«Selbst schuld, Jörn.»
Die gleichgültige Stimme drang wie aus weiter Ferne an Bringshaus’ Ohren. In Wahrheit war sie nicht fern, ein Rest seines Verstandes wusste das. Er hatte tappende Schritte gehört, hatte wahrgenommen, wie der Lichtkegel einer Stablampe über sein Gesicht gestreift war und wie Hartmut Böttcher sich mit einem leisen Schnaufen am Rand der Grube niedergelassen hatte. Nun saß er dort oben, zwei Meter über Bringshaus’ Kopf, abwartend wie ein Geier, der auf ein sterbendes Tier herabblickt.
«Was rennst du auch einfach drauflos? Ich kann nichts für dich tun, ich habe kein Seil. Wir werden warten müssen, bis die anderen kommen.»
Bringshaus war gegen die Wand der Grube gesunken und hatte einen Arm über einen Felsvorsprung gelegt, weil er sich so am leichtesten aufrecht halten konnte. Seine rechte Hand, die noch immer die Taschenlampe umklammerte, hatte er an die Brust gedrückt. Wie lange er schon in dieser Stellung verharrte, hätte Bringshaus nicht sagen können – eine halbe Stunde vielleicht, womöglich auch eine ganze. Seine Glieder waren erstarrt und taub. Weißer Nebel wallte in seinem Kopf, und das Licht der Stablampe war nicht mehr als ein diffuses Wetterleuchten in der Finsternis. Kaum nahm er wahr, wie das feine Gespinst, das die Oberfläche des Morastes bedeckte, langsam an seinen Armen hinaufwucherte, seine Schultern eroberte, in seinen Hemdkragen übergriff und an der linken Halsseite zum Gesicht emporkroch.
«Tu doch nicht so», lallte er mit schwerer Stimme, «als wolltest du mich hier herausholen …»
Die Worte quollen zäh wie eine dickflüssige Masse über seine Lippen.
«Oh, das würde ich gerne tun», behauptete Böttcher, «wenn ich nur könnte. Aber du hast dir dein Urteil selbst gesprochen, Jörn. Schade – mit deiner Hilfe wäre alles so einfach gewesen.»
«Niemals hätte ich dir geholfen!», raunte Bringshaus zurück. «Niemals wieder.»
«Das hättest du sehr wohl, schon in deinem eigenen Interesse», erklärte Böttcher ruhig. «Die Stadtverwaltung wird dieses Höhlensystem erkunden und vermessen lassen, schließlich ist es bisher unentdeckt. Den Auftrag hätte man vermutlich dir erteilt. Das hättest du nutzen können, um die Anlage für instabil zu erklären, den Zutritt zu verbieten und das Bergwerk fluten zu lassen. Stand das nicht schon länger auf der öffentlichen Agenda? Nach den heutigen Geschehnissen würde die Stadt keine Zicken mehr machen und das Geld auftreiben.» Böttcher seufzte, doch es klang nicht allzu bedauernd. «Da du aber beschlossen hast, unsere Freundschaft zu kündigen und dich ins Unglück zu stürzen, muss ich mir etwas anderes einfallen lassen. Wahrscheinlich muss ich eigens jemanden anheuern, der die Höhle mit einer Sprengladung verschüttet – sei’s drum.»
«Damit wirst du nicht durchkommen», flüsterte Bringshaus.
«Das werden wir ja sehen. Wenn du nicht mehr da bist, gibt es niemanden, der die Sache bezeugen kann. Insofern, Jörn – wenn ich es mir recht überlege – war es vielleicht doch keine schlechte Idee, dass du dich in diese Grube gestürzt hast.»
Die Worte wehten wie ein kalter Wind zu Bringshaus herab. Eine Antwort erübrigte sich. Vielleicht wäre er noch in der Lage gewesen, seine Zunge zu bewegen und zu sprechen, doch er fühlte keine Notwendigkeit, es zu versuchen. Böttchers Stimme driftete davon, ähnlich wie in jenem seltsamen Zustand kurz vor dem Einschlafen, wenn alle Geräusche sich zu entfernen schienen.
