••• 01 : 40 ••• CAROLIN •••

Erstaunt blickte Carolin zum sternklaren Nachthimmel auf, als ein Regentropfen ihre Nase traf.

«Jetzt wird’s hier draußen langsam ungemütlich», sagte Jürgen Traveen. «Dabei sollte es doch angeblich die wärmste Nacht des Jahres werden.»

«Ist es auch», nickte Carolin. «Wir haben bestimmt noch achtzehn Grad. Aber wenn es sich jetzt einregnet …»

«Also, für meine alten Knochen ist das nichts. Ich glaube, ich wärme mich ein wenig im Wagen auf.»

«Darf ich Sie in meinen einladen?», bot Carolin an. «Ich habe bequeme Sitze und eine vorzügliche Standheizung.»

Traveen lächelte. «Gern.»

Sie setzten sich in Bewegung und schlenderten durch den aufkommenden Regen zum Parkplatz hinüber. Dass sie am Bergwerkstor irgendetwas verpasste, befürchtete Carolin nicht. Der Vorplatz war von den Scheinwerfern der Einsatzfahrzeuge hell erleuchtet, und wenn sich irgendetwas Aufregendes tat, würde sie es rechtzeitig mitbekommen. Außerdem fand sie die Aussicht verlockend, sich zu entspannen und ein wenig Abstand zu gewinnen. Traveens Gesellschaft störte sie dabei nicht im mindesten – im Gegenteil: Vielleicht kam sie auf diese Weise noch zu einem verwertbaren Interview.

Als beide im Wagen Platz genommen und die kühle Nachtluft ausgesperrt hatten, zückte Carolin ihren Notizblock und wagte einen Vorstoß.

«Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?»

Traveen lächelte. «Das dachte ich mir schon – aber auf Ihre Gefahr! Alte Männer reden viel.»

«Ich kann immer noch kaum glauben, dass Sie vor meinem Anruf nichts von der Geschichte gewusst haben. Sie erwähnten doch, Sie hätten kurz nach acht mit Ihrer Tochter telefoniert.»

«So war es. Aber Tieken wollte mir nicht sagen, wohin sie unterwegs war. Glaubte wohl, wie üblich, sie müsste mein klappriges altes Herz schonen.»

«Tieken? Ist das Tias Spitzname?»

Traveen grinste entschuldigend. «Na ja, eigentlich Tiechen, aber auf Ruhrpottsch. Ich bin gebürtiger Dortmunder, wissen Sie, und meine Kleine auch, obwohl man es ihr nicht mehr anmerkt.»

Ein Hustenanfall unterbrach seine letzten Worte.

«Geht es Ihnen nicht gut?»

Traveen winkte ab. «Bergmannskrankheit. Oder, wie das vornehm heißt, chronisch-obstruktive Bronchitis. Hab ich schon seit zwanzig Jahren.»

Mitleidig musterte Carolin seine gräuliche Gesichtsfarbe. Nun, in der Stille der geschlossenen Fahrerkabine, fiel ihr auch auf, dass sein Atem ein wenig pfiff. «Waren Sie lange im Bergbau tätig?»

«Bis 1996», bestätigte Traveen nicht ohne Stolz. «Steinkohle, eine der letzten Gruben in ganz Deutschland. Als sie geschlossen wurde, bin ich in Frührente gegangen. Das Geschnorchel, das sie da hören, ist nämlich als Berufskrankheit anerkannt – kommt vom Kohlenstaub. Sehr lange werde ich damit nicht mehr leben, aber sei’s drum. Tieken will mir immer einreden, dass ich kürzertreten und mich bloß nicht überanstrengen soll, aber das ist eben so ihre Art: Andere schont sie gerne, nur sich selbst nie. Sie macht sich schon Sorgen, wenn ich größere Strecken mit dem Auto fahre – während sie in die tiefsten Höhlen steigt, sich an Felswänden abseilt und durch irgendwelche unterirdischen Seen taucht.»

«Darf ich daraus schließen, dass Sie mit dem – sagen wir mal – ziemlich gefährlichen Lebensstil Ihrer Tochter nicht ganz glücklich sind?»

