Der Schacht neigte sich in einem Winkel von sechzig Grad und war so schlüpfrig wie eine Wasserrutsche. Tia begriff sofort, dass es keinen Zweck hatte, klettern zu wollen. Stattdessen drehte sie sich auf den Rücken und ließ sich langsam hinabgleiten, die Bremshand am Seilzug. Die Reibung blieb erträglich, denn der feuchte Film auf der Oberfläche des Gesteins ließ ihren Körper wie auf Seife schlittern.
Ihre Haut empfing eine Unmenge an Sinneseindrücken und bildete jede geringfügige Unebenheit des zylindrischen Schachtes ab. Der modrige Geruch, der zu ihr emporstieg, war für sie weit weniger unangenehm als für andere Menschen, denn sie konnte ihn mühelos in seine Bestandteile zerlegen. So atmete sie tief und gab sich ganz ihren Sinnen hin, die nicht mehr vom Wirrwarr der Zivilisationsgerüche und -geräusche beeinträchtigt wurden: Hier rauschte keine Heizung, keine Uhren tickten, keine Klimaanlagen summten, und auch der allgegenwärtige Geruch von Reinigungsmitteln, der die Räume der Tagwelt beherrschte, fehlte. Tia war in ihrem Element. Hier unten gab es nur sie – und die Tiefen der Erde.
«Grubenfunk: Test», drang Leons Stimme aus dem Headset an ihrem Ohr.
«Alles bestens», antwortete Tia. «Ich höre dich klar und deutlich.»
«Schon irgendwelche Erkenntnisse?»
«Ja. Ich kann korrodiertes Metall und Holz riechen – wahrscheinlich Abfälle, Balken und alte Fässer, wie Bringshaus vermutet hat. Außerdem steigt einiges an Schwefelverbindungen zu mir hoch, aber in ungiftiger Konzentration. Was den dominierenden Geruch betrifft, diese leicht modrige Note …»
«Ja?»
«Ich glaube, es ist Geosmin, jedenfalls ein biogener Alkohol.»
«Das deutet auf Fäulnisprozesse hin, nicht wahr?»
«Am ehesten auf hyphenbildende Mikroorganismen, speziell Streptomyceten oder Pilze.»
«Gefahr beim Einatmen?»
«Nicht bei intaktem Immunsystem, denke ich. Vielleicht sind ein paar Sporen in der Luft, aber deswegen greife ich nicht gleich zum Atemfilter.»
«Na gut – du bist der Boss.»
Tia musste lächeln über diese Formulierung, die er nicht selten benutzte. Währenddessen fühlte sie, dass sie sich dem Ende des Schachts näherte, und verlangsamte ihr Tempo. Als ihre Füße ins Leere hinausglitten, stoppte sie und rollte sich auf den Bauch.
«Ausstieg. Ich habe die Schachtöffnung erreicht.»
Vorsichtig ließ sie sich weiter hinab, bis ihre Beine frei in der Luft hingen. Dabei nahm sie deutlich wahr, dass der Schacht in einen umfangreichen Hohlraum mündete. Mehrere hundert Kubikmeter kalter Luft bildeten eine kompakte Masse, die ihren Körper umfloss wie träges Wasser, sich bei der Berührung mit ihrer Haut erwärmte und langsam aufwärts stieg. Kleine Wirbel fächelten über ihre Schienbeine, bewegten die winzigen Vellushärchen der Haut und zeigten eine schwache Luftzirkulation an.
Tias Körper glitt aus der Schachtöffnung und schwebte nun in einer leicht nach hinten geneigten Sitzposition. Als sie die Beine streckte, berührten die Spitzen ihrer Stiefel eine senkrecht abfallende Wand. Langsam drehte sie sich um sich selbst und schnalzte mit der Zunge, regelmäßig wie ein Metronom, im Rhythmus ihres eigenen Herzschlags. Der Klang veränderte sich deutlich, je nach den Reflexionsbedingungen der Umgebung: Nahe Hindernisse warfen ein kurzes, stumpfes Echo zurück, ferne Wände einen klingenden Widerhall, gesättigt von den Bewegungen der dazwischenliegenden Luft. Tia sah den Raum deutlich vor sich: Ihr Geist bildete ihn ab, konstruierte ihn, baute ihn auf wie aus Pixeln, die keine Farbinformationen, sondern lediglich Schwingungen verzeichneten.
