich … war mir nur nicht sicher.»

«Sieh mal an!», wunderte sich Leon. «Aber du hast keinen Ton gesagt.»

«Du doch auch nicht!»

«Ich glaube, ich habe mehr als genug Andeutungen gemacht, die eine intelligente Frau nicht missverstehen kann.»

Tia seufzte. «Ich wollte sie nicht verstehen, Leon.»

«Und warum nicht?»

Sie schwieg einen Moment.

«Ich brauche einfach Zeit», sagte sie endlich.

«Zeit? Du hattest zwei Jahre Zeit!»

«Es dauert lange, einen Menschen kennenzulernen, wenn man nur auf Gehör und Geruchssinn angewiesen ist.»

«Es hätte dir jederzeit freigestanden, ein paar zusätzliche Erfahrungen mit dem Tastsinn zu machen.»

Gerührt bemerkte Leon, dass sie über seine Schlagfertigkeit schmunzelte.

«Du bist süß», sagte sie sehr leise, wurde jedoch sofort wieder ernst. «Ich kann nur wiederholen, dass es mir leid tut. Ganz bestimmt wollte ich dir nicht wehtun. Es ist nur …»

«Ja?»

«Ich habe Angst.»

Nun war es Leon, der sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. «Du hast Angst? Ich dachte, dieses Gefühl kennst du überhaupt nicht.»

«So scheint es vielleicht», gab Tia zu. «Ich fürchte mich nicht vor der Dunkelheit, nicht vor Gefahren für Leib und Leben, aber …»

«Aber vor der Liebe, nicht wahr?», sagte Leon ihr auf den Kopf zu.

«Vielleicht», gestand Tia, das Gesicht noch immer zu Boden gewandt. «Ich weiß es nicht genau. Es liegt nicht an dir, denn ich mag dich wirklich, sogar sehr. Ich habe nur Angst vor Verwicklungen, glaube ich. Vor Problemen. Ansprüchen. Davor, dass die Dinge kompliziert werden. Und ich habe Angst vor …» Tia schwieg einen Augenblick verlegen, fast beschämt. «… vor Intimitäten. Ich habe einfach keine Erfahrung damit, verstehst du?»

«Überhaupt keine?»

«Na ja.» Tia seufzte unbehaglich. «Es gab da mal … eine Art Unfall. Mit einem Jungen in der Strehl-Schule, der in derselben Wohngemeinschaft lebte wie ich. Aber es war …» Sie rang nach Worten. «Es hat nicht funktioniert. Ich wollte es eigentlich gar nicht, und vielleicht hätte ich das deutlicher sagen müssen. Irgendwie konnte ich mir nie vorstellen, dass so etwas in meinem Leben vorkommt. Ich bin nun einmal schwerbehindert, und da dachte ich, dass das Thema Männer sich für mich erledigt hätte.»

«Falsch gedacht», sagte Leon.

Plötzlich fühlte er sich schuldig, sie derart in Verlegenheit gebracht zu haben, und suchte nach einer versöhnlichen Bemerkung. Da ihm nichts Gescheites einfiel, ergriff er vorsichtig ihre Hand, und als sie sich nicht wehrte, begann er behutsam ihre Finger zu streicheln, einen nach dem anderen.

«Das fühlt sich gut an», gab sie leise zu.

Leon grinste. «Du kannst jederzeit mehr davon haben.»

Erneut näherte er sich ihrer Wange – als plötzlich Tias Handy piepte, das auf dem Schreibtisch lag. Erschrocken blickte sie auf.

«Hör nicht hin!», bat Leon.

«Ich muss», sagte Tia. «Es ist wichtig, das habe ich im Gefühl.»

«Wahrscheinlich ist es bloß dein Vater.»

«Bitte gib mir das Telefon!»

Seufzend entsprach Leon ihrem Wunsch.

«Ja?», fragte Tia, das Handy am Ohr. «Ach, Papa … ja, wir reisen morgen ab. Gegen Mittag bin ich da.»

«Gegen Abend!», korrigierte Leon leise. «Nicht vor fünf, sag ihm das!»

Irritiert blickte Tia in seine Richtung. «Ähm – Papa? Es kann auch etwas später werden. Nachmittags, so gegen fünf. Ich komme zum Abendessen zu dir, ja? Schön. Ich freu mich. Schlaf gut!»

Sie klickte das Handy aus und wandte sich Leon zu. «Warum erst so spät? Wir fahren doch keine drei Stunden!»

Leon zuckte die Achseln. «Das Zimmer ist bis mittags gebucht, und ich möchte ausschlafen und in Ruhe frühstücken.»

«Ausschlafen – du?» Tia lachte. «Wann schläfst du jemals länger als bis sieben Uhr?»

Leon überwand sich und wagte es, ihr Gesicht in beide Hände zu nehmen.

«Wenn der Abend lang war», sagte er.

Tia erschauerte ein wenig.

«Hab Geduld mit mir, ja?», flüsterte sie. «Mir fehlt … sozusagen die Übung.»

«Kein Problem», versprach Leon lächelnd.