••• 05 : 16 ••• TIA •••

«Kommen Sie klar?», rief Böttcher nach hinten. «Sollen wir langsamer gehen?»

«Auf keinen Fall!», gab Tia zurück, die den humpelnden Leon stützte und einige Meter hinter den anderen zurückgeblieben war. «Wir kommen schon nach! Ich brauche kein Licht, und Leon verlässt sich auf mich – hoffe ich doch.»

«Klar», bestätigte Leon.

Die Schritte der anderen beschleunigten sich. Selbst Justin schien endgültig aus seiner Benommenheit erwacht zu sein, seit er wusste, dass sein Vater in Gefahr war.

Tia war es nur recht, dass sie mit Leon zurückfiel. Wenn alles nach Plan verlief und sie sich dem Ausgang der Höhle näherten, blieb ihr nicht mehr viel Zeit, sich ihrem Partner anzuvertrauen – und das war unvermeidlich, denn sie selbst würde sich um Bringshaus kümmern und die Kinder in Leons Begleitung vorausschicken. Diesen Moment hatte Tia gefürchtet und immer wieder aufgeschoben, selbst am Syphon, wo sie mit Leon allein gewesen war. Sie hatte das Thema erfolgreich verdrängt, solange ihre Hauptsorge darin bestanden hatte, einen Ausweg aus dem Höhlensystem zu finden. Nun aber musste sie sprechen.

Tia gab sich Zeit, bis die Schritte der anderen mehr als zehn Meter entfernt klangen. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen.

«Leon?», flüsterte sie. «Erinnerst du dich an die Fässer in der Höhle?»

Sie spürte, wie er ihr erstaunt das Gesicht zuwandte. «Wieso?»

«Sprich leise!», bat Tia. «Ich will nicht, dass Justin und Dana es hören. Ich glaube, ich weiß, was es mit diesen Fässern auf sich hatte. Die Erde, die sie enthielten, ist verseucht. Vorhin, als wir gerastet haben, habe ich einen Funkspruch abgesetzt, um die Leute draußen zu warnen – allerdings ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass er gehört und verstanden wurde. Falls ich länger hier unten bleiben muss, um mich um Bringshaus zu kümmern, möchte ich, dass du mit Justin und Dana vorausgehst und alles Nötige veranlasst.»

«Würdest du mir bitte verraten, wovon du redest?»

«Wir brauchen Hilfsmittel zur Dekontamination, Jodpräparate, vielleicht sogar Blutkonserven zur Vorbeugung hämatologischer Schäden.»

Tia hatte sich bei Leon untergehakt, um ihn zu stützen – nun fühlte sie deutlich, wie seine Armmuskeln sich verkrampften. Er war derart erschrocken, dass er einen Moment stehen blieb.

«Wir müssen weiter», flüsterte Tia und zog ihn vorwärts.

«Radioaktivität?», raunte er ungläubig zurück.

«Ich wäre nie darauf gekommen», gab Tia zu, «wenn Justin nicht diese harmlose Bemerkung über das leuchtende Zifferblatt seiner Armbanduhr gemacht hätte: ‹Ich dachte, da ist so ein radioaktives Zeug drin.›»

«Tia, ich verstehe kein Wort!»

«Die Fässer in der Höhle – eines von ihnen trug einen dreieckigen Warnaufkleber. Es war zerbrochen, und aus dem Innern war Erde herausgerieselt. Ich konnte keine giftige Substanz riechen, aber ich habe eine Probe genommen.»

«Eine Probe?»

«Mit einem Wolframröhrchen für Säureproben – zum Glück ist das Ding strahlensicher.»

«Aber wie kommst du darauf, dass diese Erde radioaktiv war?»

«Ich habe letztes Jahr einen Artikel in einer Fachzeitschrift gelesen – eine Studie über Pilze in Tschernobyl. Bei einer Untersuchung war aufgefallen, dass unter dem Betonmantel des ausgebrannten Reaktors Schimmelpilze wuchsen, obwohl man angenommen hatte, die Strahlung müsste für alle Lebewesen im näheren Umkreis tödlich sein. Ein Forscherteam machte Versuche mit diesen Pilzen und stellte fest, dass sich ihr Stoffwechsel unter Einfluss von Radioaktivität beschleunigte. Mit anderen Worten: Die Pilze wuchsen umso schneller, je stärker sie bestrahlt wurden.»

«Das klingt ja wie in einem schlechten Horrorfilm!»