Ich sterbe, dachte er. Doch es wird nicht schnell gehen. Vielleicht dauert es noch Stunden.
Der Gedanke war zu entsetzlich, um zu Ende gedacht zu werden. Mit dem wachen Rest seines Verstandes beschloss Bringshaus, dass er diese letzte Phase seines Lebens nicht in der Wirklichkeit zubringen wollte, schon gar nicht in der Gesellschaft Böttchers.
«Jörn?»
Bringshaus schloss die Augen. Das Glimmen der Taschenlampe, die er immer noch in seiner verkrampften Hand hielt, erlosch. Tiefe Dunkelheit blieb zurück, und er wünschte inbrünstig, dass sie auch sein Inneres erfüllen, seine Sinne betäuben, sein Denken lähmen würde. Er sehnte sich nach Bewusstlosigkeit. Sein Geist war bereits dabei, sich zurückzuziehen und zu einer kleinen, harten Kugel zu ballen. Irgendwann würde er einfach erlöschen wie ein implodierendes Gestirn.
«Jörn, hörst du mich noch?»
Die Worte echoten in seinem Kopf, öffneten einen weiten, leeren Raum, der sich mit Bildern füllte. Zehn Jahre zergingen zu nichts. Die tiefste Schicht seiner Seele hoffte auf ein versöhnliches Bild, eine tröstliche Illusion. Er versuchte, sich an Justin zu erinnern, oder an seine Frau, bevor sie ihn verlassen hatte. Sollte er nicht wenigstens einen Tunnel sehen, an dessen Ende ein warmes Licht glühte und ihn willkommen hieß?
Doch stattdessen sah er sich auf dem Sofa im Wohnzimmer seines Hauses sitzen, eine halbleere Bierflasche in der Hand. Durch die Terrassenfenster schien die Sonne, ein greller Hohn auf die Düsternis des Augenblicks. Diese Erinnerung war alles andere als tröstlich, denn sie besiegelte sein Versagen, zog einen Schlussstrich unter ein misslungenes Leben.
«Jörn? Hörst du mir überhaupt zu?»
Karin, seine Frau, hatte sich vor ihm aufgebaut, die Hände in die Seiten gestemmt, und sprach auf ihn herab wie eine Lehrerin, die einen Verweis erteilt.
«Was ist nur los mit dir? Du redest nicht mehr mit mir, stattdessen sitzt du ständig da und brütest vor dich hin. Du vernachlässigst deine Familie, dein Geschäft, kannst dich zu nichts mehr aufraffen. Ich ertrage das nicht länger.»
Bringshaus blickte sie nicht an, sondern hielt seine Augen irgendwo auf Höhe ihrer Knie. Er hatte es kommen sehen, hatte es an ihrer Schweigsamkeit erahnt, an ihrem Desinteresse, an der Tatsache, dass sie öfter als gewöhnlich außer Haus war und länger wegblieb – angeblich, um Freundinnen zu besuchen. Trotzdem war er nicht in der Lage gewesen, irgendetwas dagegen zu unternehmen. Die Anstrengung, aus dem Nichts ein eigenes Geschäft aufzubauen, sich die nötigen Kredite zu verschaffen und anfangs mit Geduld, später mit Verzweiflung um Kunden zu werben, hatte seine Kräfte aufgezehrt.
«Es … geht mir nicht gut», stammelte er. «Dr. Gründner sagt, ich bin depressiv.»
«Aber ich nicht», versetzte Karin resolut. «Ich bin zweiunddreißig und gesund und möchte ein normales Leben führen – ist das zu viel verlangt? Ich möchte ausgehen und reisen und Spaß haben, ohne dass so ein Trauerkloß an mir klebt und mir die Kräfte raubt. Ich brauche einen Mann, der mit beiden Beinen fest im Leben steht, der sich für seine Familie einsetzt und ein bisschen mehr Elan mitbringt.»
«Gibt es einen anderen?», fragte Bringshaus tonlos.