«Ich befinde mich am schmaleren Ende einer linsenförmigen Höhle, etwa vierzig Meter lang und fünfzehn Meter breit. Die Seitenwände sind stark zerklüftet. Der Boden ist viel näher, als Herr Bringshaus vermutet hat, denn direkt unter mir türmt sich ein kegelförmiger Hügel bis auf wenige Meter unterhalb der Decke. Wahrscheinlich besteht er aus all den Abfällen, die im Lauf der Zeit hier herabgeworfen wurden.»
«Und das alles kann sie nur an den Bewegungen der Luft ablesen?», hörte Tia Bringshaus flüstern, der offenbar gespannt mithörte.
«Irgendein Zeichen von unseren beiden Vermissten?», fragte Leon, der ihn ignorierte.
«Augenblick …» Tia winkelte die Knie an, als sie den Boden näher kommen fühlte. Ihre Füße setzten auf einem Haufen kreuz und quer liegender Gegenstände auf.
«Touchdown», meldete sie. «Ich beginne mit der Suche. Wie ist der Name des Jungen?»
«Finn», soufflierte Bringshaus nah am Mikrofon.
«Finn?», rief Tia. «Dana? Sind Sie hier?»
Sie tat einen zögernden Schritt, geriet jedoch ins Stolpern und keuchte erschrocken.
«Alles in Ordnung?», drang Leons besorgte Stimme aus dem Headset.
«Ja. Merkwürdige Bodenbeschaffenheit … Fühlt sich an, als laufe man auf Watte.» Tia ließ sich auf die Knie nieder und tastete. Ein Schauder überlief ihre nackten Arme und kroch bis in den Rücken hinauf. Als ihr Gehirn abzubilden versuchte, was ihre Finger erfühlten, formte sich eine groteske Vorstellung in ihrem Geist, am ehesten vergleichbar mit einem riesigen, unförmigen Körper, der von zottigem Pelz bedeckt war. Ganze Büschel überzogen die Oberfläche, die sich an einigen Stellen zu federnden Matten verdichteten, andernorts zu filigranen Netzen spreizten. Einzelne dickere Ranken, etwa vom Umfang eines Schnürsenkels, durchzogen das Gewebe wie verästelte Adern. Erst als Tia die Büschel auseinanderschob – was einige Mühe erforderte –, konnte sie darunter rostiges Metall und feuchte Erde tasten. Sie stand auf einem Müllberg, bestehend aus verstreuten Fässern, Holzabfällen und anderem Unrat, der von dem seltsamen Geflecht wie von Gras überwachsen war.
Ein Geräusch drang an ihre Ohren: der nahezu unhörbare Atem eines Menschen. Tia ließ sich auf Hände und Knie nieder und kroch in die Richtung, in der sie den Ursprung des schwachen Hauchs vermutete. Ihre Finger glitten über unförmige Erhebungen am Boden, ebenfalls von Faserbüscheln überzogen. Schwache Wärme stieg ihr ins Gesicht, zusammen mit dem Geruch eines menschlichen Körpers.
«Ich habe den Jungen!», meldete sie. «Er lebt.»
«Gott sei Dank», antwortete Leon. «Wie ist sein Zustand?»
«Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll …» Tia zögerte, während sie die wenigen Stellen nackter Haut befühlte, die sie erreichen konnte. Der junge Mann lag ausgestreckt auf dem Rücken und atmete schwach, aber regelmäßig. Sein rechtes Bein war verdreht und offenbar mehrfach gebrochen – da konnte man seine Bewusstlosigkeit als Segen betrachten. Was Tia weit mehr alarmierte, war die Tatsache, dass das Fasergeflecht fast seinen gesamten Körper bedeckte, als hätte eine gigantische Spinne ihn eingesponnen. Ganze Büschel wanden sich um seine Beine und hatten sich quer über Brust und Hüften gelegt, als wollten sie ihn am Boden halten. Auch der Kopf des jungen Mannes war zur Hälfte überwuchert: Die Flechten hatten sein Haar, seine Wangen, seine Ohren und den nackten Hals erfasst und wie mit feuchtem Moos bedeckt. Bei dem Versuch, die Fasern fortzuwischen, stellte Tia fest, dass sie überraschend zäh waren und auf der Haut hafteten.