«Ach …» Traveen winkte ab. «Hat ja keinen Zweck, ihr Vorschriften zu machen. Tieken ist ein Wildfang, und man darf sie nicht einsperren, sonst leidet sie wie ein Vogel im Käfig. Wenn sie nicht ständig ihren Hals riskiert, ist sie nicht zufrieden – verrücktes Küken.» Er lächelte versonnen. «Ich frage mich oft, von wem sie das hat. Meine Frau sagte immer, sie hätte garantiert nichts damit zu tun. Hat sich ein richtiges Mädchen gewünscht, wissen Sie? Eins, das man mit Zöpfen und Schleifchen schmücken kann und das zum Geigenunterricht oder zur Tanzschule geht, statt im Garten Löcher zu buddeln und allein im Wald herumzustreifen.»

«Das hat Tia getan?»

«Oh ja. Meine Frau hat immer geschimpft, wenn die Kleine wieder mal völlig verdreckt nach Hause kam. Besonders gern hat sie Steine mitgebracht, um sie zu untersuchen. Aber auch Viehzeug schleppte sie ins Haus, Regenwürmer, Eidechsen, einmal sogar eine Kröte, die sie in einem Marmeladenglas gefangen hatte. Jaja, sie war schon immer eine kleine Naturforscherin. Ich weiß noch: Zu ihrem zehnten Geburtstag wollte meine Frau ihr ein Schminkset schenken, mit Mascara und Lippenstift und so was – aber Tieken hat protestiert, denn sie wünschte sich ein Mikroskop.» Traveen lachte. «Sie wollte lieber in den Mikrokosmos schauen als in den Spiegel. Meine Frau war bitter enttäuscht.»

«Ihre Frau ist verstorben?», mutmaßte Carolin.

«Nun sagen Sie bloß, Sie kennen die Geschichte nicht! Ich hab mich schon daran gewöhnt, dass halb Deutschland Bescheid weiß. Jeder Reporter löchert mich danach.»

«Wären Sie denn so freundlich, es trotzdem noch einmal zu erzählen?»

«Von mir aus.» Traveen seufzte. «Davon wird’s ja auch nicht schlimmer. Als Tieken zwölf war, fuhr meine Frau mit ihr nach Wuppertal zum Geburtstag ihres Großonkels. Die beiden kamen aber nie dort an. Auf der A1 hat irgendein Verrückter sie beim Überholen geschnitten. Meine Frau versuchte auszuweichen, aber der Wagen kam ins Schleudern und krachte in die Leitplanke. Die flog dann einige Meter hoch in die Luft und kam wieder herunter, genau auf Höhe der Vordersitze …»

Traveen unterbrach sich und starrte einen Moment ins Leere. Auch Carolin schwieg. Sie hatte schon über zahlreiche Unfälle berichtet – auch mit Todesopfern –, doch diesmal ging ihr die Geschichte näher als sonst. Vielleicht lag es an dem trockenen Ton, in dem der Alte sie erzählte und der mehr als jede tränenreiche Klage seinen Schmerz ahnen ließ.

«Meine Frau war sofort tot», fuhr er schließlich fort. «Bei Tieken lag die Sache komplizierter, im wahrsten Sinn des Wortes: Sie war eingeklemmt, und zwar mit einem Schädelbruch am linken Scheitelbein. Das Rettungsteam musste erst die Leitplanke hochhieven, die quer über dem Auto lag. Zwei Stunden hat es gedauert, bis man sie endlich in den Notarztwagen verfrachten konnte. Acht Tage Koma … Keiner konnte mir sagen, ob sie überleben würde. Durch die gebrochene Schädeldecke waren Bakterien eingedrungen und hatten eine Gehirnhautentzündung hervorgerufen. Die Ärzte gaben Antibiotika und bereiteten mich darauf vor, dass alles Mögliche passieren könnte: Nervenschäden, Lähmungen, geistige Behinderung … Sie können sich vorstellen, wie mir zumute war.»

Carolin nickte beklommen.

«Am Ende wachte meine Kleine wieder auf», erinnerte sich Traveen. «Und das Erste, was sie mich fragte, war: ‹Papa, warum ist das Licht aus?› Einer der Ärzte erklärte mir später, dass die Entzündung auf eine Stelle im Gehirn übergegriffen hatte, wo sich die Sehnerven kreuzen. Von da an war meine Kleine blind – und blieb es.»

Carolin starrte auf ihren Notizblock. Die Spitze des Kugelschreibers schwebte einen Fingerbreit über dem Papier. Sie musste sich zur Ordnung rufen, um ihre Professionalität zu wahren und die logische nächste Frage zu stellen.