Karin hatte sich abgewandt und absurderweise begonnen, die Astern in der Blumenvase auf dem Sideboard zu ordnen. «Ja, es gibt einen anderen. Und jetzt beklag dich bloß nicht! Es ist mein gutes Recht, auch einmal an mich zu denken, nachdem ich jahrelang deine miese Stimmung ertragen musste. Seit du arbeitslos warst, ist es mit dir bergab gegangen: Du hast angefangen zu trinken, hast dich nicht mehr um das Haus gekümmert, nicht um Justin, nicht um mich. Als du dich selbständig gemacht hast, hatte ich noch die Hoffnung, du würdest wieder zu dir kommen … Aber schau dich doch an! Alles, was du geschafft hast, ist, uns für den Rest unseres Lebens zu verschulden und ganze drei Kunden an Land zu ziehen – abgesehen von der lächerlichen Bergwerksaufsicht für die Stadt, die fast nichts einbringt.» Sie lachte freudlos. «Kein Wunder. Bei dem langen Gesicht, das du ständig ziehst, kannst du nicht erwarten, dass deine Kundschaft dich für besonders leistungsfähig hält.»
«Und der andere hat Geld, nicht wahr?», mutmaßte Bringshaus. Sarkasmus war im Augenblick die einzige Form von Energie, die er noch aufzubringen vermochte. «Sag jetzt nicht, es ist dein Chef.»
Karin fuhr schweigend fort, die Blumen zu ordnen.
«Es ist Strunz, oder? Ich weiß es.»
Karin schwieg beharrlich. Es stimmte also.
«Ich habe einen neuen Auftrag», stieß Bringshaus hervor. Er verachtete sich selbst für die Beflissenheit seiner Worte, vorgebracht mit der flehentlichen Reue eines Kindes, das um die Anerkennung enttäuschter Eltern buhlt. «Wir werden bald Geld haben, viel Geld! Dieses Geschäft wird meine Schulden decken und mich ganz nach oben bringen!»
Karin seufzte ungläubig. «Und was ist das für ein Geschäft?»
«Das kann ich dir im Moment nicht erklären.»
«Hoffentlich nichts, was du zusammen mit diesem Böttcher ausgeheckt hast!»
Erschrocken blickte Bringshaus auf. «Wie kommst du denn darauf?»
«Glaub ja nicht, dass ich weghöre, wenn du telefonierst! Ich weiß genau, dass du ihm Geld gegeben hast, damit er jemanden bei der Stadtverwaltung schmiert, der euch beiden Aufträge zuschanzt. Für ihn mag sich das rentieren, aber ich wette, dass er dich dabei übers Ohr haut. Der Kerl ist ein Gauner, Jörn! Dass du das nicht begreifst, nur weil du mit ihm zur Schule gegangen bist, zeigt deinen Mangel an Instinkt.» Sie schüttelte den Kopf. «Falls dieses ‹große Geschäft› dir den Hals bricht, werde ich jedenfalls nicht mehr da sein, um mir dein Gejammer anzuhören. Ich werde ausziehen – gleich morgen. Und Justin nehme ich mit.»
Ein schwarzer Fleck erschien auf der Leinwand seiner Erinnerungen, breitete sich aus und verzehrte sie wie ein Brandloch mit schwelenden Rändern. Zurück blieb tiefe Dunkelheit. Für einen Moment kehrte Bringshaus widerstrebend in seinen Körper zurück. Er wurde sich bewusst, wo er war, spürte seinen schmerzhaft verkrampften Arm, die Taubheit in den Beinen, das eisige Wasser und die pochende Schwellung seiner Haut unter dem pelzigen Belag, der begonnen hatte, sein Gesicht zu überwuchern. Offenbar blieb es ihm verwehrt, einfach wegzudämmern, wie er gehofft hatte. War dies die Strafe für seine Schuld? Sein persönliches Fegefeuer?
Der größte Fehler meines Lebens, dachte er mit jäher Klarheit. Und wohin hat er mich gebracht? In ein Schlammloch voller Kadaver, irgendwo unter der Erde. Ich werde langsam erfrieren, von diesem Morast verschluckt und in meine Bestandteile aufgelöst werden … lebendig verdaut … und vielleicht geschieht es mir recht.