«Der Junge ist bewusstlos. Komplizierte Unterschenkelfraktur, deutlich tastbar. Puls und Atmung sind verlangsamt, aber stabil. Doch da ist noch etwas … etwas Seltsames, eine Art Fasergeflecht. Es hat die ganze Hügelkuppe überwuchert, als hätte man eine Grasmatte darüber gebreitet. Das muss den Sturz des Jungen abgefedert haben, andernfalls hätte er sich sämtliche Knochen gebrochen.»
«Was ist das für ein Zeug?»
«Eindeutig organisch, jedenfalls dem Geruch nach. Das Problem ist: Es bedeckt nicht nur den Boden, sondern auch den Körper des Jungen. Er ist eingesponnen wie in einen Kokon. Ich werde ihn erst freisäbeln müssen, damit ihr ihn hochziehen könnt.»
«Tia, das klingt …»
«Unglaublich, ich weiß.»
Obwohl tausend Fragen offenblieben, brach sie ihre Untersuchung ab und richtete sich auf. Finn lebte, und die Grundregeln der Notrettung verlangten, dass sie sich nach der zweiten Verunglückten umsah, bevor sie ihn in Sicherheit brachte. Dem Mädchen – Dana – ging es womöglich noch schlechter als Finn.
«Dana?»
Sie wartete, bis das Echo ihrer eigenen Stimme verklungen war, und lauschte konzentriert. Es dauerte einen Moment, doch dann ortete ihr empfindliches Gehör ein leises Keuchen in mindestens zwanzig Meter Entfernung, weitab im hinteren Teil der Höhle.
Vorsichtig setzte sie sich in Bewegung und kroch auf allen Vieren den Müllberg hinab. Der flache Abhang war von verstreuten, teilweise geborstenen Fässern bedeckt, doch das Fasergeflecht überzog die Metallkörper wie ein Polster, hinderte sie am Verrutschen und war zäh genug, dass sich Tia daran festhalten konnte. Ihre nackten Arme und Beine kribbelten, als protestierten sie gegen die Berührung der fremdartigen Substanz.
Tia erreichte den Boden der Höhle, klinkte das Kletterseil aus und richtete sich auf. Wasserpfützen gurgelten unter ihren Stiefeln, als sie sich der linken Seitenwand der Höhle näherte und in eine flache Mulde tappte. Sie streckte die Hand aus und stellte fest, dass auch die Wand von Fasern überzogen war: Der seltsame Pelz wucherte vom Boden bis zur Decke hinauf wie Efeu an einer Mauer.
«Dana, wo sind Sie?»
Das Atemgeräusch drang aus einem schmalen Hohlraum in Bodennähe. Tia ließ sich auf die Knie nieder. Etwa auf Hüfthöhe bildete das Gestein einen Vorsprung, und darunter befand sich ein enger horizontaler Spalt, der etwa einen Meter tief ins Gestein hineinführte. Tia ertastete den Innenraum und stieß auf einen Fuß, der abwehrend zuckte, als sei er von einer Tarantel berührt worden.
«Ganz ruhig!», sagte sie. «Ich bin hier, um Ihnen zu helfen.»
Sie packte den Fuß mit beiden Händen und wartete, bis die reflexhaften Bewegungen erschlafften. Oberhalb des linken Knöchels, wo das Hosenbein hochgerutscht war, konnte sie eine Schürfwunde erspüren. Das Gewebe war geschwollen – und von wattigen Flechten überwachsen, die einen kompakten Belag bildeten. Die fremdartige Substanz war durch ein ganzes Büschel von Fäden mit dem Bewuchs am Boden verbunden, als hätte sich eine vielfingrige Hand nach dem Mädchen ausgestreckt und ihr Bein umfasst.