«Und wie ging es dann weiter? Offenbar haben Sie ja beide gelernt, damit zu leben.»

Traveen nickte. «Am Anfang war es schwierig. Als sie nach Hause kam, konnte sie ohne Hilfe das Bad nicht finden, sich kaum selbst anziehen, sich nicht die Schuhe zubinden. Und dabei war sie schon als Kind sehr selbständig gewesen und wollte am liebsten alles allein machen. Es war schlimm für sie, mich ständig rufen zu müssen, und schlimm für mich, sie so hilflos zu sehen. Die Ärzte empfahlen, sie in ein Blindenheim zu stecken – betreutes Wohnen nennt sich das heutzutage. Aber Tieken war entsetzt, als ich ihr davon erzählte, und wehrte sich mit Händen und Füßen. ‹Bevor du mich in so ein Heim steckst›, sagte sie, ‹sorge ich lieber dafür, dass ich allein zurechtkomme.› Und das tat sie. Es war, als hätte sie plötzlich den Entschluss gefasst, nie wieder hilflos zu sein. Sie tastete sich allein durch die Wohnung, holte sich blaue Flecken und verbot mir, ihr zu helfen. Wenn ich es dennoch tat, übte sie heimlich in der Nacht. Nach zwei Monaten konnte sie sich im Haus sicher bewegen und wollte hinausgehen. Ich bat Nachbarn, mit ihr spazieren zu gehen, aber sie entwischte ihnen und streunte stundenlang allein umher. Als Nächstes wollte sie mit dem Bus zur Schule fahren – einer speziellen Sonderschule für Sehbehinderte in der Nachbarstadt. Bis dahin hatte ich sie tagtäglich selbst kutschiert. Na, ich spare mir mal die Einzelheiten unseres häuslichen Machtkampfes. Jedenfalls setzte meine Kleine am Ende ihren Willen durch. Ich konnte damals kaum eine Nacht ruhig schlafen.»

«Das glaube ich gern», sagte Carolin.

«Haben Sie Kinder?»

«Nein – aber ich kann mir vorstellen, wie schwer das für Sie war. Sie hatten bereits Ihre Frau verloren, und nun mussten Sie sich ständig Sorgen um Ihre Tochter machen.»

«Tja …» Traveen seufzte. «Und dann geschah das Wunder.»

«Das Wunder?»

«So kam es mir zumindest vor. Ich weiß nicht genau, was passiert ist. Vielleicht hatte Tieken einfach beschlossen, so schnell und so viel wie möglich zu lernen, um sich wieder in der Welt zurechtzufinden. Vor ihrem Unfall war sie eine mittelmäßige Schülerin gewesen, doch nun legte sie plötzlich los, lernte in Rekordzeit Blindenschrift, las ein Buch nach dem anderen und überflügelte ihre ganze Klasse. Sie verlangte eine Punktschriftmaschine – eine spezielle Schreibmaschine für Blinde –, dann einen Computer mit Texterkennungssoftware und Braille-Drucker. Und als ich ihr sagte, dass das eine ganze Menge Geld kostet, meinte sie: ‹Na gut, dann werde ich das Geld eben verdienen.› Und das hat sie: mit Nachhilfestunden für jüngere Schüler. Es war kaum mehr eine Überraschung, als sie eines Tages zu mir kam und sagte: ‹Papa, ich will nach Marburg.›»

«Marburg?»

«Sie meinte die Carl-Strehl-Schule, das einzige Gymnasium für blinde Menschen in Deutschland. Es ist eine Art Internat, wo die Schüler in Wohngemeinschaften leben. ‹Aber ich besuche dich, sooft ich kann›, versprach sie, um mir die Sache schmackhaft zu machen – als wäre ich der arme Behinderte, der alleine nicht zurechtkommt.» Traveen schmunzelte. «Was sollte ich tun? Ich ließ sie ziehen. Immerhin gab der Erfolg ihr recht: Sie blühte auf, sobald sie dort war, und machte mit neunzehn ihr Abitur – als Jahrgangsbeste. Immerhin tat sie mir den Gefallen, zum Studieren nach Berlin zurückzukehren, sodass wir uns wieder häufiger treffen konnten. Tja, und heute reist sie um die halbe Welt, ist eine anerkannte Geologin und macht alle möglichen Entdeckungen, über die sie Artikel in Fachzeitschriften schreibt.»

