••• 02 : 30 ••• LEON •••

Nackt stand Leon in der Dunkelheit und lauschte den Geräuschen. Er war froh, dass Justin diesmal nicht die Sekunden zählte. Als in der Nachbarkammer Wasser aufspritzte und ein lautes Prusten herüberdrang, atmete er erleichtert auf.

«Alles klar!», meldete Tia durch die Wandöffnung.

«Dana?», rief Justin beklommen. «Bist du in Ordnung?»

«Alles wird gut», gab Tia zur Antwort, was wohl ebenso sehr zur Beruhigung für Justin wie für seine Freundin gedacht war. Dana schien außerstande zu sprechen und keuchte so laut, als hätte sie einen Asthmaanfall.

«Streichen Sie das Wasser mit den Händen ab!», instruierte sie Tia. «Und auf keinen Fall gleich wieder anziehen! Unser Leben hängt davon ab, dass die Kleider trocken bleiben, verstanden? Ich hole jetzt Ihren Freund. Dann können Sie sich gegenseitig wärmen.»

Ohne eine Antwort abzuwarten, stieg sie ins Wasser zurück, und erneut vergingen zehn Sekunden, bis sie diesseits des Syphons wieder auftauchte. Leon hörte, wie sie näher kam und nach Justin tastete.

«Legen Sie die Arme um meine Taille.»

«Ich schaffe das allein», erklärte Justin tapfer. «Ich hab das Jugendschwimmabzeichen in Silber! Beim Streckentauchen letztes Jahr hab ich fünfzehn Meter geschafft.»

«Ja, bei Sonne, Licht und zwanzig Grad Wassertemperatur», gab Tia trocken zurück. «Kommen Sie schon, Justin – halten Sie sich fest! Es besteht kein Grund zur Schüchternheit.»

Offenbar kam Justin ihrer Aufforderung nach, denn einige Sekunden später gab sie das Kommando zum Einatmen und tauchte ab.

Kein Grund zur Schüchternheit, echoten ihre Worte in Leons Kopf. Auch er würde sich gleich an sie klammern, die Arme um ihre nackten Hüften legen, die Hände vor ihrem Bauch verschränken müssen. So absurd es in der gegenwärtigen Situation auch erscheinen mochte – es war ihm unangenehm.

Kann ich nicht einfach allein tauchen?, dachte er. Wir haben doch das Seil.

Der Gedanke war verführerisch. Für Tia war es bereits der dritte Tauchgang – warum sollte er ihr den vierten nicht ersparen? Was seine Beweglichkeit im Wasser betraf, konnte er Justins Qualifikation jedenfalls überbieten: Leon besaß das Rettungsschwimmerabzeichen, seit er zu Beginn seines Studiums als Aufseher an einem Badesee gejobbt hatte. Er wartete, bis er Tia auf der anderen Seite auftauchen hörte. Dann tastete er sich zum Ufer.

«Tia? Bleib drüben und ruh dich aus!», rief er in Richtung der Wandöffnung über die Schulter.

«Bist du sicher?», drang ihre Stimme gedämpft herüber.

Leon antwortete nicht. Natürlich war er sicher. Sie konnte ihm ruhig einmal etwas zutrauen – schließlich war nicht jeder ständig auf ihre Hilfe angewiesen.

«Ah – verdammt!», zischte er unwillkürlich, als er ins Wasser stieg. Es war so kalt, dass seine Zehen augenblicklich ertaubten und eine Gänsehaut ihm über die Oberschenkel kroch.

Beiß die Zähne zusammen!, befahl er sich selbst, ging langsam in die Hocke und tastete nach dem Seil.

Und los!

Eisige Schwärze umfing Leon. Den Schock, als das kalte Wasser in jede Pore seiner Haut drang und sein Herz heftig schlagen ließ, überstand er recht gut. Weit unangenehmer fand er das Gefühl, nicht länger nur blind, sondern plötzlich auch noch taub zu sein. Die einzige Orientierung in der Leere bot das Seil, an dem er sich vorwärts zog. Es war wie ein Schweben im Nichts, ein Dahintrudeln durch den Weltraum, während er spürte, wie die Luft in seinen Lungen sich langsam verbrauchte.

Au – verdammt!