Dana antwortete nicht. Behutsam tastete Tia sich weiter vor, erfühlte eine Wade, ein Knie, schließlich den Bund einer Hose. Der Körper des Mädchens schien seltsam verdreht: Offenbar war sie in nackter Panik so tief wie möglich in die Felsspalte gekrochen. Rasch befühlte Tia Schultern und Arme der Verunglückten, um sich zu vergewissern, dass sie keine Knochenbrüche erlitten hatte. Dann ergriff sie Danas Beine und versuchte zu ziehen, ließ jedoch sofort wieder ab, als der leise Atem des Mädchens in ein schmerzhaftes Wimmern überging.
«Leon? Das Mädchen ist in einen Felsspalt gekrochen und hat sich derart verdreht, dass ich sie im Augenblick nicht herausziehen kann.»
«Wie geht es ihr?»
«Alle Knochen heil. Offenbar ist sie weich gefallen, vermutlich auf den Jungen, und hat sich dann aus irgendwelchen Gründen hier versteckt. Allerdings steht sie unter Schock und ist nicht ansprechbar. Es wird ein wenig dauern, sie aus diesem Spalt herauszubekommen, denn ohne ihre Mithilfe geht es nicht.»
«Was wirst du tun?»
«Ich werde mich zuerst um Finn kümmern.»
«Bist du sicher?»
«Goldene Regel aller Ersten Hilfe, Leon: Schwerverletzte zuerst!»
Sie schob das Mikrofon des Headsets beiseite, um sich wieder der Felsspalte zuzuwenden. «Dana? Ich muss Sie jetzt kurz verlassen, aber ich komme gleich zurück, das verspreche ich!»
Rasch tastete sie sich zu dem Müllberg zurück, kletterte hinauf und erreichte die Stelle, wo der junge Mann lag. Entschlossen griff sie nach ihrem Rückengepäck und zog ein Allzweckmesser heraus, um den Bewusstlosen von seinen Fesseln zu befreien. Es war schwerer, als sie vermutet hatte: Zwar ließen sich die Fasern leicht durchtrennen, doch ihre dünnen Enden hafteten überall, wo nackte Haut freilag.
«Es ist unglaublich», sagte sie ins Mikrophon, während sie sich mühte, das Gesicht des Verunglückten von den Flechten zu säubern – es fühlte sich an, als schere sie ihm einen besonders widerspenstigen Bart. «Dieses Geflecht ist in die Haut des Jungen eingewachsen.»
«Hast du irgendeine Idee, was es ist?», fragte Leon.
Tia nickte, noch bevor sie antwortete, und bemühte sich, den naheliegendsten Schluss zu formulieren.
«Ich glaube, dass es sich um einen Pilz handelt.»
«Einen Pilz?», fragte Leon ungläubig.
«Nichts anderes kommt in Frage. Pflanzen können nicht im Dunkeln wachsen, und Höhlenspinnen weben keine Netze dieser Größe. Die wattige Struktur würde auf einen Schimmelpilz hindeuten, aber ich finde auch dickere Fäden vom Umfang eines Schnürsenkels, wie man sie von Holzpilzen kennt.»
«Kannst du Fruchtkörper tasten?»
«Nein. Wahrscheinlich befindet sich dieser Pilz nicht im Fortpflanzungsstadium. Sonst wäre die Luft so voller Sporen, dass ich es riechen könnte. Trotzdem sollte der Notarzt Maßnahmen gegen eine systemische Mykose treffen.»
«Aber das ist doch unmöglich!», mischte sich eine fremde Stimme in das Gespräch. Tia erkannte den Notarzt. «Der Junge ist keine zwei Stunden dort unten, und ein Pilz wächst nicht mit solcher Geschwindigkeit!»
«Ich weiß, wie verrückt das klingt», sagte Tia, während sie die Büschel durchschnitt, die sich quer über Finns Brust zogen. «Aber ich finde keine andere Erklärung. Die Fäden haften an der Haut, genau wie Hyphen auf einem Substrat. Ich kann nur hoffen, dass sein Körper die eingewachsenen Enden abstößt. Vielleicht sollten Sie uns eine Ladung Amphotericin runterwerfen, nur zur Vorbeugung.»