«Du kannst es nachlesen, falls wir jemals hier herauskommen! Es ist wirklich wahr. Diese Pilze hatten eine Möglichkeit gefunden, ionisierende Strahlung in chemische Energie umzuwandeln. Und nun denk an unseren Monsterpilz hier unten: Das Auffälligste an ihm ist sein extrem schnelles Wachstum. Ich gehe jede Wette ein, dass es die Strahlung ist, die ihn dazu befähigt.»

«Wenn du mir jetzt noch erzählst, dass die Tschernobyl-Pilze Menschen fressen, glaube ich langsam, du hast den Höhlenkoller.»

«Leon, ich gebe nur wieder, was von seriösen Wissenschaftlern nachgewiesen wurde! Zu den Pilzarten, die von radioaktiver Strahlung profitieren, gehören auch Wangiellen. In Tschernobyl fand man Unmengen davon. Diese Spezies ist dafür bekannt, dass sie beim Menschen gefährliche Erkrankungen des Unterhautgewebes verursachen kann. Der Pilz dringt über offene Verletzungen in den Körper ein, genau wie das Zeug, das hier unten wuchert.»

«Aber kein Schimmelpilz bildet ein Myzel dieser Größe.»

«Richtig, das tun normalerweise nur holzfressende Pilze. Aber angenommen – nur einmal angenommen –, wir hätten es mit einer Hybride zu tun, einer Kreuzung zweier Arten.»

«Wie sollten die beide in diese Höhle gelangt sein?»

«Der Holzpilz wuchs vermutlich schon lange auf den Abfällen, die in der Höhle herumlagen, und der Schimmelpilz auf den Körpern der …» Tia stockte. «In der Höhle lagen zwei menschliche Leichen. Sie waren vermutlich schon viele Jahre alt. Wahrscheinlich hat der Pilz sich von ihnen ernährt.»

«Was?» Leon schüttelte fassungslos den Kopf, sie hörte es am leisen Schaben seines Hemdkragens. «Gibt es sonst noch etwas, das du mir verschwiegen hast?»

«Nein. Aber falls ich recht habe, ist der Pilz noch unser geringstes Problem. Wir haben uns lange in dieser Höhle aufgehalten, zwischen den Fässern gesessen, Boden und Wände berührt …»

«Also gut. Angenommen, deine Vermutung ist richtig, und die Fässer enthielten radioaktiven Abfall.»

Tia wartete mit klopfendem Herzen. Leon war Physiker und in diesen Dingen besser beschlagen als sie.

«Vielleicht können wir zumindest das Schlimmste ausschließen», überlegte er laut. «Die Strahlendosis kann nicht über drei Gray liegen, andernfalls wäre uns allen kotzübel – zumindest Dana, die am längsten da unten war. Allerdings ist das ein schwacher Trost, denn vermutlich haben wir Teilchen eingeatmet, die auf unseren Schleimhäuten kleben und munter weiterstrahlen. Dadurch könnte die kritische Dosis immer noch überschritten werden.»

«Was wären die Folgen?»

«Schwer zu sagen», erwiderte Leon dumpf. «Das Blutbild könnte sich verändern. Das Immunsystem könnte schwächeln. Möglich ist außerdem eine Schädigung der Keimdrüsen.»

«Unfruchtbarkeit», nickte Tia.

«Zu schweigen vom erhöhten Krebsrisiko.»

«Ich weiß.»

Leon verstummte für einen Moment.

«Du glaubst also wirklich, dass jemand diese Höhle als illegales Lager für Atommüll benutzt hat?»

Tia holte tief Luft. «Ich finde keine andere Erklärung.»

«Und warum hast du keinen Ton gesagt?»

«Ich wollte Justin und Dana keine Angst machen.»

«Und warum hast du es mir nicht gesagt? Deinem besten Freund, der noch dazu Physiker ist und mehr als du von Ionenstrahlung versteht?»

«Ja, du hast recht», räumte Tia ein. «Ich dachte nur …»

«Du dachtest nur, du müsstest wieder einmal alles mit dir allein ausmachen.» Leon schieg einen Moment, und Tia glaubte zu spüren, wie er resigniert den Kopf schüttelte. «Du und deine Geheimnistuerei.»

«Vielleicht irre ich mich ja», gab Tia mit wenig Überzeugung zu bedenken.

«Hoffen wir’s», murmelte Leon. «Aber falls du dich nicht irrst, müssen wir umso dringender zusehen, dass wir hier herauskommen.»