Ein dumpfer Schlag traf sein rechtes Schienbein, als er bei einer ausladenden Schwimmbewegung eine Felszacke streifte. Der Schmerz kam scharf und plötzlich. Instinktiv zog Leon das Bein an sich und griff mit der Hand danach, wobei er für wenige Sekunden das Seil losließ – doch das genügte, um ihm binnen eines Augenblicks die Orientierung zu rauben. Schwerelosigkeit ergriff ihn, und plötzlich wusste er nicht mehr, wo oben und wo unten war. Erschrocken machte er einige Schwimmstöße und suchte nach dem Seil, fand jedoch nur gestaltloses, eisiges Wasser. Endlich stieß er auf eine Wand, doch er hatte keine Ahnung, in welcher Richtung er sich daran entlangtasten sollte.

Egal wohin … Hauptsache raus aus dem Wasser!, dachte er. Schlimmstenfalls lande ich wieder dort, wo ich gestartet bin, und stehe vor den anderen als Idiot da.

Eilig zog er sich voran, nach jedem Felsvorsprung greifend, zwei Meter, drei Meter, vier. Er spürte einen zunehmenden Druck auf der Brust. Sein Luftvorrat wurde knapp. Sechs Meter, acht Meter – doch die Wand wich nicht zurück, sondern wölbte sich sogar nach unten.

Falsche Richtung! Umkehren!

Leon geriet in Panik. Er drehte sich im Wasser, stieß sich von der Wand ab – wobei sein verletztes Bein heftig protestierte – und schwamm in die Gegenrichtung.

Weiter! Weiter! Schnell!

Während er sich vorwärts hangelte, spürte er, dass sein Bewusstsein sich einzutrüben begann. Die Luft war verbraucht. Irgendwann würde sich sein Mund reflexartig öffnen, ohne dass er es verhindern konnte. Die Restluft würde aus seinen Lungen entweichen, Wasser würde hineinströmen und die verästelten Kavernen ausfüllen, die sich ebenso schmerzhaft wie vergeblich dagegen verkrampften. Herzstillstand nach fünf bis sechs Sekunden – mit Sicherheit die längsten Sekunden seines Lebens.

Die Wand wich nach oben zurück. Leon stieß sich aufwärts, so schnell er es vermochte, durchpflügte mit beiden Armen das Wasser. Falls er nicht die Öffnung des Syphons erreicht hatte, konnte es leicht geschehen, dass er mit dem Kopf gegen die Decke schlug – doch es war ihm gleichgültig. Eine rasche Ohnmacht war dem Ertrinken bei vollem Bewusstsein vorzuziehen.

Als er die Oberfläche durchbrach und Luft auf seinem Gesicht spürte, konnte er es kaum glauben. Keuchend dehnten sich seine Lungen zu einem verzweifelten Atemzug, während er heftig paddelte, um oben zu bleiben. Er versuchte zu schreien – nach Tia, nach den anderen. Es kümmerte ihn nicht mehr, dass er sich blamierte. Doch es gelang ihm nicht, denn er hatte keinen Atem für seine Stimme übrig.

Wo war das Ufer? Er sah nur gestaltlose Schwärze, und selbst seine Ohren, noch halb mit Wasser gefüllt, erlaubten ihm keine Orientierung. Wenn er sein Ziel erreicht hatte, warum zogen die anderen ihn nicht ans rettende Land?

«Tia!» Noch immer gelang ihm kein Schrei, stattdessen keuchte er halblaut ihren Namen. Aus der Dunkelheit ringsum kam keine Antwort.

Leon sammelte seine letzten Kräfte für ein paar fahrige Schwimmzüge. Die Richtung wählte er aufs Geratewohl. Als er an eine senkrechte Wand stieß, schob er sich daran entlang, bis er Widerstand unter den Füßen spürte. Der Syphon wurde flacher.

Gott sei Dank 

Er ertastete das Ufer und krallte beide Hände um einen Felsvorsprung. Mühsam gelang es ihm, den Oberkörper an Land zu wuchten, die Beine nachzuziehen und sich keuchend auf den Rücken zu rollen.

Leon war gerettet – und dennoch hatte er kaum das Gefühl, dem Wasser entkommen zu sein, denn seine Haut war noch immer gefühllos vor Kälte. Erst als sein Atem sich so weit beruhigt hatte, dass er wieder klar denken konnte, stellte er sich die unvermeidliche Frage.

Wo bin ich?