«Auf keinen Fall!», wehrte der Notarzt ab. «Nicht, bevor eine sichere Diagnose gestellt ist!»
«Wie Sie meinen.» Tia trennte die letzten Fäden durch und schob eine Hand unter Finns Hemd, um Bauch und Brustkorb zu betasten. «Die inneren Organe scheinen in Ordnung zu sein. Kein Abdominaltrauma, keine Rupturen, jedenfalls kann ich nirgends Abwehrspannung tasten. Lunge und Herz klingen einwandfrei. Haben Sie eine Vakuumschiene da?»
«Natürlich», antwortete der Notarzt.
«Und eine feste Unterlage mit Gurten?»
«Ich habe ein Spineboard.»
«Sehr gut. Schicken sie mir beides herunter! Ich werde sein Bein fixieren, und dann können Sie ihn hochziehen.»
«Glauben Sie denn, dass er bewegt werden kann? Was ist, wenn er eine Wirbelsäulenverletzung hat?»
«Hat er nicht», sagte Tia, die vorsichtig eine Hand unter Finns Nacken gelegt hatte. «Alle Wirbel sind an ihrem Platz.»
«Das können Sie doch gar nicht wissen!», ereiferte sich der Notarzt.
«Ich kann es fühlen. Vertrauen Sie mir einfach! Vielleicht wissen Sie, dass man blinde Frauen für Tastuntersuchungen in der Brustkrebs-Vorsorge einsetzt – sie finden Tumore sicherer als die Mediziner.»
«Na schön», lenkte der Notarzt ein. «Aber wenn er doch eine Rückenverletzung hat, muss ich klarstellen, dass ich keine Verantwortung übernehme.»
Tia schnaubte ärgerlich. «Okay. Schicken Sie mir die Rechnung, wenn Sie wollen! Leon, hörst du mit?»
«Ich bin hier», meldete sich ihr Partner.
«Mach das Seil nicht an den vordersten Ösen des Boards fest, sondern mehr in der Mitte! Dann müsste es von selber in die Waagerechte kippen, wenn der Junge die Schachtöffnung erreicht.»
«Okay.»
Tia wartete, bis ein zweites Seil herabgelassen wurde, an seinem Ende das Spineboard, eine leichte Trage aus unverwüstlichem Kunststoff. Zwischen den Gurten steckte die Vakuumschiene, deren Anwendung Tia aus diversen Erste-Hilfe-Kursen vertraut war. Als sie die flexible Matte um Finns Bein legte und den Klettverschluss schloss, stöhnte der junge Mann leise. Rasch bediente sie die Vakuumpumpe, die sämtliche Luft aus der Matte saugte, sodass die Kügelchen darin sich zu einer festen Masse verdichteten und das gebrochene Bein umschlossen. Dann schob sie eine Hand unter Finns Hüften, um ihn vorsichtig auf die Seite zu drehen. Sein Atem beschleunigte sich bei dieser Bewegung, stockte und ging in ein stimmhaftes Keuchen über.
Er wacht auf, dachte Tia. Armer Kerl – ich hätte es ihm gegönnt, die Schmerzen zu verschlafen.
«W-was …?», stammelte er gepresst.
«Finn?» Tia nahm behutsam seinen Kopf in beide Hände. Es war wichtig, dass er die Wärme einer Berührung spürte, denn das Erwachen in Kälte, Dunkelheit und Schmerz konnte einen Schock auslösen. «Alles wird gut! Sie sind übel gestürzt und haben sich ein Bein gebrochen, aber wir holen Sie hier heraus.»
«Wo bin ich?», krächzte Finn. «Warum ist alles dunkel?»
«Sie befinden sich einer Höhle. Wir werden Sie jetzt an einem Seil nach oben ziehen. Ich muss Sie auf die Seite drehen – können Sie mir dabei helfen?»
Er versuchte es fahrig, während sie seinen Nacken stützte.
«Ist Ihnen schlecht?», forschte Tia. Das hätte auf eine Gehirnerschütterung hingedeutet, und sie wollte ausschließen, dass er sich beim Transport plötzlich übergeben musste.