«Würden Sie Ihre Tochter als ehrgeizig bezeichnen?»

«Ehrgeizig?» Traveen winkte ab. «Das ist das falsche Wort. Wenn Sie mich fragen: Die Kleine ist total verrückt.»

Er sagte es in so trockenem Ton, dass Carolin herzlich lachen musste. «Ihrer Zuneigung tut das offenbar keinen Abbruch. Sie müssen mächtig stolz auf Tia sein.»

Der alte Mann blickte versonnen durch die Windschutzscheibe nach draußen. «Mein wunderbares, verrücktes kleines Mädchen. Sie ist alles, was ich habe. Ich denke nur nicht gern darüber nach, besonders dann nicht, wenn sie sich wieder einmal in Gefahren stürzt. Die Angst wäre zu groß, dass ich sie verlieren könnte.»

Carolin schwieg betreten.

«Denen da drüben scheint es ähnlich zu gehen», fügte Traveen hinzu und deutete auf einen geparkten Wagen in der Nähe. Schon vor Minuten hatte Carolin bemerkt, dass sich auch dorthin ein Paar zurückgezogen hatte – zweifellos die Novaks, die es nicht mehr ertragen hatten, vor dem Bergwerkstor zu warten. Das Innenlicht des Wagens war ausgeschaltet, doch man sah die schwarzen Silhouetten ihrer Köpfe. Zwischen den Fingern der Frau bebte der Lichtpunkt einer Zigarette.

«Die tun mir wirklich leid», meinte Traveen. «Meine Kleine riskiert ihren Hals wenigstens freiwillig, und ich habe gelernt, damit zu leben – aber diese Leute dort müssen Qualen ausstehen.»

Carolin nickte. «Glauben Sie, dass Tia es schafft, die Verschütteten wieder ans Tageslicht zu bringen?»

«Seit der Aktion in Biedersheim traue ich ihr so ziemlich alles zu. Allerdings lag die Sache dort anders: Es war ein Betriebsunfall, und Tieken hat der Werksleitung von sich aus ihre Hilfe angeboten, weil es darum ging, durch einen engen Schacht zu kriechen und auf Klopfzeichen zu horchen, die sie besser orten konnte als jedes Richtmikrophon. Hier dagegen geht es um eine unerforschte Höhle, die niemand kennt – offenbar nicht einmal der Ingenieur. Komische Sache übrigens.»

«Was meinen Sie damit?»

«Na ja, Sie haben mir doch erzählt, dass dieser Bringshaus für die Verwahrung der Anlage zuständig war. Das ist schön und gut, aber ich wundere mich, dass er die Höhle nie erkunden ließ. Hohlräume von unbekannter Ausdehnung können schließlich sehr wohl die Stabilität eines Bergwerks gefährden.»

«Vielleicht fehlten der Stadt die Geldmittel dafür», meinte Carolin, die einen recht sympathischen Eindruck von Bringshaus hatte und ihn in Schutz nehmen wollte.

«Möglich, möglich …» Traveen runzelte die Stirn. «Trotzdem kommt die Sache mir seltsam vor – ich kann’s nicht erklären, ist nur so ein Gefühl. Zwei Jugendliche stürzen in diesen Schacht, darunter die Freundin seines Sohnes, und was tut dieser Bringshaus? Er ruft ausgerechnet meine Tochter an, die zufällig in der Nachbarstadt ist.»

«Die Novaks sagen, er hätte in der Zeitung über sie gelesen.»

«Aber warum holt er eine Höhlenforscherin?»

«Er nahm wohl an, dass die Feuerwehr dieser Art von Rettungseinsatz nicht gewachsen wäre.»

«Mag sein.»

«Worauf wollen Sie hinaus?», fragte Carolin.

Traveen schwieg eine Weile, wobei er sich nachdenklich die Lippen knetete. «Ich weiß es nicht – wirklich nicht. Nur eins weiß ich ganz sicher: Wenn mein kleines Wunderkind eine Schwäche hat, dann ist es ihre Gutwilligkeit. Seit sie beschlossen hat, nie wieder Hilfe zu brauchen, macht sie sich eine Lebensaufgabe daraus, anderen zu helfen.» Er seufzte. «Im Stillen bangt mir schon lange vor dem Tag, an dem irgendjemand ihre Hilfsbereitschaft ausnutzt.»