Finn schüttelte schwach den Kopf. «Nur … kalt», brachte er zittrig hervor. «Und die Schlangen … überall sind Schlangen …»
«Alles wird gut», wiederholte Tia. «Hier sind keine Schlangen.» Sie strich über seine Wange und hörte befriedigt, dass sein unregelmäßiger Atem sich ein wenig beruhigte. Vorsichtig schob sie das Spineboard hinter seinen Rücken. «Ich muss Sie jetzt auf diese Trage ziehen. Es wird wehtun, aber nur kurz. Lassen Sie sich einfach zurücksinken – gut so.»
Drei, vier ruckhafte Bewegungen unter Einsatz beider Hände waren nötig. Tia biss die Zähne zusammen, als der junge Mann aufstöhnte, wusste jedoch, dass sie es ihm nicht leichter machen konnte, wenn sie behutsamer vorging. Als sie seinen Kopf fixierte und die Gurte festzog, ging sein Stöhnen in artikulierte Worte über.
«Sie sind gelb», raunte er. «Die Schlangen … sie sind gelb wie Luftballons.»
Er halluziniert, dachte Tia besorgt. Ob der Pilz irgendwelche Toxine ausscheidet?
Sie beruhigte sich mit dem Gedanken, dass der Effekt offenbar nicht lebensbedrohlich war. Der Junge lag hier seit mindestens zwei Stunden, und seine Vitalzeichen waren stabil.
«Leon? Ich bin so weit», meldete sie nach oben. «Das wird ein schweres Stück Arbeit ohne Seilwinde – Armschmalz! Am besten greifst du dir ein paar der Feuerwehrleute. Schön langsam ziehen, und nicht zu ruckhaft! Der kritische Moment wird kommen, wenn das Board die untere Schachtöffnung erreicht.»
«Alles klar», drang die Antwort aus dem Headset.
Das Seil zog an, und Tia stützte den Körper des Jungen, der langsam in eine aufrechte Position gehievt wurde. Als seine Füße sich einen Meter über dem Boden befanden, stoppte die Trage abrupt.
«Verflixt – das Ding hängt fest», gab Leon durch. «Muss die Schachtöffnung sein.»
«Das kriegen wir hin», versprach Tia. «Gib mir einen Moment.»
Ohne Zögern ergriff sie das Kletterseil und schwang sich mit ein paar kräftigen Zügen aufwärts. Klettern war immer ihre Stärke gewesen: Schon in der Schule hatte sie es fertiggebracht, sich in kürzester Zeit bis zur Decke der Turnhalle hinaufzuhangeln. Hier betrug die Höhe nur etwas mehr als zwei Meter, dafür musste sie das Kunststück fertigbringen, sich mit einer Hand am Seil festzuhalten und mit der anderen nach der Trage zu tasten.
«Das Board hat sich verkantet», keuchte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen ins Mikrofon. «Der obere Rand klemmt direkt unter der Schachtöffnung. Augenblick …»
Sie sammelte ihre ganze Kraft, schwang sich vorwärts und schlug mit der Faust gegen das Plastik.
«Jetzt langsam anziehen!»
Das Seil spannte sich. Tia hielt die Hand ausgestreckt und stützte die Trage, die sich langsam aus der senkrechten Position in einen Sechzig-Grad-Winkel hob.
«Ein kleines Stück noch!»
Aus dem Funkgerät drang gedämpft das Keuchen der Männer, die sich am oberen Ende des Schachtes mühten.
«Ja!», rief Tia, als die Trage endlich in der Schachtöffnung verschwunden war. «Gut so! Ihr habt ihn!»
Sie kletterte wieder hinab und ließ sich aufatmend zu Boden sinken.
«Alles klar», meldete Leon. «Er ist auf dem Weg nach oben. Und was machen wir mit dem Mädchen?»
«Sie ist unverletzt, also wird ein Brustrettungsgurt genügen», meinte Tia. «Und wenn das erledigt ist, werde ich mich noch einmal genauer umsehen. Ich will wissen, was es mit diesem Pilz auf sich hat.»